Klassische Musik - kein Platz zum Improvisieren ?

  • Ich bereite mich gerade auf ein Konzert vor, auf das ich jetzt schon 21 Jahre gewartet habe - morgen ist es so weit, dass ich meinen über alles verehrten Leonard Cohen in Bratislava hören werde.


    Da mir die Set-List vorliegt habe ich in diverse Aufnahmen des Künstlers aus den letzten 42 Jahren gegengehört und es für wunderschön empfunden, wie sehr sich nicht nur die Stimme und Interpretation von Cohen verändert hat, sondern auch, wie unterschiedlich die verschiedenen Arrangements seiner Lieder sind, wie subti er teilweise die Instrumentation verändert hat und wie viel Raum er seiner Band gibt, wenn sie die Instrumentalparts spielen.


    Dabei ist mir der Gedanken gekommen, dass dies - so scheint es mir zumindest - nur bei moderner Musik möglich ist, so was zu tun. (Ich will jetzt mit Absicht nicht U-Musik schreiben). Der Jazz lebt davon, Dylan erfindet seine Songs auf der Bühne was täglich neu (man braucht da z.B. nur die "Live at Budokan" - Version von "Ballad of a thin man" anhören). In der klassischen Musik, so glaube ich, ist es nicht wirklich gewünscht, von den vorgegebenen Noten abzuweichen (ja, an und ab wird einem Künstler eine eigene Kadenz verziehen) und diese zu sehr zu interpretieren bzw. zu verändern (mir fallen da die Diskussionen über Thielemanns überlange Generalpausen ein).


    Meine Frage jetzt - auch an die aktiven Musiker dieses Forums - ist es nicht erlaubt/erwünscht von den vorgegebenen Noten abzuweichen? Ich denke, dass dadurch die "klassische" Musik ihre "Limitations" hat - in früherer Zeit konnten Sänger immer wieder eigene "Noten" hinzufügen. Das ist doch heute fast zur Gänze verschwunden.


    Will das Klassikpublikum nur eine althergebrachte Interpretation mit immer denselben Noten? Werden da klassisch ausgebildete Musiker nicht all zu sehr eingeengt? Oder ist das auch der Grund, warum einige klassische Instrumentalisten auch selbst als Jazzmusiker aktiv sind, weil sie dort mehr "Bewegungsfreiraum" haben?


    Das sind ein paar Gedanken und ich hoffe, dass ich auf Basis Eurer Erfahrungen wieder was dazulernen kann!

    Hear Me Roar!

  • Hi,


    bis hin zum Barock (Instrumenralkonzerte), aber auch noch teilweise bei den Rezitativen klassischer Opern war dies möglich (notwendig), Ansatz wurde aber auch in der Neuen Musik (gibts bei Cage, Stockhausen, Goebbels u.a.) wieder aufgenommen

  • Hallo Dreamhunter,


    Du weißt ja bestimmt, daß die größten klassischen Musiker wie Bach, Mozart, Beethoven, Liszt usw. alle hervorragende Improvisatoren waren.


    Auch war es bis ins 19.Jh. hinein nicht etwas Spezielles, Nischenhaftes, daß improvisiert wurde, sondern gehörte ganz normal dazu.


    Bei vielen Klavierstücken von Bach, Beethoven oder Chopin erkennt man superdeutlich, daß sie aufgeschriebene Improvisationen sind (die vielleicht noch ein bißchen hier und da zurechtgezuppelt wurden).


    (Was würde ich darum geben, Beethoven improvisieren zu hören...)


    "Klassik" ist also per se überhaupt nicht improvisationsfern.


    Das von Dir geschilderte Phänomen hängt m.E. damit zusammen, daß sich ab dem 19. Jh. eine immer größere musikalische Komplexität und Stilvielfalt entwickelte und zugleich der Perfektionsanspruch immer größer wurde.


    Deswegen trauten sich immer weniger Musiker zu improvisieren, bzw. sie nahmen sich nicht die Zeit dazu, weil sie zuviel Zeit dazu brauchten, die schwierigen ausnotierten Stücke zur Perfektion zu bringen.


    Heute ist es so, daß die meisten klassischen Musiker sich nicht mal trauen, ein bißchen zum Spaß zu improvisieren, weil sie viel zu viel Angst davor haben, "schlecht" zu klingen. Ich habe schon verschiedentlich "Klassiker" als Klavierschüler gehabt, und jedesmal war es so, daß sie erstmal zu gehemmt zum Improvisieren waren, weil sie meinten: "Ja, aber das klingt dann doch schlecht /kindisch etc.".


    Außerdem kommt noch hinzu, daß in der klassischen Instrumentalausbildung Gehörbildung und Theorie i.d.R. viel zu kurz kommen und es so zu gar keinem wirklichen Verstehen des musikalischen Materials, geschweige denn zu einem kreativen Umgang damit kommt.


    Ein Improvisator (wie ich z.B.) spielt ein klassisches Stück und sieht dabei auch, daß es bestimmte Elemente wie Akkorde, Harmoniefolgen, Motive, Rhythmen etc. enthält, die er interessant findet und die ihn sozusagen anregen, sie als "Legobausteine" für eigene Schöpfungen zu verwenden.


    Ein typischer "Klassiker" hingegen interessiert sich dafür kaum, sondern nur dafür, eine gut klingende und vielleicht berührende oder "schlüssige" Interpretation hinzukriegen. Liegt wie gesagt am Erziehungssystem.


    Zum Publikum: Man kann sagen, daß das typische Klassikpublikum in der Tat nicht an Neuem interessiert ist, sondern vor allem das, was es bereits kennt (und von dem es weiß, daß es "schön" ist) hören will. Es ist also sehr konservativ. Aber das war auch schon früher so. Die großen Komponisten mußten sich mit ihren kreativen Improvisationen und neuartigen Kompositionen stets ein sehr geteiltes Echo gefallen lassen, und nur wenige Zuhörer erkannten deren Größe wirklich.


    LG,
    Hasenbein

  • Es sei übrigens ergänzt, daß auch das typische Rock-Pop-Publikum genauso konservativ ist. Von den großen Pop-Stars wird verlangt, immer die großen Hits zu bringen, sonst ist man verärgert darüber, den horrenden Eintrittspreis bezahlt zu haben.


    Weniger konservativ sind so Neue-Musik- und Zeitgenössischer-Jazz-Publika; hier dreht sich der Spieß aber leider um und es wird oft Neues um des Neuen willen gefordert, während nicht ausreichend Neues als unkreativ gebrandmarkt wird. Das ist natürlich auch Schmarrn.


    LG,
    Hasenbein

  • Das Verhältnis von Improvisation und Komposition hat sich in der klassischen Musik mehr oder minder so entwickelt, daß erstere an bestimmte Stellen verbannt wurde (Kadenzen u.ä.) oder eben abgetrennt und parallel geübt wurde. Beethoven hat sogar auskomponierte Kadenzen hinterlassen und im 5. Klavierkonzert die Kadenz verbindlich festgeschrieben, aber sein "freies Phantasieren" machte ihn Ende des 18. Jhds. in den Wiener Salons berühmt.
    (Angeblich sollen der Beginn der Chorfantasie und die Fantasie op.77 einen ungefähren Eindruck von Beethovens "Phantasieren" geben.)


    Auch spätere Konzerte enthielten neben komponierten Stücken Teile, in denen der Pianist improvisierte. Währenddessen entwickelte sich die komponierte Musik so weiter, daß zunehmend genauer vorgeschrieben wurde, wie ein Stück zu interpretieren sei, Verzierungen ausgeschrieben wurden, keine improvisatorischen Abschnitte mehr vorkamen.
    Ich weiß nicht, wann das Phantasieren als Programmpunkt verschwand, spätestens Ende des 19. Jhds. hat es wohl keine Rolle mehr gespielt.


    Ich halte auch wenig davon, Stücke, die das nicht vorsehen, improvisatorisch "aufzumischen". Es scheint allerdings, daß selbst viele HIPisten bei Musik des Barock und vielleicht auch noch des späteren 18. Jhds. gemessen an zeitgenössischen Maßstäben recht zaghaft auszieren. Es geht hier allerdings hauptsächlich um Verzierungen, nicht um freies Improvisieren. Und es kommt natürlich auf die Musik an; im Streichquartett dürften zusätzliche Verzierungen außer in wenigen langsamen Sätzen fehl am Platze sein, aber bei Händelschen Cembalowerken und Orgelkonzerten haben neuere Funde (von ausgeschriebenen Verzierungen in einigen Sätzen) wohl bestätigt, daß hier oft nur ein Grundgerüst notiert wurde und der Interpret angehalten ist, sehr üppig auszuzieren.


    :hello:


    JR

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

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