Karajan: 20. Todestag – Was hat sich seither getan?

  • Vor zwanzig Jahren, am 16. Juli 1989, starb Herbert von Karajan.


    Vielen – seinen Anhängern wie auch seinen Gegnern — dürfte bereits damals bewußt gewesen sein, daß dies ein wichtiges, vielleicht gar epochales Datum in der Geschichte der Interpretation klassischer Musik werden würde. Für die Karajanianer begann eine Identitätskrise, der omnipotente Maestro war von dieser Welt gegangen. Für die Karajan-Gegner begann vielleicht so etwas wie ein Aufatmen, war die dominante Persönlichkeit der Klassik nun ja Geschichte.


    In Karajans Fußstapfen als die führende Persönlichkeit innerhalb der Klassik konnten oder wollten jetzt Solti, Celibidache und andere treten. Der in der öffentlichen Wahrnehmung neben Karajan vielleicht einzige Gleichrangige, Bernstein, konnte vom Tode Karajans (den er persönlich sehr geschätzt hatte) kaum profitieren: er starb kaum ein Jahr später ebenfalls. Die noch lebenden anderen Titanen, Solti und Celibidache, waren jedoch bereits selbst im Greisenalter angelangt – auch sie sollten Karajan keine zehn Jahre überleben.


    Mit Karajans Tod endete zwar die Ära der "Diktatoren" auf dem Pult nicht – ihr Ende wurde jedoch unverkennbar eingeleitet. Einer nach dem anderen starb nun weg. Heute, 2009, zwanzig Jahre später, lebt wohl kein einziger mehr (man möge mich korrigieren, wenn es noch einen gibt).


    Was hat sich eurer Meinung nach seit der "Klassik-Wende" 1989 (ein insofern nicht nur politisch wichtiges Datum) getan?

    »Und besser ist's: verdienen und nicht haben,

    Als zu besitzen unverdiente Gaben.«

    – Luís de Camões

  • Zynisch gesprochen könnte man die Frage "Was hat sich seither getan?"
    auch mit "nichts Wesentliches" beantworten:


    Karajan dürfte nach wie vor der meistverkaufteste und bekannteste Dirigent des 20. Jahrhunderts sein - egal ob er angefeindet wurde oder nicht. Schlechthin wird er als DER Dirigent des 20. Jahrhundert gesehen - ähnlich wie Caruso als Tenor, an dem sich noch, beinahe 90 Jahre nach seinem Tod - alle Tenöre messen lassen müssen. Legenden sind eben stärker als Lebende.
    Das gilt auch für Karajan. Beinahe alle seine Zeitgenossen sind weitgehend vergessen - aber auf iihn trifft das nicht zu.
    Während die einen die Person diabolisieren, tragen andere zu deren Verklärung bei. Karajans Gegner haben nach dessen Tod aufgeatmet und gemeint seine Macht wäre gebrochen. Das Gegenteil war der Fall:
    Geradezu als Allegorie der klassischen Musik feiern und vermarkten ihn seine Labels - und ein Ende ist nicht abzusehen.
    Normalerweise ist zumindest ab dem 100 Geburtstage "Funkstille" - der verstorbene Künmstler gerät - zumimdest für die kommenden 50 Jahre - allmählich in Vergessenheit.


    Im Falle Karajans war das nicht so. Die Präsenz des Meisters scheint ungebrochen, zahlreiche Medien erinnern an den 20 Todestag des berühmtesten Dirigenten des 20. Jahrhunderts.


    Radio Berlin Brandenburg titelt heute beispielsweise auf seiner Internetseite:


    Der Unerreichte: Zum 20. Todestag von Herbert von Karajan


    Der Bayrische Rundfunk schreibt auf seine Website:


    Herbert von Karajan: Der Pultlegende zum 20. Todestag


    Daraus ein Zitat, welches ich gerne zitieren möchte - um es zu ergänzen:


    Zitat

    Das berühmt-böse Wiener Bonmot war zugespitzt, brachte es aber auf den Punkt:


    Karajan war in manchen Hörerkreisen bekannter als die Komponisten, deren Werke er dirigierte.


    und er wird es auch in Hinkunft noch sein - sogar bekannter als jene Kritiker, die keine Gelegenheit auslassen um ihm selbst nach dem Tod noch ans Bein zu pinkeln


    mit freundlichen Grüßen aus Wien


    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Also hier in Berlin spricht kaum noch jemand von Karajan - dafür war die Ära Abbado zu prägend und vor allem zu entlarvend: Abbado hat gezeigt, dass den Berliner Philharmonikern erstmal wieder die Ohren geöffnet werden musste, die die Ära Karajan ihnen verstopft hatte.


    Gruß aus dem Wiesengrund

  • Man kann Karajan subjektiv mögen - oder eben auch nicht.
    Objektiv ist die Behauptung, er hätte den Berliner Philharmonikern 'die Ohren verstopft' nicht haltbar. Karajan war mit Sicherheit einer der großartigsten Dirigenten des letzten Jahrhunderts, wohl einer der zehn Größten. Um die Wahrnehmung deutscher Musikkultur im Ausland hat er sich unschätzbare Verdienste erworben, letztlich hat er den maßgebenden Beitrag für den Weltruf der Berliner geleistet. Seine absolute Auffassung, die neben der klanglichen Perfektion auch die visuelle Aufführungsästhetik und die perfekte Klangwiedergabe beinhaltete, hat das Bild der Klassischen Musik in erheblichem Maße (positiv!) beeinflusst.
    Auch ich schätze bei weitem nicht alle seine Aufnahmen, manche finde ich auch schrecklich, dennoch ist sein Gesamtwerk eines, das ihn als einen der überragenden Dirigenten herausstellt.


    Was Abbado angeht, den ich sehr schätze, so musst er sicher niemanden aus einer Abstumpfung erlösen, er hat einfache neue Sichtweisen in ein Orchester eingebracht, das diese ebenso in eine wunderbare Zusammenarbeit einfliessen ließ wie vorher bei Karajan, ohne einen Bruch, wie mir scheint, nicht Revolution, sondern Evolution.


    Dass in Berlin kaum mehr einer über Karajan spricht - nun gut, im gegenwärtigen Musikleben vermutlich. In München dikutiert man auch Thielemann und Jansons, anstatt in Erinnerungen an Celibidache und Kubelik zu schwelgen - vergessen sind sie deswegen ja wohl kaum.

    'Architektur ist gefrorene Musik'
    (Arthur Schopenhauer)

  • Zitat

    Also hier in Berlin spricht kaum noch jemand von Karajan


    Mag sein - das spräche aber nicht unbedingt für Berlin :D


    In Wien hingegegen titelte die Presse:


    Maestro aller Maestros: Vor 20 Jahren starb Karajan


    und die Oberösterreichischen Nachrichten schrieben:


    Der Mythos Karajan ist noch immer ungebrochen


    Aber bei aller Polemik - Karajans Beethoven Zyklen vergaufen sich bis heute besser als jene von Abbado.
    Ich wüsste nicht was Karajan an den Ohren der Beriner Philharmoniker verstopft haben sollte - das Orchester war unter seiner Führung ein Markenbegriff, was es heute eigenlich in dieser Form nicht mehr ist, egal ob unter Abbado oder Rattle. Natürlich ist es ein gutes Orchester von internationalem Format - ohne Zweifel, was jedoch fehlt ist das Typische, das Individuelle, Unverwechselbare....
    Von Luxusklang kann keine Rede mehr sein......


    jedenfalls dürften CD-Käufer die Verstopften Ohren durchaus schätzen - die Verkaufszahlen der Karajan-CDs lassen darauf schliessen....



    mfg aus Wien


    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Zitat

    Von Luxusklang kann keine Rede mehr sein......


    Und das ist auch gut so, wie man hier in Berlin zu sagen pflegt :D


    Und wer oder was bitte schön sind schon die 'Oberösterreichischen Nachrichten'? :hahahaha:


    Manche kommen halt nie im 21. Jahrhundert an, die Berliner Philharmoniker sind es dank Abbado und Rattle schon - oder wie formulierte es Rattle kürzlich, als er in einer Pressekonferenz angeraunt wurde, die Philharmoniker würden ihren 'deutschen' Klang verlieren: Oh, I'm so sorry. :]


    Gruß aus dem Wiesengrund

  • Weiß nicht wirklich, was daran so toll sein soll, daß die Berliner Philharmoniker ihren spezifischen Klang verloren haben.


    Den hatten sie unter Furtwängler, den hatten sie unter Karajan. Seither klingt es eher nach Einheitsbrei (auf hohem Niveau).


    Im übrigen soll Karajan bei Amtsantritt in Berlin das Furtwängler-Orchester nur sehr zaghaft umgebaut haben, keineswegs also gleich der totale Bruch. Daß er den Orchesterklang in 35 Jahren immer mehr nach seinem Ideal kontinuierlich formte, ist indes verständlich.

    »Und besser ist's: verdienen und nicht haben,

    Als zu besitzen unverdiente Gaben.«

    – Luís de Camões

  • Zitat

    Original von wiesengrund
    Und wer oder was bitte schön sind schon die 'Oberösterreichischen Nachrichten'? :hahahaha:


    Laut Österreichischer Media-Analyse 2004 haben die Oberösterreichischen Nachrichten in Österreich 371.000 Leser. Dies entspricht einer auf ganz Österreich bezogenen Reichweite von 5,5 %.
    (Wikipedia)


    So ganz unbedeutend scheint das Blatt dann doch nicht zu sein.



    Zitat

    Manche kommen halt nie im 21. Jahrhundert an


    Und das ist auch gut so. :D

    Einer acht´s - der andere betracht´s - der dritte verlacht´s - was macht´s ?
    (Spruch über der Eingangstür des Rathauses zu Wernigerode)

  • Zitat

    Manche kommen halt nie im 21. Jahrhundert an


    Technisch und wissenschaftlich natürlich schon.
    Künstlerisch und arbeitsmarktmässig erscheint es mir in der Tat wenig anstrebenswert.
    Es ist in der Tat ein Bravourakt sondersgleichen, wenn Rattle sein altehrwürdiges Orchester ins 21. Jahrhundert katapultiert, während sein Publikum freiwillig im 18 und19. verweilt......


    Für jene, denen 371.000 Leser und das Land Österreich (Karajan war Österreicher) zu unbedeutend erscheinen, hier ein aktueller Artikel der FAZ:


    Julia Spinola schreibt in der Frankfurter allgemeinen Zeitung ebenfalls eine Würdigung:


    Herbert von Karajan: Der Unsterbliche


    Hieraus 2 Zitate, ich empfehle - bei mir sehr selten - den gesamten Artikel zu lesen, auf den ich ausnahmsweise verlinke werde - ohne garantieren zu können wie lange der Artikel im Net bleibt.


    Zitat

    Für eine ganze Generation von Kennern und Kritikern gehörte es, wie Richard Klein, Mitherausgeber der Zeitschrift „Musik & Ästhetik“ einmal treffend bekannte, „zum guten Ton, über Karajan zu lästern“.


    Zitat

    Dass er den ganzen Berufsstand „auf ein anderes Niveau gebracht“ habe, rechnet ihm heute sein einstiger Schüler Mariss Jansons noch hoch an.


    Dann folgen etliche Absätze, die sich mit den typischen prägenden Eigenschaften des Maestro befassen, seinem Streben nach Perfektion, der Sucht, nichts dem Zufall zu überlassen (ein Laster das ich mir ihm teile), dem Streben nach Schönheit, und - man höre und Staune - nach Klarheit, Präzision und klaren Aussagen.


    Auch die Begriffe: Sensibel, konturscharf, feurig
    wurden Herrn Karajan zugebilligt - welch Wunder...


    http://www.faz.net/s/Rub452114…ntent.html?rss_googlefeed


    So wie es aussiht wird Herbert von Karajans Vermächtnis nicht nur das 21. sondern auch das 22. Jahrhundert überleben.
    Verdient hätte ers.....


    mfg aus Wien


    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Den Artikel von Frau Spinola in der FAZ ist fair, da die Autorin Stärken und Schwächen Karajans benennt und den "Jubilar" weder in Bausch und Bogen verdammt, noch in kritikloses Adorantentum verfällt.


    Karajans heutigen Stellenwert zu beurteilen, halte ich für nicht einfach. Im Gegensatz zu seinen beiden Vorbildern Toscanini und Furtwängler hat es einen eigenständigen Karajan-Stil nie gegeben, sondern "nur" einen spezifischen Karajan-Sound, der sich mit der voranschreitenden technischen Entwicklung immer mehr perfektionierte. Sicher hat er den ganzen Berufsstand "auf ein anderes Niveau" gebracht, vor allem in finanzieller Hinsicht. Mit geschätzten 500 Millionen DM Vermögen zum Zeitpunkt seines Todes dürfte er wohl immer noch der reichste Dirigent der Musikgeschichte sein. Und für die Deutsche Grammophon ist er immer noch eine der größten cash cows im Stall. Allerdings wird er vor allem in (Kontinental-)Europa und Japan geschätzt, in den angloamerikanischen Ländern ist das weit weniger der Fall, was auch, aber nicht nur, mit Ks NS-Vergangenheit und seiner Weigerung, sich dafür zu entschuldigen, zu tun hat (in Nordamerika bleibt Bernstein die Nr. 1).


    Für seinen Nachruhm hat Karajan mit seinen fast 900 Aufnahmen hinreichend gesorgt. Sein letzter Wunsch hat sich allerdings nicht erfüllt. Das von ihm in den 1980ern produzierte digitale "Vermächtnis", an dem er hektisch bis kurz vor seinem Tod im Anifer Kellerstudio herumschnitt und welches sein Bild für kommende Generationen bestimmen sollte, hat sich - im Gegensatz zu seinen reinen Tonaufnahmen - nie sonderlich gut verkauft. Schon als teure Laserdisc-Edition lag Karajans "Spätwerk" vergleichsweise wie Blei in den Regalen, woran sich auch durch neue Abmischungen und verbesserte Klangtechnik nichts geändert hat.


    :hello:


    GiselherHH

    "Mache es besser! (...) soll ein bloßes Stichblatt sein, die Stöße des Kunstrichters abglitschen zu lassen."


    (Gotthold Ephraim Lessing: Der Rezensent braucht nicht besser machen zu können, was er tadelt)

  • Tamino Beethoven_Moedling Banner
  • Man kann über ihn sagen was man will ( sicher nicht nur Gutes...), was für mich persönlich bleibt und in gewisser Weise für mich auch immer noch Referenzcharakter besitzt, das ist sein letzter Aufnahmezyklus der Sinfonien von Beethoven Anfang der Achtziger.
    Dieser Sound und die unglaubliche Präzision, besonders in dem von mir so geliebten Holzbläsersatz ( Zoeller, Koch, Leister, Seiffert..), sind m.E. unerreicht....