Musik: Wirkung und Gewohnheiten

  • Werte Forenser und Forensalesen,


    nachdem ich den Thread mit der Aufbewahrung von CDs gestern entdeckte, registriert habe, wie viele CDs manch einer von Euch besitzt, immer wieder Eure Aussagen zu klassischer Musik lese:
    In diesem Thread würden mich Eure Hörgewohnheiten interessieren: Welche Musik hört Ihr wann oder bei welcher Gelegenheit, wie bewusst nehmt Ihr sie dann wahr, auf welche Art hört Ihr die Musik*, welche Wirkung hat sie auf Euch ...


    Das wäre für mich auch deshalb von Bedeutung, da ich Eure Aussagen mit Schülern (die nicht unbedingt Klassik-Hörer sind) reflektieren könnte. Des weiteren fand ich den gestrigen „CD-Aufbewahrungsthread“ auch deshalb gut, weil man zudem etwas ‚Persönliches’ über einzelne TeilnehmerInnen erfährt, von denen man immer wieder im Forum liest.



    * Übrigens: Was das Musik-Hören betrifft, so unterscheide ich mit Schülern folgende Arten des Hörens:


    motorisch: der Bewegung dienend, körperlich; sich bspw. dem Rhythmus hingeben
    vegetativ: dem Willen nicht unterliegend, unbewusst
    emotional: gefühlsmäßig; sich seinen Gefühlen hingeben
    assoziativ: mit Vorstellungen verknüpfend
    analytisch: intellektuelles Erfassen d. objektiven Eigenschaften von Musik (über den "Kopf")
    meditativ: ganz "bewusst" hören, im Hören aufgehen, das Hören "sein"
    synästhetisch: Verbindung der Höreindrücke mit anderen Sinneseindrücken, die durch nichtspezifische Reize erzeugt werden ("Mit"-Erregung eines Sinnesorgans, z. B. subjektives Wahrnehmen optischer Erscheinungen bei akustischer Reizwirkung)


    Aber so spezifisch unterschieden muss das in diesem Thread ja gar nicht zugehen: Es geht ja vielmehr darum, unsere alltäglichen Gewohnheiten im Umgang mit (dem Hören von) Musik darzulegen und ‚preiszugeben’, was die Musik mit uns macht...


    In diesem Thread geht es übrigens nicht um das einzigartige, erhebende Erlebnis o. ä., vgl. den Thread "Mein besonderes Erlebnis mit Musik".


    Ein schönes Wochenende wünscht


    der Wandergeist :hello:

  • Es gibt viele Gewohnheiten in Bezug aufs Hören klassischer Musik, auch viel Unarten - die ich hier aber nicht gestehen werde, wie beispielsweise in meiner Jugend das "mitdirigieren" daheim beim Hören.


    Weil wir bei meiner Jugend sind: Ich bin damlas mehrmals pro Woche ins Konzert gegangen, weil ich auf Grund einiger Zufälle mit Freikarten regelrecht überschüttet wurde.


    An sich habe ich relativ wenig Geld in Livekonzerte investiert, ich war ein Schallplattensammler seit ich 15 und ein CD Sammler seit ich 33 bin.
    Mir war wichtig die Musik zu BESITZEN - für alle Ewigkeit - was natürlich heissen muß: bis ans Lebensende.


    Früher hörte ich vorzugsweise über Lautsprecher - und das eigentlich bei (fast) jeder Gelegenheit - und ein bis 3 mal in der Woche (auch nach einem Konzert - ich bin eine Nachteule) kam ein Bekannter zu mir oder ich zu ihm - und wir hörten gemeinsam bis spät in die Nacht.
    Das habe ich alles inzwischen mehr oder weniger aufgegeben, solche Sitzungen finden nur noch sehr selten statt.


    Irgendwann war ich dann für eine gewisse Zeit gezwungen mittels Kopfhörer Klassikzu hören - und als die Phase dann vorbei war gelang es mir nicht mehr mit Genuss auch LAutsprecher umzusteigen - ich ertrage einfach die Verfärbungen (auch guter) Lautsprecher nicht.


    Mein Schallwandler ist also der Kopfhörer, wobei AKG 500 (ich besitze auch 501 und 701) mein absoluter Favorit ist, weil er durchsichtig und tonfarbentreu klingt.


    Abgesehen von vielen anderen Gelegenheiten höre ich auch sehr oft am Computer mittels KH klassische Musik, vortzugsweise jene, über die ich gerade einen Threadbeitrag verfasse - um mich einzustimmen.
    Heute war Raff an der Reihe - Was noch kommt, das wieß ich nicht.


    Generell habe ich in letzter Zeit mehr CDs gekauft und weniger gehört.
    Das wird sich ändern. Da ich seit über einem Jahr wegen Ruinierung/Renovierung meiner Wohnung nur beschränkten Zugang zu meiner CD-Sammlung hatte -bin ich ausgehungert auf meine CDs wie ein Wolf - Hören Wölfe überhaupt klassische Musik ??


    Ich reagiere mir sehr gerne Agressionen und Depressionen mittels klassischer Musk ab -und es funktioniert meistens, wenn auch nicht immer.


    mfg aus Wien


    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Liebe Taminoeaner/innen
    Ich war 13 und nach einer Kinderlähmung zur Kur im Sauerland. Der dortige Gruppenleiter hatte den Ehrgeiz uns Rasselbande außer Pfadpfinder/ Fußball etc auch klass. Musik nahezubringen. Von gut 15 Jungs warens dann zwar plötzlich nur noch 3 oder 4, die ihre Ohren für was Neues öffnen mochten: für DVORAKs "Sinfonie aus der Neuen Welt". Zu Hause hatte ich im Radio der Eltern zwar einige Male Operettenlieder mit Herbert Ernst Groh, Rupert Glawitsch u.a. gehört. Na gut...ABER JETZT gab die e-moll Sinfonie nicht nur ein unglaubliches Aufbruchssignal für (inzwischen über) ein halbes Jahrhundert elementarer Erlebnisse mit großer >Wirkung< .............auch mit Folgen....gegen die mir die ganzen Hollywood Fantasy-Schinken-Welt als eher blutarme Kost vorkommen. Nun haben wir Musik-Fanatiker in doppelter Hinsicht, den Genuß, wie auch manchmal den Schaden oder die Nebenwirkung. Ich erinnere mich nach einer atemberaubenden 7. Beethoven mit Markevitch-Sohn Oleg Caetani (vor ca 20 Jahren in Frankfurt) völlig durchgeschwitzt, fasziniert, begeistert, fast geprügelt und letztendlich einfach nur überwältigt und glücklich gewesen zu sein. Es war ein Körper-Seele Genuß in Vollendung. Aber wer kennt nicht auch die "Nebenwirkung", daß der Ohrwurm nicht mehr aus dem Kopf rausgeht und eine Situation entsteht, wo man Angst hat verrückt zu verrückt zu werden...wo es zumindest zu einer krisenhaften Zuspitzung kommen kann. Wenn jemand mehr der Action fröhnt und noch so viel Action, Action sehe würde, die innere krisenhafte Zuspitzung wird wahrscheinlich nicht nicht ähnlich sein,................. wie wenn mich das Tristan-Motiv z.B. ein halbes Jahr verfolgt.
    Mit den Wirkungen / Nebenwirkungen fallen mir einige Beispiele ein, die ich nie vergessen werde. Wie die Überschrift schon sagt: Serkin, (sen) den ich in Hamburg Ende der 60ziger zwei Mal gesehen habe, (später noch in Frankfurt nicht mehr ganz auf der Höhe) ging mit seinem Flügel um, wie Mastroinni mit den Frauen. Er liebkoste die Tasten und versenkte sich auf sie, er wies sie von einer Sekunde auf die andere schroff zurück, als ob er den Nebenbuhler oder die Bedrohung spürte. Das war nicht nur zu keiner Sekunde nicht "beliebig", sondern es war dies auch die sichtbare großartige Auseinandersetzung mit dem Werk, die um noch einmal Mastroanni ins Spiel zubringen, bei der mit dem geliebten "Medium" hautnah gerungen wurde, die differenziertesten Töne dem Instrument abgerungen und entlockt wurde wurden......und machmal bezirzte er seinen Flügel sogar. Unvergeßlich: A-Dur op. posth Schubert aber auch Beethovens großes Opus 106 (Hammerklavier).
    Beim Rausgehen hörte ich eine begeisterte alte Dame beglückt sagen: DER HAT HEUT ENDLICH MAL IN DEN FLÜGEL GEBISSEN.


    Gruß....................................."Titan"

  • man wird älter
    ich höre heute musik vor allem zum schlafen
    :D


    tatsächlich gibt es eine änderung - nebenbei hören war bei mir früher verpönt, jetzt mache ich das, um mich an neue stücke zu gewöhnen
    also "vegetativ" zum frühstück, zum nachmittagsschläfchen
    "nervend" zum aufstehen, damit ich nicht wieder einschlafe, sondern mich doch allmählich aus dem bett schäle


    wenn ich einmal eine konzentrierte "sitzung" hinkriege, dann wird es eine mischung aus emotional und analytisch mit vegetativen aussetzern


    wirkung ... hm, schwierig ... befreiung?

  • MUSIK und GEWOHNHEIT
    In einem Radiosketch fragte jemand seinen Therapeuten:
    Gestern habe ich zum 729. Male den Liebestod gehört,
    werd ich nun verrückt ???
    Der Therapeut antwortete: Ich bewundere und beneide Sie, denn Sie müssen die Tristan-Musik sehr lieben, sonst hätten Sie diese nicht so häufig gehört...................und masochistische Tendenzen hab ich bei Ihnen bis jetzt nicht feststellen können.
    Er setzte fort: Mir ist allerdings aufgefallen, daß Sie mir diese Frage am Ende Ihrer dreijährigen Therapie wegen Ihrer Zwangssymptomatik stellen............. und das, nachdem Ihre letzte Therapiestunde leider ausfallen mußte, da man Ihnen mitgeteilt hatte, daß ich wegen einer Flugzeugverspätung nicht rechtzeitig aus Verona zurückkommen konnte.
    Unter Tränen erwiderte der Patient: Sie sind wirklich ein sehr sehr guter Therapeut, denn seitdem ich bei Ihnen Therapie bin, mußte ich diesen grausamen Triumphmarsch nicht mehr täglich hören.


    Liebe Tamioenaer/innen
    Drei der im "Radiosketch" genannten Fakten treffen auf mich zu. Nr 1 wird nicht verraten, denn er ist leicht zu erraten.
    Nr 2 : In Zusammenhang mit einem "THREAD" >>welche Aufnahmen man am meisten besitze<<, hatte ich vor einigen Wochen eine Ziffer angegeben, die zwar unter 729 bei den TRISTANs liegt (ganz so schlimm ist es doch nicht)...............WAS mich mehr als des Patienten Problem allerdings interessiert, denn ich bin am TRISTAN offensichtlich noch nicht ganz irre geworden,................ist in Zusammenhang mit WIRKUNG (gestern hatte ich über Serkins "Flügelhunger" geschrieben) und
    GEWOHNHEITEN:
    UNSER aller Gebaren in einem Konzert oder Opernhaus:
    Z.B. hieß es vor der Gielen Ära oft in Frankfurt: wir wollen uns in der Oper gut unterhalten lassen und amüsieren.....
    während seiner "Umwalzungsära" sagte eine alte Dame nach einer Aufführung der Berghaus'schen "Entführung" (Dirigent Gielen)
    "Soweit ist es gekommen : EIN JUDE DIRIGIERT (seitdem sagt MG bei entsrechenden Gelegenheiten, daß er Jude sei)
    EINE KOMMUNISTIN führt Regie (Ruth Berghaus)
    und eine Scvhwarze singt die.........(?) (Faye Robinson, leider vor kurzem verstorben)
    Doch nehmen WIR, daß was UNS vielmehr, weil bei fast jedem Konzert/Theaterbesuch kirre und auch böse macht oder nur sprachlos oder entsetzt:
    Geflüster, sogar richtige Unterhaltung während der Ouvertüre/Introduktion


    Die 2-3 Minuten dauernde Entblätterung keines Gänseblümchens , sondern eines BONBONS, besonders rücksichtsvoll, denn es passiert mit Vorsicht !!!


    Das Husten, Räuspern der Publikumsbanausen die die Oper/das Werk offensichtlich überhaupt nicht kennen und z.B. an den leisen oder langsamen Stellen anfangen zu husten


    Euch werden sicherlich aus eigenen Erlebnisse zu diesem PHAENOMEN der "Hörkultur" oder "Manierenentgleitungepoche" :.) noch gute Beispiele einfallen.


    Also der Hintergrund meiner "Überschrift": KEMPF und die ALTE DAME
    bezieht sich auf ein Konzerterlenis im Kieler Schloß (1967 ??)
    Ich saß an der Seute ziemlich weit vorne, Kempff war ca 80 (1890 geboren?)
    Das op.28 (Pastorale) stand wohl am Beginn auf dem Programm...recht zurückhaltend begann er immer seinen Auftriit, nie nach der "Devise:"Schaut her ich bins",.....und es passierte mir zum 2. Mal bei ihm, was seit Kiel unvergeßlich für mich geworden ist:
    Konzentrationsphase v WK---Husten in der 1. Reihe (altere Dame)- WK guckt hoch, aber nicht ins Publikum, bleibt in seiner noblen-aristokratischen Manier äußerlich gelassen...hebt die hände um zu Beginnen---2. Husten in der 1. Reihe..
    ...........................................der Maestro schwenkt seinen Kopf sehr langsam in die Richtung des Geräusches, eher noch entspannt reinguckend...und: der 3. Husten kommt aus der 1. Reihe. Eine Minute passiert NICHTS....aber ich meine, eine kleine Unruhe im Publikum zu spüren...........


    Langsam erhebt sich Wilhelm Kempff, gebannt richten sich alle Blicke auf ihn
    Sehr langsam geht er an die Rampe:
    "Gnädige Frau?"
    Seien Sie bitte So liebenswürdig und sagen Sie mir wann ich beginnen darf. (?)


    Es grüßt......"Titan"

  • Banner Trailer Gelbe Rose
  • Mir geht es genau umgekehrt wie Alfred. Ich bin vom Kopfhörer weg (sehr guter von Sennheiser - glaube HD 560 oder so) und höre nur noch über Lautsprecher (Audio Physik mit Subwoofer).


    Ich leide weder an Agressionen noch Depressionen. Dann würde ich zum Arzt gehen. Das Anhören oder hören und sehen (DVD) von klassischer Musik versetzt mich immer in eine Glücksstimmung, auch wenn meine "Regierung" das nicht immer versteht, es aber stillschweigend duldet (nur nicht zu laut und Wagner bitte nur, wenn sie nicht in der Wohnung ist - also immer wenn sie berufstätig - noch 4 Jahre - unterwegs ist). Ich werde die Zeit noch genießen.


    Gemeinsames Hören und Vergleichen und dem Versuch, mitzusingen, habe ich mit meinem Freund, als wir noch Junggesellen waren, jeden Samstag bis in die Nacht ausgekostet. Es war, was die Musik anbetraf, die schönste Zeit. Ich möchte die vielen Stunden, die mich um den Schlaf gebracht haben, nicht missen.


    Frust kommt immer nur dann auf, wenn ich Aufnahmen mit alternden Sängern höre und mich frage, warum sie nicht aufhören können. Neulich in einer Kirche ein kleines Konzert mit Kollo. Die Höflichkeit verbietet es, dazu etwas zu sagen. Im Alter wird man milder. Kopfschütteln oder leichtes Grinsen genügt auch.


    Herzliche Ostergrüße aus Burgdorf



    ______
    O nicht diese Töne, sondern lasst uns
    angenehmere anstimmen und freudenvollere !


    "Nicht weinen, dass es vorüber ist
    sondern lächeln, dass es gewesen ist"


    Waldemar Kmentt (1929-2015)


  • Lieber Wandergeist,


    wenn ich Deine Auflistung lese, würde ich mich - je nach Anlass - entweder der analytischen oder der meditativen Ecke zuordnen. In den letzten Monaten habe ich viel Vergleichshören durchgeführt, viel Verdi, Beethoven, Mahler. Demnächst Schubert - Streichquintett und Winterreise. Das ist sicher eher analytisches Hören. Außerdem auch französische Oper - für mich neu, darum "neugieriges" Hören.


    Ich freue mich schon darauf, demnächst einen neuen CD-Player zu haben. Dann gibt es mal wieder Bruckners 8. und 9. mit Celi und Wand - meditatives Hören pur.

  • Die Kategorien sind sehr spannend. Allerdings fehlt mir was. Wir machen Dinge selten auf einer einzigen Ebene. Was tut einer, der über einen Pass fährt, laut mitsingend? Oder Tango tanzt zu einem Stück, das Jahre zuvor der Grund dafür war, die Schritte überhaupt zu lernen? Oder wie angewurzelt stehenbleibt, weil ein Salonensemble sein Lieblingslied aus der Zeit im Schulchor spielt? Emotional bis ekstatisch, aber auch assoziativ, teils rhythmisch, im Fall der Passfahrt wohl beschleunigend... Oder auf Youtube einen Künstler hört, der hier empfohlen wird, während er den nächsten Beitrag verfasst? Mich überfordert das letzte Beispiel manchmal; dann muss ich hier eine Pause machen und erst mal richtig zuhören, besonders wenn es Lieder sind mit Texten, die mich interessieren. Mit Philip Glass oder so ginge das besser.


    Musiktherapiert hab ich mich auch schon. Zur Pathétique lässt sich im Selbstmitleid schwelgen, milder Ärger verdampft bei Beethovens Fünfter, und vieles intensiviert die Gnade einer vorhandenen Heiterkeit. Den Arzt ersetzt das nicht, aber den brauchts auch nicht jedesmal.


    Die Aufnahmequalität ist für mich zweitrangig. Die Qualität des Musizierens nicht. Verhunzte jemand mein Lieblingslied aus der Zeit im Schulchor, würde ich die Flucht ergreifen.

    writing about music is like dancing about architecture