Schumann: Carnaval op. 9

  • Liebe Taminos,



    es schien mir in keinem anderen Forum so recht hineinzupassen. Ich spiele seit kurzem wieder mit Begeisterung Schumanns Kinderszenen. Auf der vom Naxos-Label veröffentlichten CD befinden sich neben diesen außerdem Papillons (op. 2) sowie - und auf dieses Werk bezieht sich auch meine Bitte - op. 9, also: Carnaval. Es gibt hier ein Paganini-Intermezzo (auf der Naxos-CD wäre dies Nummer 31), das ich sehr gerne spielen möchte. Doch bevor ich mir teure Noten bestelle würde ich mich vorab am liebsten mit dem Schwierigkeitsgrad des 1:33 umfassenden Stückes vertraut machen.


    Nun dachte ich mir, dass sicher einer von Euch die Noten bei sich im Schrank stehen hat und damit gar die Möglichkeit, mir einen klitzekleinen Ausschnitt zu zeigen. Es geht hier - das sei betont - nicht darum, um den Kauf der Noten herumzukommen sondern eine (2 Zeilen reichen) kleine Stichprobe, damit ich keinen Fehlkauf lande. Zu einer Fahrt zum Musikgeschäft fehlt mir momentan die Zeit, weshalb mir Eure Hilfe sehr zu Gute käme.



    Herzlichsten Dank, Thomas

    "Noten haben einen zumindest ebenso bestimmten Sinn wie Wörter, wiewohl sie durch diese nicht zu übersetzen sind." (Felix Mendelssohn-Bartholdy)

  • Lieber Hui,


    also zum Kauf der Carnaval-Noten kann ich als alter Schumann-Fan unbedingt zuraten :yes:


    Das mit "Paganini" überschriebene Stück in f-moll (ich finde ja nicht, daß es sehr nach Paganini klingt) ist nur wegen mancher größeren Sprünge der linken Hand ein bißchen knifflig, die rechte Hand spielt immer Oktavsprünge (sehr bequem :P)


    Aber auch die anderen Stücke des Zyklus machen super Spaß zu spielen.


    (Die Schott-Ausgabe ist mit 5,50 auch nichtmal teuer)


    Schöne Grüße
    Heinz

  • Hallo Heinz,



    ich danke dir für den freundlichen Rat. Nach mehrmaligem Hören in den letzten 2 Stunden brenne ich nun geradezu darauf, mit dem Stück zu beginnen. Glücklicherweise bietet das Internet selbst die Antwort auf meine Frage. Soeben habe ich diesen kurzen Auszug entdeckt:





    Als stolzer Besitzer von Klavierhandidealproportionen sehe ich den Sprüngen der linken Hand keinerlei Problem und werde mich heute noch ans Spiel machen :)



    Vielen Dank, Thomas

    "Noten haben einen zumindest ebenso bestimmten Sinn wie Wörter, wiewohl sie durch diese nicht zu übersetzen sind." (Felix Mendelssohn-Bartholdy)

  • Sagitt meint:


    Schumann II. Der thread schlummert vor sich hin. Carnaval schätzte ich gleich beim ersten Hören. Das ist nun schon lange her. ich weiss noch, es war Julius Katchen, der mich betörte. Diese Aufnahme hatte ich nur auf Vinyl. Sehr viel später bekam ich Kempff und fing wieder an, diesen Pianisten zu mögen. Ich finde, er spielt einen sehr schönen Schumann. Hinweisen möchte ich aber auch Cecile Licad- eine Pianistin aus Manila, die in NY leben soll und 1990 eine grandiose Aufnahme vom Carnaval vorstellte. Alles passte. Die Interpretation, großartige Charakterstudien. Die Tontechnik ( darin zB Kempff deutlich überlegen) Leider ist diese Aufnahme, wie viele andere von den wenigen die Künstlerin, gestrichen. Warnen möchte ich vor Hamelin. Er donnert mir zuviel. Ausserdem ist die Tontechnik für Hyperion erstaunlich schlecht. Mein Exemplar-Aufnahme von 1999- rauscht erheblich.


    P.S. Dieser Beitrag gehört wohl woanders hin. Tut mir leid, habe ich nicht gesehen. Vielleicht verschiebt ihn jemand ? Etwa zur Klaviermusik von Schumann ?

  • Liebe Moderatoren,


    wäre es nicht sinnvoll, diesen Thread ins Klavierforum zu verschieben? Zumal ein Thread zum Carneval ohnehin fehlt?


    Herzliche Grüße,:hello: :hello:


    Christian



    Hallo Christian,
    gute Idee, wurde gleich mal realisiert.
    LG, Peter

    Beherrsche die Sache, die Worte werden folgen! (Cato der Ältere)

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  • Zitat

    Als stolzer Besitzer von Klavierhandidealproportionen sehe ich den Sprüngen der linken Hand keinerlei Problem und werde mich heute noch ans Spiel machen


    Hallo Thomas,


    "Paganini" ist doch eines der schwersten Stücke im Carnaval, ich kenne jedenfalls nicht viele Aufnahmen, die hier absolut befriedigend sind - mal abgesehen davon, dass man im Studio korrigieren kann. Live greifen viele daneben, vor allem am Schluss. Vielleicht kannst Du ja von Deinen Erfahrungen berichten, würde mich interessieren!


    Viele Grüße,
    Christian

  • So, diesers Thread schlummert schon eine ganze Weile im virtuellen Nirvana, was ich persönlich schade finde :D


    Einen- oder mehrere Gründe- ihn einmal wachzuküssen gibt es. Inzwischen liegen zwei Neuaufnahmen des Carnaval vor. Einmal von Stefan Vladar (Wer kennt ihn? Einen Thread zu ihm gibt es jedenfalls noch nicht) und von Pierre Laurent Aimard.


    Ich besitze beide Aufnahmen und schreibe gerne später etwas dazu, aber vielleicht kennt ja einer von Euch diese oder andere Aufnahmen des Carnaval und möche einige Zeilen dazu schreiben?





    Herzliche Grüße,:hello: :hello:


    Christian

    Beherrsche die Sache, die Worte werden folgen! (Cato der Ältere)

  • Mich würde doch mal interessieren, wie weit du gekommen bist! Ich würde mich als relativ guten Klavierspieler bezeichnen und dennoch müsste ich an diesem Stück recht intensiv üben - man muss die Noten praktisch auswendig können, sonst kann man das in schnellem Tempo nicht spielen. Und der versetzte Rhythmus ist auch gar nicht so leicht, wie man denkt. Dafür ist der Walzer drumrum sehr schön.


    P.S.: So Noten brauchst du nicht teuer kaufen, die kannst du dir auch bei http://www.sheetmusicarchive.net oder http://www.free-scores.com z.b. frei legal runterladen.

    "Das Große an der Musik von Richard Strauss ist, daß sie ein Argument darstellt und untermauert, das über alle Dogmen der Kunst - alle Fragen von Stil und Geschmack und Idiom -, über alle nichtigen, unfruchtbaren Voreingenommenheiten des Chronisten hinausgeht.Sie bietet uns das Beispiel eines Menschen, der seine eigene Zeit bereichert, indem er keiner angehört." - Glenn Gould

  • Zitat

    Original von Caesar73
    vielleicht kennt ja einer von Euch diese oder andere Aufnahmen des Carnaval und möche einige Zeilen dazu schreiben?


    Hallo Christian,


    ich kenne bislang nur die Vladar-Aufnahme, Aimard werde ich mir aber auch noch mal zulegen.


    Stefan Vladar spielt den Carnaval virtuos und mit Zug nach vorn, es sind viele Schattierungen zu entdecken und auch der Klang ist sonor und gut durchhörbar. Trotzdem rangiert diese Einspielung in meinem persönlichen Carnaval-Ranking eher im Mittelfeld. Es ist schwierig zu formulieren, woran das liegt, aber ich glaube, dass Vladar diese mitunter sehr exzentrische Musik etwas zu hemdsärmlig und zu wenig "nervös" wiedergibt. Jedenfalls scheint hier nicht so sehr der Wahnsinn auf, wird den harmonischen Reibungen nicht so sensibel nachgegangen wie bei Michelangeli (EMI, Studio-Einspielung, finde ich besser als die DG-Live-Aufnahme aus den 50igern) und auch Arrau. Vor allem letzterer, dem man ja gerne schleppende Tempi nachsagt, spielt hier alles andere als langsam, aber er dringt nach meinem Empfinden viel tiefer in die nervöse Binnenstruktur des Carnaval ein.
    Ich kenne einige Aufnahme von op.9, es ist eines jener Stücke, das man nie wirklich restlos ausgelotet glaubt (wie sonst nur noch die Fantasie). Vladar macht seine Sache gewiss gut, ich schätze die Aufnahme, aber vielleicht geht er diese Aufgabe zu einseitig-selbstsicher an (so wirkt zumindest sein Zugang), als dass er diesem Fratzenspiel unterschiedlichster Charaktere gerecht werden könnte. Es fehlen irgendwie die nervösen Schattierungen, die das besondere einiger Stücke ausmachen.


    Viele Grüße,
    Christian

  • Christian (Caesar73) bat mich im Thread über Schumanns "Symphonische Etüden", auch etwas über die Aimard-Einspielung des "Carnaval" zu sagen. Das mach ich doch gern.



    Es geht um folgende Aufnahme:






    Ich muss leider leichte Enttäuschung konstatieren. In meiner Erinnerung hatte ich den skeptischen Eindruck meines erstmaligen Hörens dieser CD auf die "Symphonischen Etüden" geschoben - zu unrecht: Der "Carnaval" war schuld. Das ist alles vorzüglich gespielt: nichts ist verhuscht, ganz akkurat die rhythmische Präzision schon in der "Préambule", ebenso in "Eusebius" mit den reizvollen Verschiebungen. Die Tempi sind überwiegend nach meinem Geschmack gewählt, meist eher auf der schnelleren Seite, nie verschleppt ("Eusebius" ist da ein beliebtes Opfer). Aber es fehlen die Zwischentöne, das Doppelbödige, die "nervöse Binnenstruktur" (wie Christian B. so schön im letzten Beitrag sagt). Man muss ja nicht auf jede Pointe mit dem Rubato-Zeigefinger hindeuten, aber so ganz ohne Charme wirkt der "Arlequin" einfach nicht - und "Florestan" ist auch zu zahm. Außerdem sind mir manchmal die dynamischen Unterschiede zu sehr eingeebnet (schon im "Pierrot"). "Chopin" singt nicht wirklich usw. usf. Aimard spielt übrigens auch die drei Sphinxen (vor den "Papillons"), das ist vielleicht nicht ganz korrekt (sollen die nicht eigentlich unhörbar bleiben?), verstärkt aber auf reizvolle Weise den spielerisch verrätselten Charakter des Zyklus.


    Meine Favoriten bleiben Michelangeli (DG; die EMI-Aufnahme kenne ich nicht) und hier mal wieder Arrau (auch da schließe ich mich Christian B. an - außerdem habe ich die meisten Schumann-Klavierwerke seinerzeit in einer 9-LP-Box mit Arrau kennengelernt, das prägt bekanntlich).


    "Carnaval" ist ein außergewöhnliches Werk, das mir sehr am Herzen liegt. Selten hat Schumann seine Idee der "musikalischen Poesie" als einen kühnen Mittelweg zwischen "absoluter Musik" und "Programmusik" so schlackenlos umgesetzt. Dieses exzentrische Spiel mit dem Masken ist immer wieder verblüffend - großartig, wie "Chopin" und "Paganini" imitiert/kommentiert werden. Dazu kommt die traumsichere Balance zwischen Heiterkeit/Brillanz/Charme und den "tieferen" Momenten. Last not least strahlt das Werk einen so hinreißenden Schwung und Optimismus aus wie kein anderes von Schumann. Diesen Optimismus vor allem in Bezug auf die künstlerische Entwicklung hat Schumann später ja gründlich verlernt (was natürlich wieder zu Werken von einer ganz eigenen Qualität führte).



    Viele Grüße


    Bernd

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  • Zitat

    Original von Zwielicht
    "Carnaval" ist ein außergewöhnliches Werk, das mir sehr am Herzen liegt. ... Dazu kommt die traumsichere Balance zwischen Heiterkeit/Brillanz/Charme und den "tieferen" Momenten. Last not least strahlt das Werk einen so hinreißenden Schwung und Optimismus aus wie kein anderes von Schumann. ...


    Viele Grüße


    Bernd


    Lieber Bernd,


    ich stimme Deiner Beschreibung absolut zu - die von dir genannten Aufnahmen vermitteln diesen "Schwung und Optimismus" auch sehr gut (freue mich über deine Hinweis auf Arrau, es ist wirklich seltsam, dass er immer wieder mit Attributen wie "langsam" und "schwerfällig" gekennzeichnet wird - wo es doch diese hinreißende Carnaval-Aufnahme gibt!).


    Eine der zwingendsten Caranaval-Einspielungen jedoch, die ich kenne, geht seltsamerweise in eine ganz andere Richtung, offenbar scheint dieses schillernde Werk unterschiedliche Zugänge zu erlauben. Es handelt sich um die bereits erwähnte Michelangeli-EMI-Aufnahme:



    Im Unterschied zur älteren DG-Version und auch seinen anderen Live-Aufnahmen dieses Werks, treibt Michelangeli hier die Gegensätze zwischen statischer Ruhe und fiebriger Beschleunigung innerhalb der einzelnen Stücke (und nicht nur zwischen den Stücken!) so auf die Spitze, dass diese gegensätzlichen Kräfte die Musik zu zerreißen drohen - wenn ABM sie nicht mit kaltem, sezierenden Blick zusammenhalten würde.


    Ich bin eigentlich kein großer Fan seiner zuweilen starr wirkenden Klavierkunst, aber was er hier macht, ist dunkelster Ästhetizismus (und eben kein schwungvoller Optimismus) auf allerhöchstem Niveu. Ein Meisterwerk wie der Carnaval lässt diese Auslegung nicht nur zu, sondern man fragt sich schon ein wenig, ob ABM mit diesem morbiden, düsternen Ansatz dem Maskenspiel des Zyklus' nicht doch näherkommt als die anderen Interpreten.


    Viele Grüße,
    Christian









    .

  • Wie von Damiro angeregt, möchte ich Schumanns CARNAVAL aus der Versenkung holen. Der letzte Eintrag ist tatsächlich auch von mir und er ist ziemlich ganau zehn (!) Jahre alt.
    Offenbar hat dieses Werk weniger Liebhaber als die anderen großen Klavierzyklen von Schumann (Kreiseleriana, Fantasie usw.).


    Dabei finde ich den vielgesichtigen Carnaval beinahe unauslotbar.
    Im Horowitz-Thread hatte ich mich mit Holger über dessen erst kürzlich aufgetauchte Live-Aufnahme auseinandergesetzt. Lange Zeit gab es von Horowitz ja nur einen youtube-Mitschnitt aus Japan in schlechter Qualität - und mit einem Horowitz in geradezu bestürzend schlechter Verfassung. Er wirkt stark medikamentiert.


    Doch dann kam vor ein paar Jahren die große Box "The unreleased recordings" raus und darauf finden sich gleich zwei Carnaval-Mitschnitte (einer davon wieder mit sehr vielen Fehlgriffen - Horowitz scheint das Werk nicht optimal vorbereitet zu haben.


    Für mich ist das eine der faszinierendste Aufnahmen, obwohl Horowitz viele Fehler macht.
    Aber das stört mich hier überhaupt nicht, da er die Extreme unvergleichlich erkundet.


    R-9352705-1499764735-7865.jpeg.jpg


    Viele Grüße
    Christian

  • An die Moderatoren


    Ich möchte anmerken, dass es in diesem Thread einzig um den Satz "Paganini" aus Schumanns op. 9 geht. Das ist im Eröffnungsartikel und in der Titelzeile klar ersichtlich.


    Es sollte ein eigener Thread für Carnaval op. 9 eröffnet werden und die entsprechenden Beiträge zum gesamten Zyklus dorthin verschoben werden, zumal es einige neuere Einspielungen oder Wiederveröffentlichungen älterer Aufnahmen in letzter Zeit erschienen sind.


    Es existiert dieser Thread Schumann: Werke für Klavier Solo in Referenzaufnahmen


    LG moderato

    Vor Schuberts Musik stürzt die Träne aus dem Auge, ohne erst die Seele zu befragen:
    so unbildlich und real fällt sie in uns ein. Wir weinen, ohne zu wissen warum; Theodor W. Adorno - 1928




  • Oder wir benennen diesen Thread in einen Carnaval-Thread um, die meisten Beiträge beziehen sich ja auf das ganze Stück und nicht nur auf Paganini.
    Und Carnaval hat einen eigenen Thread verdient!


    Grüße
    Christian

  • Da sich ab #4 alle Beiträge auf das gesamte Stück, nicht nur auf "Paganini" beziehen, habe ich den Thread umbenannt und er dient jetzt als Thread für das Werk

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

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  • Dann fahr ich mal weiter in diesem Thread. Diese Scheibe mit Mitsouko Uchidas Interpretation des schumannschen Carnaval op. 9 mag ich sehr. Die Kreisleriana op. 16 ist auch enthalten.

    Vor Schuberts Musik stürzt die Träne aus dem Auge, ohne erst die Seele zu befragen:
    so unbildlich und real fällt sie in uns ein. Wir weinen, ohne zu wissen warum; Theodor W. Adorno - 1928




  • 41s0cVbNVqL.jpg


    Claudio Arraus Spiel kann man auf dieser DVD nachverfolgen (Live-Aufnahmen der BBC). Zwei schumannsche Werke sind enthalten: Carnaval op. 9 sowie das Klavierkonzert a-Moll op. 54 (London Philharmonic, George Hurst).


    Der chilenische Pianist interpretiert auch noch Beethovens Sonate Nr. 32 c-Moll op. 111 (Als Bonus gibt es die Sonate Nr. 23 "Appassionata" op. 57 mit Solomon als Interpreten).
    .

    Vor Schuberts Musik stürzt die Träne aus dem Auge, ohne erst die Seele zu befragen:
    so unbildlich und real fällt sie in uns ein. Wir weinen, ohne zu wissen warum; Theodor W. Adorno - 1928




  • Den Lorbeerkranz im Olymp der Carnaval-Interpreten reiche ich weiter an Evgeny Kissin. Gekoppelt ist der Zyklus mit der Sonate Nr. 1 fis-Moll, op. 11

    Vor Schuberts Musik stürzt die Träne aus dem Auge, ohne erst die Seele zu befragen:
    so unbildlich und real fällt sie in uns ein. Wir weinen, ohne zu wissen warum; Theodor W. Adorno - 1928




  • Da will ich doch gleich meine Lieblingsaufnahme des CARNAVAL nennen, die bis heute von keiner anderen von ihrem Spitzenrang verdrängt wurde:
    R-6975467-1488482440-4330.jpeg.jpg
    Artur Rubinstein, Klavier (Aufnahme: 1963).


    So stimmungsvoll, lyrisch und klar in allen Einzelheiten, dabei stilistisch großartig, das muß Rubinstein erst einmal einer nachmachen! Da verblassen IMO sogar Kempff und Arrau, was weniger gegen diese beiden als für Rubinstein spricht!
    Die weiter oben zitierte Spätaufnahme von Michelangeli (1975) leidet m.E. sehr unter fehlender Lebendigkeit, er braucht fast 36 Minuten statt der üblichen 25-27. Doch die "Entdeckung der Langsamkeit" erbringt keine neuen Aspekte, trotz der unanfechtbaren pianistischen Kapazität des Künstlers.


    LG, Nemorino

    Die Welt ist ein ungeheurer Friedhof gestorbener Träume (Robert Schumann).

  • Schön, lieber nemorino, dass du die Interpretation Arthur Rubinsteins hier gesetzt hast. Ich habe beim Werbepartner JPC keine Scheibe mit Hörschnipseln gefunden, die in der gezeigten Fassung bei Amazon leider fehlen. Ich besitze die Box mit allen Rubinstein-Aufnahmen. Dort sind es die Scheiben Nr. 49 bzw. Nr. 83. Der Pianist hatte Carnaval op. 9 zwei Mal aufgenommen.


    R-4401066-1499861813-4166.jpeg.jpg
    .

    Vor Schuberts Musik stürzt die Träne aus dem Auge, ohne erst die Seele zu befragen:
    so unbildlich und real fällt sie in uns ein. Wir weinen, ohne zu wissen warum; Theodor W. Adorno - 1928




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  • Eine der zwingendsten Caranaval-Einspielungen jedoch, die ich kenne, geht seltsamerweise in eine ganz andere Richtung, offenbar scheint dieses schillernde Werk unterschiedliche Zugänge zu erlauben. Es handelt sich um die bereits erwähnte Michelangeli-EMI-Aufnahme:


    Im Unterschied zur älteren DG-Version und auch seinen anderen Live-Aufnahmen dieses Werks, treibt Michelangeli hier die Gegensätze zwischen statischer Ruhe und fiebriger Beschleunigung innerhalb der einzelnen Stücke (und nicht nur zwischen den Stücken!) so auf die Spitze, dass diese gegensätzlichen Kräfte die Musik zu zerreißen drohen - wenn ABM sie nicht mit kaltem, sezierenden Blick zusammenhalten würde.

    Diese singulärer Aufnahme, lieber Christian, bleibt ein absoluter Maßstab in ihrer puristischen Konzentration und unerhörten Prägnanz der Gestaltung der Charaktere. Das hast Du toll beschrieben! ABM hat diese Aufnahme damals machen müssen, weil er zum Label DGG gewechselt war, aber noch eine Vertragserfüllung mit EMI zu leisten hatte, sonst hätte er Strafe zahlen müssen. :DInzwischen gibt es aus derselben Zeit auch noch einige Konzertmitschnitte. Für meinen Lehrer, der selbst den "Carneval" im Konzert spielte, ist diese Aufnahme von ABM das Maß aller Dinge. Zu erwähnen sind auch die Zugaben, drei Stücke aus dem "Album für die Jugend", die bei ABM eine nie gehörte Tiefe und Tragik bekommen. Für die 1957iger Aufnahme aus London hat die DGG nur die Lizenz erworben. Die ist natürlich auch ein olympisches Ereignis - aber ganz anders (dazu mit meiner Referenz des "Faschingsschwanks aus Wien") aus dem Jahr, wo ABM in London seine Jahrhundertaufnahme des Ravel- und Rachmaninow-Konzerts machte.

    Claudio Arraus Spiel kann man auf dieser DVD nachverfolgen (Live-Aufnahmen der BBC). Zwei schumannsche Werke sind enthalten: Carnaval op. 9 sowie das Klavierkonzert a-Moll op. 54 (London Philharmonic, George Hurst).

    Die DVD habe ich und kann sie nur empfehlen. Arraus "Carnaval" ist ebenfalls exemplarisch, lieber Moderato.


    Schöne Grüße
    Holger

  • Der Pianist hatte Carnaval op. 9 zwei Mal aufgenommen.


    Hallo, moderato,


    ja, es gibt eine Monoaufnahme aus dem Jahr 1949 (oder 1950?), die man auch als Einzel-CD erwerben kann:
    R-12164666-1529621195-8381.jpeg.jpg
    Ich kenne sie allerdings nicht, während die Stereo-Version von 1963 bereits als LP in meiner Sammlung war. Sie hatte ein sehr schönes, ansprechendes Cover, das leider nicht für die CD-Ausgabe verwendet wurde:
    91ikUspUtDL._SX466_.jpg
    Die Aufnahme klingt ausgezeichnet, das Bandrauschen hält sich in engen Grenzen.


    LG, Nemorino

    Die Welt ist ein ungeheurer Friedhof gestorbener Träume (Robert Schumann).

  • Lieber nemorino


    Die CDs der Box mit sämtlichen Aufnahmen Arthur Rubinsteins stecken in verkleinerten Pappschubern mit originalem Cover und Text. Mit der Lupe lesend erfährt man im Text der Scheibe Nr. 49 (Sept. 1952 in Hollywood aufgenommen, 1954 herausgegeben), dass Rubinstein (geboren 1887) in jungen Jahren in Berlin täglich Gespräche mit Frau Emma Engelmann, einer Schülerin von Clara Schumann, führte und in die literarischen Bezüge der Schumannschen Klavierwerke eingeführt wurde. Sie war es auch, die mit Rubinstein die schumannschen Werke erarbeitete.1906 trat Rubinstein in den Vereinigten Staaten erstmals öffentlich mit dem Klavierzyklus Carnaval op. 9 auf.
    .

    Vor Schuberts Musik stürzt die Träne aus dem Auge, ohne erst die Seele zu befragen:
    so unbildlich und real fällt sie in uns ein. Wir weinen, ohne zu wissen warum; Theodor W. Adorno - 1928




  • Die weiter oben zitierte Spätaufnahme von Michelangeli (1975) leidet m.E. sehr unter fehlender Lebendigkeit, er braucht fast 36 Minuten statt der üblichen 25-27. Doch die "Entdeckung der Langsamkeit" erbringt keine neuen Aspekte, trotz der unanfechtbaren pianistischen Kapazität des Künstlers.

    Lieber Nemorino,


    da muss ich Dir diesmal aber widersprechen. Sicherlich ist diese ABM-Aufnahme eine, wo er es sich selbst und dem Hörer alles andere als leicht macht. Aber genau das macht sie so besonders. Selbst ein Alfred Cortot (für den ABM in freundschaftlicher Verbundenheit übrigens sogar Konzerte veranstaltet hat!) nimmt den "Carnaval" als brillantes Virtuosen-Schaustück. In ABMs 1957iger Aufnahmen (31 Minuten (DDG-Lizenzaufnahme) und 29 Minuten der Konzertmitschnitt (EMI), s.u.!):



    ist dieser Funken sprühende virtuose Ansatz noch vorhanden. Da fasziniert ABM gerade auch mit einem erotisch-virtuosen Carnaval. Anfang bis Mitte der 70iger Jahre kommt dann die "puristische" Phase von ABM, wo er, dessen Spiel über eine so magische Ausstrahlung verfügen konnte, um keinen Preis mehr faszinierend sein wollte. Es gibt aus dieser Zeit einen - im Vergleich mit allen anderen Dokumenten - extremen Mitschnitt der "Paganini-Variationen" von Brahms, der ist so selbstlos anti-virtuos, dass es an Selbstverleugnung grenzt. ABM konnte sich selber zensieren und quasi "Askese" üben im Dienst an der Musik. Das radikale Beispiel dafür ist die Aufnahme des "Carnaval" von 1975. Ganz bewusst wählt er den Weg einer purifizierenden Abstraktion, reduziert auch den geringsten Anschein von Virtuosen-Selbstgefäligkeit, von konzertanter Brillanz und Wirkungsrhetorik. Er macht aus Schumanns Musik mit Debussy "Musik unter vier Augen" - also eine Zwiesprache mit dem Werk statt eines "glänzenden" und glänzen wollenden konzertanten Vortrags. Unterstützt wird das noch durch die sehr nüchtern-trockene Akustik des Aufnahmeortes in der Schweiz. Was dabei herauskommt ist nun wahrlich unerhört. Nur bei ABM wird klar, dass der "Carnaval" Schumanns am wenigsten intuitives, sondern konstruktivstes und "intellektuellstes" Werk ist. Da wird die Virtuosität in stupend-konsequente und hyperpräzise "musikalische Logik" aufgelöst - Musik ohne Wirkung nur noch als Ausdrucks-Sinn, in einer nie dagewesenen Eidetik des musikalischen "Wesens" in der glasklaren Zeichnung von Formen, logischen Strukturen und Charakteren. Wie schlüssig das aufgeht, zeigt sich bei "Paganini", dem romantischen Portrait des Musikers, der zum Inbegriff des Virtuosentums wurde. Der Virtuose wird bei Schumann zu einer Karnevals-Maske, die er sich aufsetzt. Am Schluss gibt es die Parodie des Tastendonners - die "schmutzigen Obertöne" (im Notentext notiert!) bleiben stehen. Der Flügel "raucht". Bei ABM, eben weil er Virtuosen-Selbstgefälligkeit und gefallsüchtige Eingängigkeit vollständig reduziert, wird damit deutlich, dass die Virtuosität des Carnaval romantische Ironie ist, eben nur eine Maske der Musik und nicht die Musik selbst.


    Interessant ist, dass ABM selbst, der ein Leben lang nach der "idealen" Interpretation suchte, obwohl er eigentlich ganz genau wusste, dass es sie nicht gibt, in späteren Jahren seine Sympathien mit der 1957iger Aufnahme entdeckte, wie sein Produzent und Schüler Cord Garben berichtet. In seiner Spätzeit ist er freier gerade was die selbst auferlegten Ansprüche und Zwänge angeht. Schade, dass es keinen Mitschnitt aus den 80igern gibt. Offensichtlich hat er sich in dieser Zeit mit dem "Carnaval" nicht mehr beschäftigt.


    Schöne Grüße
    Holger

  • Nur bei ABM wird klar, dass der "Carnaval" Schumanns am wenigsten intuitives, sondern konstruktivstes und "intellektuellstes" Werk ist...
    Bei ABM ... wird damit deutlich, dass die Virtuosität des Carnaval romantische Ironie ist, eben nur eine Maske der Musik und nicht die Musik selbst.

    Lieber Holger,


    das kann man so sehen, zumal wenn Michelangeli den CARNAVAL spielt. Aber ich würde nie sagen, dass der CARNAVAL Schumanns intellektuelles Werk ist und dass die Virtuosität hier nur romantische Ironie ist, bzw. nur eine Maske der Musik. Seine sezierende EMI-Aufnahme, von deren Hintergründe ich bislang nichts wusste, bringt dich dazu, diesen Aspekt in der Musik wahrzunmehmen. Aber man kann es auch anders sehen. Schon auf Michelangelis 57er Aufnahmen trifft dies nicht mehr zu, finde ich, geschweige denn auf die wunderbar lebedingen Aufnahmen von Rubinstein (incklusive eines Live-Mitschnitts gibt es drei) oder jene von Arrau. Gar nicht zu reden vom Irrsinn eines Horowitz. Unter den Neueinspielungen finde ich besonders gelungen die von Lilian Akopova, auf die ich in einem anderen thread über junge Pianisten schon mal hingewiesen haben.


    Viele Grüße
    Christian

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  • das kann man so sehen, zumal wenn Michelangeli den CARNAVAL spielt. Aber ich würde nie sagen, dass der CARNAVAL Schumanns intellektuelles Werk ist und dass die Virtuosität hier nur romantische Ironie ist, bzw. nur eine Maske der Musik. Seine sezierende EMI-Aufnahme, von deren Hintergründe ich bislang nichts wusste, bringt dich dazu, diesen Aspekt in der Musik wahrzunmehmen. Aber man kann es auch anders sehen. Schon auf Michelangelis 57er Aufnahmen trifft dies nicht mehr zu, finde ich, geschweige denn auf die wunderbar lebedingen Aufnahmen von Rubinstein (incklusive eines Live-Mitschnitts gibt es drei) oder jene von Arrau. Gar nicht zu reden vom Irrsinn eines Horowitz.

    Der Untertitel des "Carnaval" ist, lieber Christian Scènes mignonnes sur quatre notes. Schumann hatte die Vorstellung, dass Musik eine Art Geheimsprache ist, die nur von Eingeweihten entschlüsselt werden kann. Das sind die vier Noten. Die sind "versteckt" - und zwar in "Sphinxes" - eine "Nummer" des Carnaval, die nicht gespielt werden soll (obwohl manche Interpreten wie Rachmaninow z.B. sie spielen). Sie sind der Schlüssel zu dem "Geheimnis" des Carnaval - die Noten Es C H oder As C H umschreiben "Asch", den Geburtsort von Schumanns erster Verlobter Ernestine von Fricken. Diese verschlüsselten Noten findet man in jedem Stück des Carnaval - Schumann treibt damit eine Art symbolische Noten-Mathematik von der Andeutung bis hin zu einer sehr abstrakten "musikalischen Logik": Musik als Spiel mit einzelnen Tönen, ihren Kontrasten, Polarisierungen: Es entsteht mitunter eine Musik quasi wie eine "Musik als Tonordnung" und nicht nur "Melodie". Der zweite Hinweis im Untertitel bezieht sich auf Mignon. Mignon ist bei Goethe eine mädchenhafte Gestalt mit knabenhaften Zügen - also eine, die keine eindeutige Identität hat, d.h. ein Charakter, der ausschließende Gegensätze vereinigt. Genau das nutzt das Maskenspiel des Carnaval aus - die Musik "polarisiert", schlüpft in die gegensätzlichen Masken. Natürlich kommen da dann auch Florestian und Eusebius (das Mutige und das Schwärmerische), also Schumanns seelischer Zwiespalt, vor. Schumann selbst erscheint in den Masken, seine wie bei Mignon zwischen den Gegensätzen schwankende und so schillernde romantische Identität. Diese mignonhafte Polarisierung zeichnet aber auch jeder einzelne Charakter en miniature. Genau deshalb muss man den Carnaval so präzise spielen - Pauschalität ist da genau verkehrt.


    Die romantische Ironie selbst nun zeigt diesen mignonhaften Zug zwischen ihrer Subjektivität einerseits und ihrer Objektivität andererseits. Wenn die Charaktere nur Rollen und Masken sind, die man spielt, dann ist das einerseits eine Subjektivierung. Aber zugleich liegt darin eine Objektivierung. Denn das Subjekt kann sich wie die Sphinx ganz hinter der Maske verstecken - also gleichsam komplett hinter der Objektivität der Maske zurücktreten. Genau das macht ABM in der Aufnahme 1975 mit ihrem "objektivierenden" Vortragsstil, wo er jeden subjektiven Gestus vermeidet und sich auf die pure Charakterdarstellung beschränkt. Dass die Virtuosität im Carnaval ironisch betrachtet wird, dafür spricht nicht nur "Paganini", sondern auch die Überleitung zum abschließenden Marsch, wo sich ein rasant-virtuoser Notenschwall über den Hörer ergießt und Schumann ironisch drüberschreibt: "Pause"! Die Virtuosität ist also, sagt Schumanns Ironie, eigentlich keine Musik, sondern Nicht-Musik - nichts als musikalischer Leerlauf. Auch bei der Virtuosität haben wir wiederum diesen mignonhaften Zug von Subjektivität und zugleich Objektivität. Die Virtuosität ist ja nicht nur ein musikalischer Charakter, sondern mit ihrer Zurschaustellung stellt sich der Pianist mit seiner eigenen Subjektivität den Hörern dar. (ABMs Aufnahmen sind - abgesehen von dieser Problematik - die "virtuosesten" insofern, als keiner den klaviertechnisch immens schweren Carnaval so technisch perfekt bewältigt. Man höre nur "Papillon" - da hört sich selbst ein Kissin schlampig an!) Die Virtuosen-Subjektivität bietet aber eine Gefahr, nämlich dass sie, weil sie auf "Wirkung" zielt, auf Kosten der Charakterzeichnung geht und entsprechend einen Verdeckungseffekt hat, wo dann die vordergründige Wirkung auf Kosten der Wahrnehmbarkeit des Hintergrundes geht, ganz zuletzt der Noten-Mathematik als dem tiefen Geheimnis des Carnaval, das die Sphinx in sich birgt. Das Aufregende bei ABMs 1975iger Aufnahme ist die aus der Reduktion des Subjektiven resultierende hyperpräzise Charakterzeichnung, man kann die einzelnen Masken ja förmlich greifen! Dagegen wirkt selbst ein Rubinstein unscharf. Die Doppeldeutigkeit der Virtuosität als subjektive Selbstdarstellung des Pianisten und als objektiver Charakter, sie ist bei ABM 1957 noch da - wie er da z.B. in der "Pause" als Virtuose regelrecht explodiert, obwohl dort nur "Vivo" und nicht "Prestissimo" drübersteht. 1975 spielt er dann getreu Schumanns Anweisung "Vivo" und nicht "Presto" oder "Prestissimo" (Übrigens spielen viele Interpreten den abschließenden Marsch viel zu schnell. Da hat Schumann ausdrücklich Non Allegro ("nicht schnell") drübergeschrieben. Auch das "Quasi Maestoso" der Präambel realisieren etliche Interpreten nicht, z.B. Kissin.) Die romantische Ironie ist nun etwas Hintergründiges wie die Sphinx. Wenn man die subjektive Seite der Virtuosität asketisch reduziert wie das ABM 1975 macht, dann wird sie so sichtbar als die Ambivalenz der Maske, nämlich als die Infragestellung einer Musikalität, wo die Musik quasi nur selber spricht ohne dass sich das Subjekt (der Interpret) da einmischt durch irgendeine sich dem Hörer aufdrängende aufdringliche Vortragsgestik. Das Fehlen einer Vortragsgestik kann freilich als "leblos" emfunden werden - weil diese Reduktion letztlich verlangt, dass der Hörer sie mitvollzieht, sich ganz dem Maskenspiel hingibt und nicht ein romantisches Subjektivitäts-Theater sucht. Genau letzteres macht aber Horowitz als Gegenextrem und verfehlt damit den Carnaval finde ich völlig. Er spielt ihn so, als wäre der Carnaval nicht der Carnaval, sondern die Kreisleriana. In der kreislerianischen Verrücktheit äußert sich exaltierte Subjektivtät, im Carnaval (wie auch in den Davidsbündlertänzen) geht es dagegen um die präzise Charakteristik, also das "Objektive". Die präzise Charakterzeichnung einer Maske und subjektivistische Exaltiertheit schließen sich wechselseitig aus, denn die Maske muss ganz genau passen, damit sie erkennbar ist bzw. die Person dahinter unerkennbar bleibt. Deshalb hört da die "subjektive Freiheit" auf. Mein Lehrer (der als Konzertpianist wie schon gesagt den Carnaval selber aufgeführt hat - das Urteil von Pianisten untereinander ist immer aufschlussreich finde ich) hat mir angekündigt, die Horowitz Aufnahme kritisch auseinanderzunehmen. Auf den schon seit längerem angekündigten Brief von ihm warte ich noch... :D (Er hat auch George Cziffra mit dem "Carnaval" einst im Konzert in Düsseldorf gehört, was ihm gar nicht gefiel, wie er mir erzählte. Mir dagegen gefallen allerdings die Studioaufnahmen von Cziffra ausnehmend gut. Für mich gehören sie zu den besten Interpretationen des Carnaval.) :hello:

    Unter den Neueinspielungen finde ich besonders gelungen die von Lilian Akopova, auf die ich in einem anderen thread über junge Pianisten schon mal hingewiesen haben.

    Ich habe die Hörschnipsel gehört und das gefiel mir auch! :)


    P.S. Zu den Carnaval-Rätseln gehört auch "Chopin", wo Schumann paradoxer Weise Agitato drüberschreibt. Das ist also nur die Maske von Chopin, also kein vermeintlich-biedermeierliches ruhiges Nocturne. 1957 nimmt ABM das noch zügig (die "Unruhe" des Agitato kann in Richtung einer Tempobeschleunigung Richtung Presto gehen), 1975 wie übrigens auch Arrau deutlich ruhiger, präzise den Charakter darstellend mit mehr "innerer" als äußerer Bewegung. Da wäre spannend, einen späten ABM-Mitschnitt zu haben, wo sich bei ihm die Einmischung seiner Subjektivität in einer deutlich mehr rhetorischen, sprechenden Charakterisierung meldet. Wie würde sich das dann anhören?


    Einen schönen Sonntag wünscht
    Holger

  • Sicherlich ist diese ABM-Aufnahme eine, wo er es sich selbst und dem Hörer alles andere als leicht macht.

    Lieber Holger,


    zunächst einmal vielen Dank für Deine ausführliche Antwort.


    Ich bin ein überzeugter ABM-Fan, viele seiner Aufnahmen sind mir vertraut, und etliche halte ich für unübertroffen, so z.B. die Paganini-Variationen von Brahms aus dem Jahr 1948, die auf der besagten CD ebenfalls enthalten sind. Man kann da über Kürzungen und Umstellungen geteilter Meinung sein, aber insgesamt ist die Aufnahme zu Recht legendär:

    Eine CD, die ich auch überaus schätze, ist die folgende:

    und das vor allem wegen der phänomenalen Interpretation der Beethoven-Sonate Nr. 4 op. 7. Auch die ist extrem langsam gespielt, doch hier stellt sich (bei mir) der Aha-Effekt ein, der mir bei der Carnaval-Aufnahme fehlt.
    Nun gebe ich freimütig zu, daß ich weder Musikwissenschaft studiert habe noch überhaupt eine Partitur lesen kann, sondern mein Urteil nur nach dem persönlichen Empfinden ausrichte. Meine Einstellung ist eine ganz subjektive, und sie bezieht sich, wie ich bereits betont habe, keineswegs auf das überragende Klavierspiel von ABM, das ich gar nicht in Zweifel ziehen will bzw. kann. In dieser Beziehung sind sowohl der von mir favorisierte Artur Rubinstein wie auch Michelangeli solche Koryphäen, daß sich darüber jede Erörterung erübrigt. Vielleicht bin ich auch durch die frühe Berührung mit den Aufnahmen von Rubinstein, Kempff u.a. so geprägt worden, daß ich bei ABM häufig den Eindruck hatte, er käme bei seinem Spiel nicht von der Stelle.


    Nun fiel mir aber gestern ein, daß ich irgendwo eine alte Kritik aus HiFi-Stereophonie habe, die kurz nach dem ersten Erscheinen des ABM-Carnaval veröffentlicht wurde. Der Verfasser ist Ulrich Dibelius, ein seinerzeit renommierter Musikkritiker und Musikwissenschaftler, der u.a. bei Adorno und Horkheimer studiert hat. Ich schicke das nur voraus, weil ich damit zeigen möchte, wie sehr sich die Meinungen selbst von Kennern der Materie unterscheiden können. Hier ist die Rezension aus HiFi-Stereophonie 1977:


    "Michelangeli sinniert über die 21 Stücke des "Carnaval", und vor lauter Nachdenklichkeit und Bedeutsamkeitspose erstreckt sich das Stück, das bei anderen Pianisten auf einer einzigen Plattenseite unterzubringen ist, fast auf deren zwei. Doch sollte dies allein noch kein Grund sein, nicht über eine solche Interpretation zu diskutieren, wäre bei der intensiv-eigenwilligen Beschäftigung mit dem weidlich bekannten Notentext erkennbar etwas herausgekommen, was das langsame Nachbuchstabieren rechtfertigen könnte. Man muß aber ziemlich geduldig suchen, bis man auf einige Einzelmomente stößt, die eine Absicht verdeutlichen und darüber hinaus dem Werk noch etwas, was nach neuem, aufschlußreichen Aspekt klingt, zutragen würden. Dagegen häufen sich auf der anderen Seite die interpretatorischen Seltsamkeiten, so daß man offenbar schon zu den >Legionen von Michelangeli-Verehrern in aller Welt< gehören muß, um bei all dem etwas ernsthaft Diskutables zu finden."


    Wie gesagt, das ist eine Besprechung von 1977, die ich nur zum Teil nachvollziehen kann, denn induskutabel kann ich ABMs nun wirklich nicht finden, eher ungewöhnlich bzw. "aus dem üblichen Rahmen fallend". Doch das ist ja wohl eher ein Geschmacks- und kein Qualitätsurteil. Die von Dir genannte DGG-Lizenzausgabe des Carnaval, gekoppelt mit dem Faschingsschwank, kenne ich leider nicht.


    LG und schönen Sonntag,
    Nemorino

    Die Welt ist ein ungeheurer Friedhof gestorbener Träume (Robert Schumann).

  • Wie gesagt, das ist eine Besprechung von 1977, die ich nur zum Teil nachvollziehen kann, denn induskutabel kann ich ABMs nun wirklich nicht finden, eher ungewöhnlich bzw. "aus dem üblichen Rahmen fallend".

    So ist das, lieber Nemorino, wenn man sich als Interpret nicht um eingefahrene Wege von Aufführungstraditionen schert, dann irritiert man! ("Interpretatorische Seltsamkeiten" gibt es bei ABM nun wirklich nicht, dass soll der Kritiker dann doch ml am Notentext belegen!) Die Mehrheit der Rezensionen die ich gelesen habe waren übrigens sehr positiv! Eine schrieb: "Nicht leicht, aber völlig luzide!" Die Aufnahme gilt - gerade auch unter Musikerkollegen - inzwischen wohl überwiegend als eine Referenzeinspielung. Ich mag es, wenn Interpreten nicht gefällig sind, sondern mich herausfordern! Manchmal ist man dann vielleicht verstört, aber wie zwanghaft kehrt man dann doch immer wieder zu so einer Aufnahme zurück. Op. 7 ist so ein Fall. Michael Korstick schreibt, er habe durch ABM die Sonate erst lieben gelernt. Man müsse ja nur den Kopfsatz nicht so langsam spielen (was sich aber einfach daraus ergibt, dass man den Sechsachteltakt wie einen solchen behandelt und nicht Dreiviertel zählt - sagt mein Lehrer F.-J., der das Stück im Konzertexamen spielte). Daraufhin besorge ich mir gleich Korstick und höre ihn, der mir dann aber gar nicht gefällt und so bin ich ganz schnell wieder zurück bei ABM! :D Die Zeit Anfang bis Mitte der 70iger war auch die, wo man "objektivierende", eher nüchterne Darstellungen schätzte (Gulda!), und subjektivierende als altmodisches romantisches Virtuosentum galten. Es kann gut sein, dass ABM um keinen Preis in die Schublade des romantischen Virtuosen gesteckt worden wollte und sich deshalb damals eine solche "Läuterung" verordnete. So eine Läuterungs-Phase ("ich will nicht mehr der Virtuose sein") gab es bei Horowitz ja auch und Arcadi Volodos steckt gerade in einer solchen. Als Virtuose berühmt geworden verschmäht er heute Virtuosenprogramme, weswegen er schon seit Jahren in den USA nicht mehr auftritt, weil die Veranstalter dort von ihm nur Virtuoses haben wollen.


    (Ich glaube, dass es üblich war, eine Auswahl der Paganini-Variationen zu spielen. Zwei Hefte, das ist einfach im Konzert vor allem nicht zu bewältigen. Auch Emil Gilels u.a. spielen eine Auswahl. Nächste Woche bekomme ich Anda (BBC) - ich nehme an, er spielt ebenfalls eine Zusammenstellung aus beiden Heften.)


    Ich habe übrigens den "Carnaval" im Konzert in Düsseldorf mit Daniel Barenboim erlebt - das muss in den 80igern oder 90igern gewesen sein. Das war der einzige Konzertabend, wo ich mich erinnere, richtig "sauer" gewesen zu sein. Die "Kinderszenen" konnte man sich noch anhören, die Fantasie op. 17 war schrecklich und der Carnaval eine einzige Katastrophe! Klaviertechnisch mangelhaft - es wimmelte nur so von Fehlern und falschen Tönen - und ohne erkennbares interpretatorisches Konzert. Mein Lehrer meinte nur (wir besuchten das Konzert zusammen): "So unvorbereitet wie er würde ich mich nicht aufs Konzertpodium trauen!" Barenboim litt damals wohl an notorischer Überbeschäftigung als Pianist und Dirigent und hatte einfach keine Zeit, sich sorgfältig für ein solches Konzert vorzubereiten. :hello:


    Einen schönen Sonntag wünscht
    Holger

  • Claudio Arrau gehört für mich zu den ganz besonderen Interpreten des Schumannschen Kosmos' für Klavier. Auch hier präferiere ich die früheren Aufnahmen.


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    Robert Schumann
    Carnaval, op. 9
    Aufnahme: 03. & 04.04.1939, Abbey Road Studios, London
    Naxos Historical


    Ein wundersam changierendes Spiel aus Farben und Kräften.


    Viele Grüße
    Novalis

  • Op. 7 ist so ein Fall.


    Lieber Holger,


    also seit ich die ABM-Aufnahme dieser Sonate erstmals gehört habe, bin ich für alle anderen Interpretationen verloren. Das ist sicher ungerecht gegenüber vielen bedeutenden Pianisten, aber es ist so! Ich erinnere mich noch gut, die Sonate erschien erstmals noch zu LP-Zeiten und nahm nicht eine, sondern gleich alle zwei Plattenseiten in Anspruch. Schon das machte neugierig auf die Aufnahme. Das war natürlich auch ein Werbegag der DGG-Marketingstrategen, aber viel Platz für einen "Füller" war wirklich nicht vorhanden, höchstens noch "Die Wut über den verlorenen Groschen" oder "Für Elise", aber wer wäre nach dem Erlebnis dieser Sonate noch bereit gewesen, sich ein solches Stück anzuhören?


    "Interpretatorische Seltsamkeiten" gibt es bei ABM nun wirklich nicht, dass soll der Kritiker dann doch ml am Notentext belegen!


    Das halte ich auch zumindest für eine unglückliche Formulierung. Letzteres dürfte allerdings schwerfallen, Ulrich Dibelius starb 2008. :(
    Jedenfalls werde ich mir die Aufnahme in den nächsten Tagen wieder einmal anhören.


    Was Barenboim angeht: Dieser "Hans Dampf in allen musikalischen Gassen" war einmal, aber das ist lange her, ein guter Pianist und mutierte zum mittelmäßigen Dirigenten. Wenn er auf dem Klavier so virtuos zu spielen vermöchte wie mit seinen Verhandlungspartnern, wenn es um die Penunzen geht, wäre die Musikwelt wohl um etliche "Jahrhundertaufnahmen" reicher. Ich kenne, im Gegensatz zu den meisten seiner Kollegen, keine einzige Aufnahme aus diesem langen Künstlerleben, die ich als echte Referenz zu nennen vermöchte. Für mich ein total überschätzter Musiker.


    Weiterhin schönen Sonntag,
    Nemorino


    Die Welt ist ein ungeheurer Friedhof gestorbener Träume (Robert Schumann).

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