Wodurch ist Schuberts Ausnahmerang als Liedkomponist begründet?

  • Man stelle sich vor:
    Einer der berühmtesten Komponisten der Musikgeschichte einerseits, erfolglos in Sachen Sinfonie zu Lebzeiten andrerseits, kein Klavierkonzert, kein Violinkonzert stammt aus seiner Feder, seine Opern waren - zumindest zu Lebzeiten Flops, viele seiner Klaviersonaten sind unvollendet.
    Seine Lieder indes, von Zeitgenossen (Goethe) verachtet und verkannt, allenfalls im weiteren Freundeskreis geschätzt, zährlen heute als Parnass des Genres.


    Haydn, Mozart, Beethoven - und die zahreichen heute beinahe vergessenen Zeitgenossen - sie alle müßen sich an Franz Schubert messen lassen.


    Beim Anhören verschiedener Lieder von diversen Komponisten kann ich nicht umhin zu Fragen: Warum ??


    Die Texte seiner berühmtesten Lieder sind ja teilweise recht simpel gestrickt und von Poeten der zweiten und dritten Reihe.


    Was macht also Schuberts Ausnahmestellung aus ? - Bzw gibt es eine solche tatsächlich ?


    mfg aus Wien


    Alfred


    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Ja, diese Ausnahmestellung gibt es tatsächlich, sie ist offenkundig.


    Die Zeit des Biedermeier hat sicher dazu beigetragen. Die Menschen haben damals mehr nach "innen" gelebt; es wurde Hausmusik gemacht. Schubertlieder waren im häuslichen Bereich bestimmt leichter aufzuführen als eine Oper von Meyerbeer...
    Es war also Bedarf vorhanden.


    Simpel gestrickte Texte? Einfaches kann schön sein und ist es oft auch.
    Letztendlich hat Schubert u.a. Goethe und Heine vertont.


    Und Wilhelm Müller?
    Wenn man etwa um 1960 DIE SCHÖNE MÜLLERIN oder WINTERREISE im Konzertsaal hörte, wurde dieser Wilhelm Müller im Programmheft häufig als "nicht bedeutender Dichter" bezeichnet (die haben wohl voneinander abgeschrieben). Heute sieht man das etwas anders.
    Erika von Borries hat dazu ein recht interessantes Buch geschrieben; da kann man auch nachlesen, warum Goethe den Müller (vermutlich) nicht mochte...


    In der Nachfolge hat Schumann ja seinen Kollegen sehr verehrt und ebenfalls herrliche Lieder geschrieben, Gesangvereine wurden gegründet...


    Viele Dinge mögen dazu beigetragen haben, dass die Schubert-Lieder heute immer noch ihr Publikum begeistern. Dietrich Fischer-Dieskau und Hermann Prey haben sicher auch noch ihren Teil dazu beigetragen, dass das Kunstlied eine Renaissance erlebte. Genauso wie es deren Nachfolger aktuell tun. Die Herren Bostridge, Goerne, Prégardien und viele andere singen ja schließlich nicht vor leeren Sälen.

  • Ja- Aber es gab Franz Lachner - zu Lebzeiten als Liederkomponist (angeblich) ebenso geschätzt wie Schubert.
    Wenn man dieses Faktum kennt, und ferner weiß daß die beiden befreundet gewesen sein sollen (wie sehr, das entzieht sich momentan noch meiner Kenntnis), dann mutet das Statement von Franz Schubert aus dem "ein guter Komponist hätte werden können - wenn er nur länger gelebt hätte" -nicht mehr so herablassend und anmaßend an, es war anscheinend ein Statement eines erfolgreichen Komponisten im Zenith seines Schaffens, der sich als Schubert überlegen sah, und es vielleicht damals auch war....


    Indes- Lachners Lieder sind heute vergessen - oder vielmehr, sie sind davei wiederentdeckt zu werden. Inwieweit dies von Dauer sein wird, und wie die Klassikwelt die Entdeckung aufnaehmen wird - das wird die Zeit zeigen...
    Leider ist es ja so, daß solche Wiederentdeckungen nicht unbedingt von den führenden Liedersängern unserer Zeit ans Lich befördert werden, sodaß der Durchbruch in der Regel erschwert wird.
    Solte das Ergebnis nämlich nicht überzeugend sein, so ist es schwer, einen allfälligen Mangel der Komposition oder dem Sänger anzulasten....
    wo ist Ursache- wo Wirkung ?


    Weil weiter oben der Name Meyerbeer im Zusammenhang mit seinen Opern gefallen ist - er hat AUCH Lieder geschrieben . aber wer weiß das heute noch ?


    Egal - was immer es auch gegeben hat - und vereinzelt noch erhalten geblieben ist - es ist mehr oder weniger vergessen....


    mfg aus Wien


    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Ich könnte mir´s leicht machen und vorschlagen: Einfach mal Goethes "Gretchen am Spinnrade" laut lesen und dann sich die verschiedenen Vertonungen anhören (Spohr, Zelter, Schubert, Loewe, Wagner, von Pocci). Dann hat man die Antwort.


    Aber ein wenig konkreter. Es gibt ja die These des Musikwissenschaftlers Georgiades, Schubert sei nicht nur der erste, sondern der einzige (!) Komponist, der in seinen Liedern aus sprachlich lyrischer Struktur eine vollkommen adäquate musikalische Struktur geschaffen habe. Er belegt das inseinem Buch "Schubert. Musik und Lyrik" (Göttingen 1967) mit vielen sehr detaillierten Liedananalysen (darunter auch "Gretchen am Spinnrade"), und die sind überzeugend.


    Dennoch glaube ich, dass er zu weit geht, wenn er die Singularität Schubert ausschließlich mit dieser These begründet. Man schaue sich nur einmal die Mörike-Vertonungen von Hugo Wolf unter diesem Aspekt an, und man kann sehen und hören, mit welcher Genialität hier Lyrik in musikalische Struktur umgewandelt wird.


    Nein, es ist etwas anderes, was Schubert einzigartig macht und ihn aus der Reihe der anderen großen Liedkomponisten herausragen lässt: Ihm gelingt als einzigem und immer wieder auf wunderbare Weise die vollkommene Synthese von hochartifizieller musikalischer Struktur und volksliedhafter Schlichtheit der Melodie. Man könnte sagen, dass sich bei Schubert mehr als bei allen anderen das Kunstlied seine ursprüngliche Liedhaftigkeit bewahrt hat.


    Besser als ich hier hat das Hans Gal in seinem Buch "Franz Schubert oder die Melodie" ( Frankfurt 1970) ausgedrückt. Das folgende Zitat bezieht sich zwar auf das Seitenthema im ersten Satz der Unvollendeten, aber ich glaube, es gilt wohl auch für die Lieder Schuberts:
    "Das Außerordentliche bei Schubert ist seine schlichte Selbstverständlichkeit, die immer den Eindruck erweckt, als sei eine solche Melodie seit Erschaffung der Welt vorhanden gewesen." (S.67)

  • Zitat


    Original von Helmut Hofmann
    Ihm gelingt als einzigem und immer wieder auf wunderbare Weise die vollkommene Synthese von hochartifizieller musikalischer Struktur und volksliedhafter Schlichtheit der Melodie


    Ein guter Erklärungsversuch, und ich kann dem inhaltlich zustimmen.
    Trotzdem geht es über unsere Fähigkeiten, Erklärungen zu finden hinaus, wenn man an Schuberts Ausnahmestellung als Liedkomponist denkt.


    Zitat

    "Das Außerordentliche bei Schubert ist seine schlichte Selbstverständlichkeit, die immer den Eindruck erweckt, als sei eine solche Melodie seit Erschaffung der Welt vorhanden gewesen."


    Ja, und dies gilt m.E. nicht nur für seine Melodien, sondern auch für seine instrumentalen Textausdeutungen im Klavier.
    Die emotionalen Dimensionen eines Textes können bei einer guten Interpretation unglaublich direkt und verlustfrei beim Hörer ankommen und allein durch diese genialen Begleitungen verstanden und erlebt werden.


    Ich denke hier z.B. an den "Erlkönig" (Text:Goethe) des noch sehr jungen Schuberts (aber auch an viele andere Lieder...)
    Es ist wirklich in Noten gesetztes Grauen, man hört den wilden Ritt, man sieht "die alten Weiden", man spürt die Mischung aus Verführung und Gewalt in den Worten des Erlenkönigs und das Grausen des Vaters.
    Das kommt auch durch die Figuren und die harmonischen Fortschreitungen zustande, allerdings kann man da längst nicht alles musikerhandwerklich erklären; vor allem nicht, wie Schubert auf diese Ideen kam.


    Beim Hören empfinde ich jedesmal eine vollkommene, selbstverständlich wirkende Einheit von Text und Musik.
    So pathetisch es klingen mag, aber es stimmt nicht nur in diesem Fall:
    Der Text beginnt durch die Musik Franz Schuberts im Inneren des Hörers lebendig zu werden, und dies auf eine sehr spezielle Art und Weise.


    Gruss :hello:
    Glockenton

    "Jede Note muss wissen woher sie kommt und wohin sie geht" ( Nikolaus Harnoncourt)

  • Natürlich ist es nicht möglich, das "Wunder Schubert" hinreichend zu erklären. Das sehe ich ganz genauso wie Sie, lieber Liedfreund "Glockenton". Aber man kann dem Meister ein wenig auf die Finger schauen, studieren, wie er gearbeitet hat, damit man wenigstens ansatzweise versteht, was einen da so fasziniert.


    Da ist zum Beispiel die Tatsache, dass die Begegnung mit Goethes Lyrik für Schubert zum zündenden Funken wurde, der ihn erst zum herausragenden Liedkomponisten gemacht hat. Fragt man nach, wie sich das erklären lässt, dann sieht man: Es ist die erstaunliche Einfachheit der lyrischen Sprache Goethes und ihr liedhafter Fluss, der Schubert offensichtlich angezogen hat. Er fühlte sich ihr in ihrer fast schlichten Liedhaftigkeit wohl innerlich zutiefst verwandt.


    Und nun legte er nicht, wie Zelter etwa oder Zumsteeg, eine Art musikalisches Gehäuse darum, eine Verpackung, die den lyrischen Text transportiert, sondern er schmiegte sich an ihn an, schlüpfte regelrecht in ihn hinein und brachte die Lyrik als Sprache zum Klingen.
    Die eigentümliche Erfahrung, die man häufig bei Schubertliedern macht, dass man nämlich meint, so und nur so könne dieser dichterische Text vertont werden, hat wohl darin seine Ursache, dass Sprache und Musik eine vollkommene Einheit eingegangen sind, bei der die eine der anderen ihr ganzes Wesen, ihren ganzen inneren Gehalt mitgegeben hat, so dass daraus ein gänzlich neues, künstlerisch autonomes Gebilde werden konnte. Musikalisch-lyrische Struktur eben!


    "Über allen Gipfeln / Ist Ruh", - einfacher geht´s sprachlich nicht mehr. Über das scheinbar banale "ist" hat sich sogar einmal der große Philosoph Heidegger ausgelassen, es durch andere Wörter ("herrscht", "waltet" u.a.) zu ersetzen versucht, um schließlich festzustellen: Es geht nicht!
    Und Schuberts Melodie ist von der gleichen Einfachheit wie die Sprache Goethes, erhebt sich nur bei "Gipfeln" ganz leicht, um bei dem dunklen "Ruh" wieder zurück zu dem Ton zu finden, mit dem sie eingesetzt hat, und damit zu sich selbst zu kommen. Diese Bewegung wiederholt dann noch einmal, allerdings greift die Melodie bei "Wipfeln" ein wenig weiter aus, zögert leicht in ihrem Fluss bei "spürest du", um bei "Hauch" dann wiederum zur Ruhe zu finden.
    Es ist ein wunderbares, fast naturhaft wirkendes Atmen, Fließen und Strömen, in das man als Hörer wie magisch einbezogen wird. Sprache ist hier wahrlich vollkommen zur Musik geworden.


    Zu Recht hat Alfred Einstein festgestellt, dass Schuberts Lied die "schönste der Hunderte von Vertonungen dieses Gedichts" sei. Wieder einmal ein schöner Beleg für das Ausnahmephänomen Schubert!


  • Hallo Helmut Hofmann :)


    Sehr, eloquenter, schöner und inhaltlich schlüssiger Beitrag, danke!


    Nebenbei gesagt: Ich habe irgendwo gehört, dass Schubert dem Goethe einige seiner wunderbaren Vertonungen in der Hoffnung auf eine Reaktion des Dichterfürsten geschickt habe.


    Dieser habe es jedoch noch nicht einmal für nötig gehalten, in irgendeiner Form zu antworten, geschweige denn sich zu bedanken.


    So kann es gehen im Leben...


    :hello:
    Glockenton

    "Jede Note muss wissen woher sie kommt und wohin sie geht" ( Nikolaus Harnoncourt)

  • Es freut mich, lieber Glockenton, dass Dir mein Beitrag gefallen hat, wie ich mich überhaupt über jede Reaktion vonseiten der Forianer freue, auch wenn sie kritisch oder gar ablehnend sein mag.


    Es stimmt, was Du gehört hast. Im April 1816 schickte Schuberts Freund Josef von Spaun sechzehn Goethe-Vertonungen nach Weimar, versehen mit einem von ihm verfassten Begleitschreiben (das sehr unterwürfig war). Es kam keine Antwort. Später wurde Schubert dieses Heft, das er selbst geschrieben hatte, aus Weimar kommentarlos zurückgeschickt.


    Das Verhältnis Goethes zu Schubert ist ein Kapitel für sich, und es ist ziemlich kompliziert. Auf einen schlichten Nenner gebracht könnte man es so charakterisieren:
    Für Goethe ist Schubert zu frei mit seinen Gedichtebn umgegangen. Musik hatte für ihn in bezug auf Lyrik eine rein dienende Funktion. Sie durfte sich nicht anmaßen, in den sprachlichen Text im Sinne einer Interpretation einzugreifen. Deshalb fand er die Vertonungen Zelters sehr gut, und die von Schubert waren ihm ein Graus.


    Nur zwei Belege.
    In einem Brief an Wilhelm von Humboldt (14.3.1803) stellte er zum Thema Liedkomposition fest, "durch ein sogenanntes Durchkomponieren" zerstöre man "den Eindruck des Ganzen durch vordringende Einzelheiten."
    Und in einem Brief an seine Frau Christiane (Sept. 1815) meinte er, Schuberts Art zu komponieren brächte die Musik als "das unschuldigste und angenehmste Bindungsmittel der Gesellschaft" in Gefahr.


    Goethe hatte ein sehr konventionelles Liedverständnis. Lieder sollten, hieß es damals in einer weitverbreiteten Sammlung "artig, fein, naiv und nicht so poetisch sein, dass sie die schöne Sängerin nicht verstehen kann".


    Noch zehn Jahre nach der Komposition von "Gretchen am Spinnrade" konnte man in einer Kritik der "Allgemeinen Musikalischen Zeitung" lesen: "Herr Franz Schubert schreibt keine eigentlichen Lieder und will keine schreiben ..., sondern freye Gesänge, manchmal so frey, daß man sie allenfalls Capricen oder Phantasien nennen kann."


    Über so etwas kann man heute nur noch den Kopf schütteln.

  • Leider ist unser Schubert-Bild immer noch durch Vorurteile, die schon die Zeitgenossen prägten (vgl. auch dummen Ausspruch von F. Lachner) getrübt, die die Rezeption des Ausnahmewerks beeinflussen und erschweren. Man sollte eigentlich die Urteile der Zeitgenossen nur noch als historische Fakten (und/oder Legenden) zur Kentnnis nehmen und sich zB. aus, soweit möglich, "neutraler" Sicht die Umstände, Bedeutung, kompositorischen Leistungen im Liedschaffen klar zu machen versuchen. Hierzu die hoch empfehlenswerte Referenz: Artikel 'Die Lieder' von Marie-Agnes Dittrich im Schubert Handbuch, Bärenreiter 1997 (offenbar leider vergriffen). Neben Grundsätzlichem, zB. Strophenlied vs. durchkomponierte Gesänge, "Mitsprache des Gefühls", Klavier als "Person", Form, Rhythmus, Melodik, Harmonik, Satztechnik, Textwahl ua. werden auch zahlreiche einzelne Werke kurz besprochen. - Bemerkenswert bleibt, dass Franz Schubert die ganze aktive Lebenszeit Lieder komponiert hat, sich demnach immer sicher war und keine sog. "Krisen" in dieser Gattung je erlebt hat (im Gegensatz zur Sinfonie, zB.)

  • Schuberts Liedkomposition verschmilzt mit dem Text zu einer Einheit; man gewinnt beim Hören den Eindruck: nur so kann dieses Gedicht klingen. Das ist das Geheimnis des Wunders Schubert. :angel:

    Freundliche Grüße Siegfried

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  • Hat aber nicht Goethe - nach einem Vortrag des Erlkönigs durch die Schröder-Devrient - selbst sein Schubert-Urteil revidiert?


    Vielleicht nehmen wir den Schubert-Stil als zu selbstverständlich gegeben hin. Wie mögen an Zelter geschulte Stimmen sich mit Schubert abgemüht haben?


    Selbst Schuberts Freunde konnten an der Winterreise allenfalls den Lindenbaum goutieren.


    Goethe kultivierte eine befremdliche Neigung zu klassizistischer Zurückhaltung, die in der tödlich besonnenen Note seiner Prosa ebenso zum Ausdruck kommt wie in seinem Geschmack für Malerei. Die destruktiven Tendenzen romantischer Subjektivität hielt er nach seinem "Werther" für überwunden.


    Schubert, für mich einer der Wegbereiter Wagners, läßt seine Formvollendung oft in einer Tendenz zur Entfesselung kulminiern. Man höre etwa "Grethchen am Spinnrad" (gesungen von E. Schwarzkopf) - so exaltiert dürfte es auf der Bühne niemals gesprochen werden; Schubert macht ein Stück purer Hysterie daraus (man nehme bloß die Klimax der mehrfach wiederholten Schlußzeile, die mit fast peinlichem Effekt auf "vergehen" liegt).


    Schubert arbeitet hier mit äußerster Schlüssigkeit und Präzision heraus, was bei Goethe mehr unterschwellig mit angelegt war. Kein Wunder, daß dieser Komponist dem Dichter unheimlich sein mußte.

    Zerging in Dunst das heilge römsche Reich


    - uns bliebe gleich die heilge deutsche Kunst!

  • Es ist schon erstaunlich, was man hier im Forum zuweilen lesen kann. Manches verschlägt einem die Sprache, manches ist schlicht unzutreffend und manches wirkt wie ein äußerst heftiger Stoß, mal gefälligst nachzudenken.
    Gut so!


    Ein paar Anmerkungen und Fragen zum Beitrag farinellis:
    Goethe hat seine Meinung zu Schubert nicht geändert. Es gibt dafür keinerlei Belege in seinen Briefen und den sonstigen Quellen, über die wir verfügen.
    Beim Vortrag des "Erkönig" durch Schröder-Devrient war er, da ist der Quellenbeleg eindeutig, von dem beeindruckt, was diese große Sängerin konnte (und da war er bekanntlich nicht der einzige).
    Wir erfahren, dass er sie danach auf die Stirn küsste und sagte, so(!) vorgetragen, gestalte sich das ganze zu einem sichtbaren Bilde. Mehr sagte er nicht.
    Goethe ist seiner Auffassung über das durchkomponierte Lied sein Leben lang treu geblieben.
    1803 schreibt er an Wilhelm von Humboldt:
    "Er (gemeint ist Zelter) trifft den Charakter eines solchen, in gleichen Strophen wiederkehrenden Ganzen trefflich, so dass es in jedem einzelnen Teile wieder gefühlet wird, da wo andere, durch ein sogenanntes Durchkomponieren, den Eindruck des Ganzen durch vordringende Einzelheiten zerstören."


    Dass Schuberts Freunde nur den "Lindenbaum" goutiert hätten, ist in dieser Formulierung schlicht falsch. Das gilt nur(!!) für die Lieder der Winterreise. Es gibt gar nicht so viel Platz hier, dass ich alle überlieferten Belege für die Hochschätzung der Lieder Schuberts durch seine Freunde abdrucken könnte.
    Nur eine Anmerkung dazu.
    Josef von Spaun schreibt in seinen Erinnerungen, dass Schubert "im Lied unübertroffen" dastehe. Und er fährt fort: "In dieser Art von Kompositionen hat er seinen Ruhm erreicht, den er mit niemandem teilt."


    Zu der Feststellung, Schubert habe aus "Gretchen am Spinnrad" "ein Stück purer Hysterie gemacht" kann ich nichts sagen. Das hat mir die Sprache verschlagen.
    Vielleicht, wenn man sich schon nicht die Mühe macht, die Komposition genauzu studieren, ein Tip:
    Das Lied nicht in der Interpretation von Elisabeth Schwarzkopf hören , sondern in der von Kathleen Ferrier.
    Von Hysterie ist da nichts zu spüren. Nur sehr viel von einer Erschütterung durch eine Liebe, die wie das Ungeheuerliche schlechthin in die kleine, geordnete Lebenswelt eines einfachen Mädchens hereinbricht.
    Ich kenne insgesamt sieben Vertonungen dieses Gedichts. Die von Schubert steht in einsamer Höhe über allen!


    Frage:
    Was ist eigentlich der "Schubert-Stil"?
    Daran rätsele ich schon so lange herum, wie ich Schubertlieder höre.
    Und was heißt "selbstverständlich" in diesem Zusammenhang?
    Ich sitze eben gerade an einem Vergleich von Schuberts "Vertonung" von Goethes "Nähe des Geliebten" mit der von Conradin Kreutzer. Wenn mir einer mal sagen könnte, was in diesem Fall der "Schubert-Stil" ist, würde ich ihm vor Dankbarkeit um den Hals fallen. Ich weiß es nämlich nicht.
    Ich weiß nur:
    Schuberts "Nähe des Geliebten" geht mir unter die Haut. Kreutzers "Nähe des Geliebten" ist ein äußerst kunstvolles Lied, das man sogar schön findet. Aber es geht mir eben nicht unter die Haut.
    Bin ich etwa einer von den völlig verkorksten Lied-Hörern, die, weil Schubert ihnen "selbstverständlich" geworden ist, die Qualität der Lieder anderer Komponisten nicht mehr objektiv einschätzen können?


    Was - und dies als letzte Frage - ist "die tödlich besonnene Note" der Prosa Goethes?
    Der Roman "Die Wahlverwandtschaften", um nur ein einziges Beispiel zu nehmen, wird von Walter Benjamin(!) als "beispielhaft für eine moderne Kunst" eingeschätzt, die sich in wachsendem Maße von der subjektiven Erlebnisaussprache entfernt."
    Goethes Sprache ist in ihrer kontrollierten "Besonnenheit" die Basis für die Großartigkeit dieses Werkes.


    Farinellis Beitrag hat mich verblüfft und in Staunen versetzt, obwohl er ja nur aus wenigen Bemerkungen besteht.
    Ich habe versucht, wortreich (und vielleicht ein wenig zu spontan) dazu Stellung zu nehmen.
    Schubert als Wegbereiter Wagners? Wieder so eine wundersame Feststellung. Im Augenblick ahne ich nicht, wieso er das sein könnte. Ich denke aber nach!
    Versprochen, lieber farinelli!

  • Lieber Helmut Hofmann,


    zum ersten: wenn ich schreibe, dann zumeist provokant und nicht, als hätte ich die Weisheit mit Löffeln gefressen, sondern um der Diskussion Stoff zu geben.


    Ich überzeichne oft, um einen Blickwinkel zu verdeutlichen - z.B. das mit der Gretchen-Hysterie. Ich hätte übrigens auch Elisabeth Schumann oder Anne-Sofie von Otter nennen können.


    Für meine Ohren entscheidet sich Schubert im Gretchen-Monolog für eine ariose Klimax, die den Rahmen der Figur - ein einfaches Mädchen, das seine Gefühle mehr aus sich herauspreßt, sprengt. "An seinen Küssen vergehen sollt" derart dreimalig ins Zuschauerhaus herausgeschrien ist für mich szenisch undenkbar; und es gibt der Figur hier durchaus eine Nuance des Unbefriedigten, des sexuellen Hungers, die nicht ganz der seelischen Not entspricht.


    Mit Schubert-Stil meinte ich hier vordergründig den oft ungewöhnlichen Umgang mit der lyrischen Prosodie (im "Erlkönig", wo das Staccato-Metrum in die Klavierbegleitung zurückgenommen wird; in "An den Mond" mit seinem entwaffnenden Auftakt und der quasi aufseufzenden Betonung des "wieder"; sogar in "Nähe des Geliebten", zumal zu Beginn, wo die Klavierintroduktion die Emphase des "denke" fast übertreibt (vom Sinn her müßte sie ein wenig stärker auf "Dein" liegen). Tendenziell wird da und dort bereits die Konventionen des Versmetrums gesprengt und die lyrische Sprache als naturalistische "Prosa" wörtlich genommen. - Im weiteren Sinne meinte ich mit Schubert-Stil jedoch die sznische Ausarbeitung selbst unscheinbarer Biedermeiergedichte, also den quasi musikdramatischen Rahmen, der sich von der intimen und konventionellen Liedvorstellung oft weit entfernt.


    Daß wir Goethe offenbar aus unterschiedlichen Perspektiven bewundern, muß kein Nachteil sein. "Tödlich" hier als Epitheton
    etwa zu "Verachtung", also die Haltung kennzeichnend, nicht als Wertung (wie zu "beleidigt"). :hello:

    Zerging in Dunst das heilge römsche Reich


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  • Da ich sowieso zum Monologischen tendiere, antworte ich mir mal selbst.


    Ich hatte den ganzen Tag während der Arbeit Muße, mir das mit dem Gretchen reinlich zurechtzulegen.


    Im Faust I finden wir Gretchen am Spinnrade als lyrische Interpolation, ohne Regie, etwa zwischen den beiden Gartenszenen (ich fasse das bewußt summarisch).


    Goethe baut die ariose Steigerung bewußt auf und bedient sich - auf die Semantik eines schlichten Mädchens heruntergebrochen - des Katalogs rhetorischer Liebes-Rühmung (Gang, Gestalt, Rede, Auge usw.)


    Wenn man an Cherubinos "Non so più"-Nöte denkt, kommt einem der Topos der Unruhe des Herzens so neu nicht vor.


    "Mein armer Kopf/ist mir verrückt usw." weist zwar unheilvoll ins Künftige, aber mehr als literarische Vorausdeutung denn als psychologische Manifestation an dieser Stelle im Drama. Gretchen ist ganz gesund.


    Hat man Schuberts Lied nie gehört, wird man vielleicht auch bei Goethe aus den beiden Schlußstrophen eine verzweifelte Vergeblichkeit heraushören, aber bezogen auf das : "Ach dürft´ ich fassen/ und halten ihn!/ und küssen ihn/ so wie ich wollt´" - Gretchen spürt, daß ihre Liebe diesem Mann nicht genug sein wird.


    Und nun zu Schubert!


    Nichts bei Goethe deutet bereits auf die fatalistische Symbolkraft des Spinnrockens hin. Dieses leer in sich kreisende, von dumpfen Pedaltritten getriebene Wirrsal ist der Wahnsinn, der Gretchen zerstört, der zerstückte Sinn, ist eine so tiefe, abgründige Verzweiflung und Ausweglosigkeit, die die Figur hier vor dem Hintergrund ihrer eigenen Tragödie überhöht und zusammenfaßt.


    Absolut bewundernswert die harmonische Ausweichung bei "seines Mundes Lächeln"; die Zäsur bei "Kuß" - genial wie der Gedankenstrich in Kleists Marquise von O...


    Und gegen Ende eben keine Lichtung, kein befreiendes Eingeständnis der Liebe, sondern ein entsetzlicher, schriller Aufschrei vor dem Zurücksinken in die grüblerische Nacht der Schwermut. Der Akzent liegt bewußt auf "vergehen", in einer Weise, die sich einem sprechenden Darsteller vollkommen entzieht. Schuberts Interpolation des trüben Refrains an den Schluß macht Sinn nur vor der Logik seiner Gretchen-Auslegung, die hart an der Schwelle zur Konzeptregie liegt (Transformation von Realistik in Symbolik; Überhöhung der Figur; Funktionalisierung der Einzelszene im Horizont der dramatischen Gesamtarchitektur).


    Schubert "verfehlt", wie ich finde, die schlichte Not der Figur; vielleicht ist die Szene so unglücksschwanger gar nicht gehalten und ausschließlich so fatalistisch gemeint - vielleicht ist Gretchen ja glücklich in ihrem Zustand, vielleicht lächelt sie über ihre Torheit, die schöner ist als das Spinnradschwingen.


    Das schmälert nicht den Rang dieser musikdramatischen Vision (die zuallererst die Grenzen Gounods fühlbar macht). Schubert hat keine Oper von Rang hinterlassen; doch seine Lieder eröffnen eine dramatische Dimension, deren musikalische Geschmeidigkeit und Flexibilität, deren Intensität und Timing von den größten Opernkomponisten kaum erreicht werden.

    Zerging in Dunst das heilge römsche Reich


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  • Hallo Schubert-Fans,



    Zitat:
    "Mehr als 700 Lieder hat der Romantiker Franz Schubert vertont, in gerade einmal 31 Lebensjahren. Eine ehrgeizige Edition macht nun auch Seltenes und Unvollendetes zugänglich - und zeigt, dass weniger wirklich oft mehr ist."


    Diese Tatsache allein begründet schon seinen Ausnahmerang. Im Übrigen sind für mich seine 3 bekannten Liederzyklen das non plus ultra.


    LG, Bernward


    "Nicht weinen, dass es vorüber ist
    sondern lächeln, dass es gewesen ist"


    Waldemar Kmentt (1929-2015)


  • So reizvoll es für mich wäre, lieber farinelli, in dialogischer Form auf Deine Beiträge einzugehen, - es geht nicht, und das aus drei Gründen:
    Ich möchte nicht unhöflich sein gegenüber den anderen Taminoianern, ich möchte nicht als das dastehen, was Du "Besserwisser" nennst, und ich muss alles, was ich hier sage, daran messen lassen, wieviel es zur Beantwortung der Frage beiträgt, um die es in diesem Thread geht. Diese Frage scheint mir ein wenig außer Betracht geraten zu sein.


    Aber zu Deinen Thesen zu "Gretchen am Spinnrade" ist doch etwas zu sagen, weil es mit eben dieser Grundfrage des Threads zu tun hat.
    Es geht nicht an, die musikalische Gestaltung der Gretchen-Figur durch Schubert an der Rolle zu messen, die Gretchen in Goethes Faust I spielt. Und zwar aus einem ganz einfachen Grund:
    Schubert hat, und das ist typisch für ihn, diesen lyrischen Text absolut genommen. Er hat ihn bei der Komposition nicht im Kontext der Goetheschen Tragödie gelesen. So etwas hat er niemals getan.


    Für die These, dass Schubert "die schlichte Not der Figur verfehlt" haben könnte, gibt es - von der musikalischen Binnenstruktur des Liedes her - nicht den geringsten Anhaltspunkt.
    Ich darf handfest und sachlich werden.
    Die schicksalhafte Not, in der sich Gretchen befindet, wird bei Schubert nicht nur durch die fast schon penetrante Rollfigur in der Begelitung suggerriert, sie wird dem Hörer vor allem auch durch die Harmonik nahegebracht, ja regelrecht aufgedrängt:
    Die fast grobe Wendung von d-Moll nach C-Dur im siebenten Takt, dann die Rückmodulation nach d-Moll ohne Leitton, die leeren Quintklänge, die erst nachträglich durch eine Terz zum Dreiklang ausgefüllt werden, - das alles lässt den Hörer die seelische Bedrängnis nachfühlen, in der sich dieses Mädchen befindet.


    Die Stelle in dem Lied, die Dich zu der - nach meiner Meinung gänzlich unangemessenen - Assoziation mit dieser Hysterie-These gebracht hat, gehört mit zu den großartigen musikstrukturellen Merkmalen, an denen dieses Meisterwerk Schuberts überreich ist.
    Wieder handfest und sachlich:
    Das Drehen des Spinnrades im Klavier setzt aus, in der Begleitung herrscht plötzlich eine überraschende Formlosigkeit, die Stimme bleibt auf einem hohen, von einer Dissonanz getragenen Ton hängen, --- und dann setzt das Spinnrad wieder ein, und zwar - das ist schlicht genial - s t o c k e n d!
    Was fühlt und denkt der Hörer?
    Die Spinnerin wird aus ihren Gedanken, die mit einem bedrückenden Wirrwar aus Glücksgefühlen, bösen Ahnungen und Schicksalsergebenheit bis zur Unerträglichkeit angefüllt sind, zurückgeholt in ihre kleine Lebenswelt, die von Arbeit und der Bewältigung des täglichen Lebens geprägt ist.
    Und prompt beginnt die Reprise.


    Das könnte man noch fortsetzen!
    Was will ich sagen?
    Dieses Meisterwerk ruht musikalisch in sich selbst, und es ist ein genialer Wurf. An Goethes Gretchengestalt im Faust will und darf es nicht gemessen werden, weil man dann seine Autonomie als musikalisches Kunstwerk ignorierte.


    Die Größe Schuberts - und seine Ausnahmestellung, wenn es die denn gibt, was hier noch zu beweisen wäre - gründet ganz wesentlich darin, dass er die sprachliche Struktur eines Gedichtes in eine eigenständige und autonome musikalische Struktur umgewandelt hat.
    Der sprachliche Text geht darin vollkommen auf. Es ist deshalb ein Unding, Schuberts Lieder nachträglich an aus der sprachlichen Ebene hergeleiteten und von außen an sie herangetragenen, also sekundären(!) Kriterien zu messen.

  • ________________________________________
    Lieber Helmut Hofmann, Du schreibst:


    "Es geht nicht an, die musikalische Gestaltung der Gretchen-Figur durch Schubert an der Rolle zu messen, die Gretchen in Goethes Faust I spielt. Und zwar aus einem ganz einfachen Grund:
    Schubert hat, und das ist typisch für ihn, diesen lyrischen Text absolut genommen. Er hat ihn bei der Komposition nicht im Kontext der Goetheschen Tragödie gelesen. So etwas hat er niemals getan."


    Ich kann meine entgegengesetzte These doch besser begründen.


    Absolut, d.h. als Rollengedicht genommen, entbehrt der Text doch sämtlicher Anhaltspunkte für eine derartige Ausgestaltung, wie Schubert sie vornimmt. Das illustrativ-symbolische Moment der Begleitfigur interpretiert Gretchen vor dem Hintergrund der Gretchentragödie. Solche Nöte, wie sie das Gedicht für sich genommen anspricht, Kleinmädchennöte des Verliebtseins, sind der Tragik des komponierten Stücks zu wenig angemesen.


    Empfehlung zum Selbstversuch: Man spreche die Szene lächelnd, aus übervollem (also schwerem) Herzen. Man lasse die Ruhelosigkeit im ungeduldigen Aufspringen und ans Fenster laufen sich entladen. Man betone alles so, als gestehe Gretchen hier ihr Innerstes nicht sich selbst, sondern ihrer besten Freundin ein. Man lasse sie diese Unruhe des Herzens von ganze Seele bejahen und Willkommen heißen.


    Man kann den Text mühelos so sprechen. Aber nicht Schuberts Lied singen.


    Aber wie schön, wenn wir zweierlei Auffassung sind - sonst wäre es doch langweilig!



    [

    Zerging in Dunst das heilge römsche Reich


    - uns bliebe gleich die heilge deutsche Kunst!

  • Eigentlich ist es ja eine Sache des gesunden Menschenverstands. Man muss gar kein Spezialist oder ein Liebhaber in Sachen Kunstlied sein, um zu folgener Schlussfolgerung zu kommen:


    Wenn man die These von der Ausnahmestellung eines Komponisten untersuchen und am Ende zu handfesten Ergebnissen kommen will, dann muss man ihn mit anderen Komponisten vergleichen.
    Mit Spekulationen und noch so klugen Anmerkungen zu diesem und jenem Lied Schuberts ist in der Frage, die mit dem Thread aufgeworfen ist, nicht wirklich etwas auszurichten.
    Schon gar nicht hilft es weiter, wenn man sich bei seinen Beiträgen nicht der Frage stellt, ob man mit seinen Ausführungen wirklich am Problem dran ist.


    Wir können natürlich die anstehende Frage hier nicht wirklich beantworten. Dafür ist sie viel zu komplex, und es wären hunderte von musikwissenschaftlichen Aspekten zu reflektieren.
    Was wir aber machen könnten, wäre dieses:


    Wir könnten einmal Schubertlieder, deren zugrundeliegender Text auch von anderen Komponisten vertont wurde, mit diesen Vertonungen vergleichen und hier vermerken, worin wir jeweils das Besondere der Schubert-"Vertonung" in diesem Fall sehen.
    Das muss ja keine differenzierte Analyse sein. Eindrücke, Mutmaßungen, Detail-Beschreibungen, mehr oder weniger formlos hier notiert ("gepostet" muss es, glaube ich, heißen), würden völlig genügen!
    Und am Ende wären wir in dieser Frage vielleicht alle ein wenig schlauer.
    Wäre doch schön! Oder?


    (Dem Drang, dies alles jetzt gleich wieder zu löschen, gebe ich nicht nach. Ich schicke es ab und beruhige mich mit dem Gedanken: Das Internet kann Gelächter nicht übertragen. Jedenfalls hier nicht.)

  • Ich habe Schuberts "Nähe des Geliebten" mit dem gleichnamigen Lied von Conradin Kreutzer verglichen. Folgendes kam dabei heraus:


    Goethes Gedicht hat eine monologische Grundstruktur. Sein Kern besteht aus dem Denken und Fühlen eines lyrischen Ichs, das sich in der immer wiederkehrenden sprachlichen Figur niederschlägt: Ich denke ..., Ich sehe ..., Ich höre ..., Ich bin ...
    Das Du vergegenwärtigt sich in diesem Monolog allererst, hat also, von der Textstruktur her gesehen, ein vergleichsweise minderes Gewicht.


    SCHUBERT greift mit seiner Komposition diesen texstrukturellen Sachverhalt voll auf.
    Der große melodische Bogen der jeweils ersten beiden Strophenverse legt den Akzent auf dieses "Ich denke", "Ich sehe" usw. und wandelt damit die monologische Struktur des lyrischen Textes in Musik um.
    Eine wichtige Funktion kommt dabei dem Klaviervorspiel zu. Es bewegt sich in akkordischen Achtelschlägen langsam auf die Tonhöhe hin, mit der die Singstimme einsetzt. Die tut das aber schon, bevor das Klavier die angestrebte Tonika erreicht. Auf diese Weise wird der Hörer in die Bewegung der Singstimme einbezogen, die sich als großbogige, relativ einfach konturierte Abwärtsbewegung darstellt.
    Aufgegriffen wird sie von einer zweiten melodischen Bewegung, die sich, weil ein kurzes Ausweichen auf eine tiefere Tonart erfolgt, wie das Hinführen auf einen Ruhepunkt anhört, der schließlich mit dem Ende der Strophe erreicht wird.


    Schubert folgt also mit diesen beiden melodischen Bewegungen dem lyrischen Text so eng wie möglich. Das hat zur Folge, dass sie eine relativ schlichte Struktur aufweisen.
    Er vertont den Text nicht, sondern er wandelt ihn in Musik um, und zwar restlos.
    Mit "restlos" ist gemeint: Die Verwandlung von sprachlichem Text in Musik erfolgt so, dass der Text sein Eigensein verliert. Er geht in der musikalischen Struktur so auf, dass er zwar weiter präsent ist, jedoch als Musik spricht.


    KREUTZER:
    Auch hier eine Bewegung der Singstimme von oben nach unten, die als großer melodischer Bogen über die beiden ersten Verse des Gedichts hinweggreift. Bei zweiten "Ich denke" wiederholt sich diese Bewegung aber nicht, sondern führt jetzt nach oben, um bei "in Quellen malt" einen Höhepunkt zu rerreichen.
    Die folgenden Strophen sind ähnlich angelegt. Es liegt jedoch, im Unterschied zu Schubert, keine streng strophische Komposition vor. Vielmehr wird jeweils dort modifiziert, wo eine bestimmtes Schlüsselwort des Textes das suggeriert, und zwar sowohl in der Singstimme wie im Klavier:
    Ein "Schlenker" bei "Ich sehe dich", ein Tonsprung bei "Staub sich regt", Einzeltöne in der Klavierbegleitung bei "im stillen Hain", ein pathetischer Aufschwung in der Singstimme bei "Ich bin bei dir", und das "O wärst du da!" wird wiederholt.


    Daraus folgt, und dies ist der entscheidende Punkt:
    Kreutzer komponiert nicht(!) konsequent auf der Ebene der Sprache, sondern sozusagen eine Stufe höher: auf der Ebene der Gefühle und Assoziationen, die die Sprache auslöst.
    Nur so lassen sich diese melismenartigen Bewegungen in der Singstimme erklären. Sie wollen musikalisch zum Ausdruck bringen, was an Affekten in der lyrischen Sprache vorhanden ist.
    Einfachheit und Schlichtheit der Melodie scheiden damit als Leitprinzipien der Komposition aus.


    Was ergibt sich daraus für unsere zentrale Frage, die nach der Ausnahmestellung Schuberts?
    Folgende Thesen kann man aus diesem Vergleich herleiten:


    1. Schubert vertont nicht, er verwandelt. Er wandelt den sprachlichen Text vollständig in Musik um, so dass in seinen Liedern Sprache als Musik spricht.


    2. Bei Schubert gibt es einen Primat der Melodie, die sich am Ideal volksliedhafter Schlichtheit orientiert.


    Natürlich kann man aus einem einzigen Liedvergleich keine solchen Thesen mit dem Anspruch von Allgemeingültigkeit herleiten. Deshalb sei darauf verwiesen, dass mindestens noch ein zweiter Liedvergleich gemacht werden muss.
    Meine Einladung zum Mitmachen gilt weiterhin, obwohl mir jetzt klargeworden ist, dass sie eigentlich eine Zumutung ist.


    Im übrigen möchte ich darauf hinweisen, dass sich diese beiden Thesen auf die Forschungsergebnisse zweier ausgewiesener Schubertkenner stützen können: Thrasybulos Georgiades und Hans Gal.

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  • Da es nun einmal so ist, dass man die Eigenarten des Schubertlieds nur zu fassen bekommt, wenn man Vergleiche mit anderen Komponisten anstellt, habe ich vier Lieder miteinander verglichen, die auf der Grundlage von Goethes "Wanderers Nachtlied II" ("Ein Gleiches" - "Über allen Gipfeln ...") komponiert wurden.
    Und zwar sind es die Kompositionen von ZELTER, SCHUBERT, SCHUMANN und LOEWE.
    Es ging dabei, und das möchte ich ausdrücklich betonen, nicht(!) um die Frage: Welche "Vertonung" ist die bessere? Es ging ausschließlich um die Frage, mit welcher Intention der Komponist an den Text herangegangen ist und wie er musikalisch mit ihm umging.
    Zunächst sollen hier nur die Ergebnisse zu Zelter und Schubert wiedergegeben werden. Die zu Schumann und Loewe folgen nach.


    ZELTER
    Das Lied ist mit "Ruhe" überschrieben.
    Zelter orientiert sich bei seiner Liedkomposition, grundsätzlich an den Prinzipien, die Goethe in zwei Briefen an ihn als überaus löblich hervorgehoben hat:
    Zelter habe "Wanderers Nachtlied" "auf den Fittichen der Musik so lieblich beruhigend in alle Welt getragen" (22.4.1814). Und:
    Es sei ihm gelungen, "den Hörer in die Stimmung zu versetzen, welche das Gedicht angibt" (2.5.1820).


    Hört man sich das Lied an, dann findet man auf der Stelle, dass Goethe sein Wesen haargenau getroffen hat.
    Das Klaviervorspiel ist so angelegt, wie es in der Arie damals üblich war: Die Begleitung der Singstimme wird im Sinne einer Einstimmung vorweggenommen.
    Die Gesangsmelodie entfaltet sich in einem ruhigen Ton, große Bewegung über mehrere Tonarten hinweg wird vermieden.
    Bei "kaum einen Hauch" entfaltet sie jedoch ein ausgeprägtes Melisma, das auf uns heute ein wenig aufgesetzt und gekünstelt wirken mag.
    Nach einer kurzen Pause setzt die Singstimme erneut ein. In einen recht lieblichen Ton wird sowohl das Schweigen der Vöglein als auch das "Warte nur" einbezogen. Letzteres wird zweimal wiederholt, wobei die melodische Linie bis zum "auch" hinabsinkt.
    Das Klaviernachspiel wiederholt die beiden letzten Takte des Vorspiels.


    Wichtig im Sinne der Fragestellung ist nun:
    Die musikalische Struktur des Liedes zeigt: Die Musik dient hier als Grundlage zur Präsentation des Gedichts. Sie trägt es, wie Goethe sagt, "auf ihren Fittichen".


    SCHUBERT
    Auch dieses Lied Schuberts ist wieder ein Beleg dafür, dass dieser Komponist lyrische Texte nicht vertont, sondern sie in musikalische Struktur umwandelt.
    Musik dient bei Schubert nicht als Gehäuse für den lyrischen Text, sondern sie ist das Medium, in das dieser eingeht, um sich auf neue Weise auszudrücken, in der Regel um zusätzliche Dimensionen erweitert.
    Die melodische Linie der Singstimme ist bei den ersten beiden Versen so schlicht wie diese selbst: Sie pendelt wie ein Psalm um drei Tonschritte.
    Erst mit "In allen Wipfeln" greift sie um eine Quart aus, völlig der Ausweitung der Perspektive im lyrischen Text entsprechend.


    Eine detaillierte Analyse der musikalischen Struktur kann und soll hier nicht erfolgen. An zwei Stellen soll aber gezeigt werden, was mit der These von der Verwandlung von Sprache in Musik bei Schubert gemeint ist.
    Über den Vers "Spürest du" komponiert Zelter einfach hinweg. Schubert aber will das, was hier sprachlich gesagt wird, in Musik umsetzen.
    Das Wort "spüren" muss in seinem semantischen Gehalt hörbar werden, ebenso das "kaum". Also setzt er einen deutlichen Akzent auf die Silbe "spü" und lässt die Silbe "rest" mit nur einer Sechzehntelnote versehen folgen.
    Und weil "kaum" eben nur eine Winzigkeit von "Spüren" beinhaltet, macht die melodische Bewegung hier nur einen Halbtonschritt.
    Musik gewordene Sprache eben!


    Beim sechsten Vers weicht Schubert sogar formal von der Textvorlage ab, um das, was diese sagt, besser in Musik setzen zu können.
    Aus "Vögelein" macht er "Vöglein", damit er auf den Umlaut einen längeren Ton setzen kann (eine punktierte Viertelnote). Und dies wiederum ist nötig, damit das Wort "schweigen" mit einem melodischen Schritt, der auf einer Viertelnote endet, einen besonderen Akzent erhalten kann.
    Weil er diesem "Schweigen" einen noch stärkeren Nachdruck geben möchte - damit man es hören(!) kann - wiederholt er das Wort sogar.


    Man könnte das noch fortsetzen, aber es ist unnötig.
    Wanderers Nachtlied II zeigt in seiner musikalischen Struktur ganz deutlich die spezifische Eigenart des Schubertliedes:
    Sprache beginnt bei ihm als Musik zu sprechen. Die Musik übernimmt damit eine ganz andere Aufgabe als bei Zelter. Sie ist mehr(!) als nur Gehäuse oder "Fittich" für den lyrischen Text.

  • Zwar glaube ich nicht mehr, dass das einer hier liest, was ich hier schreibe, aber ich möchte die Sache zu Ende bringen, weil ich überzeugt bin, dass es hier um eine für den Liedfreund wichtige Frage geht.


    SCHUMANN
    Dieses Lied gehört nicht zu seinen bekannten. Es ist mit "Sehr langsam" überschrieben.
    Die Klaviereinleitung besteht aus sechs Akkorden, wobei der letzte mit Bögen über zwei Takte angehalten wird. In diesen fügt sich die Singstimme ein, die sich in ruhigen Schritten aus Halb- und Viertelnoten voranbewegt, wieder nur von Klavierakkorden gestützt.
    Erst bei "Die Vöglein schweigen..." kommt Bewegung ins Klavier. Die Singstimme geht nach oben hin zu e´ und f´, verbleibt aber weiterhin in ihrer ruhigen Bewegung.
    Überraschend ist der Schluss. Das "Ruhest du auch" wird wiederholt, und die Gesangslinie bewegt sich dabei erwartungsgemäß nach unten. Bei letzten "auch" aber macht sie einen Tonsprung von d nach c´.


    Das Lied erinnert in dem überaus ruhigen Fließen der melodischen Linie viel eher an Zelter als an Schubert.


    LOEWE
    Seine Vertonung ist in ihrer musikalischen Struktur die schlichteste von allen hier besprochenen. Ein Blick in das Notenbild zeigt das: Durchgängig einfache Viertelakkorde in der Klavierbegleitung, sechs pro Takt. Nur an einer Stelle, nämlich in der Pause der Singstimme nach "schweigen im Walde", gibt es eine kleine Verzierung in der Begleitung, die mit "dolciss." überschrieben ist.
    Die durchgängigen Sechs-Viertel-Akkorde in der Klavierbegleitung suggerieren nahezu zwingend einen Wanderrhythmus, der dem Gehalt des Liedes freilich nicht angemessen ist, geht es hier doch nicht ums Wandern, sondern um die - durchaus ambivalente! - Erfahrung allumfassender Ruhe.


    Wichtig für die Fragestellung ist: In Loewes Vertonung ist der Musik die Funktion eines Kommentars zum lyrischen Text zugewiesen.
    Man kann das sehr schön daran erkennen, dass er immer dann, wenn ein Stichwort im Text das nahelegt, die melodische Linie folgen lässt: Sie geht hoch bei "Gipfeln" und bei "Wipfeln" und steigt beim "Schweigen der Vöglein" hinab in die Ruhe des Waldes.


    ZUSAMMENFASSUNG UND AUSWERTUNG
    Unter dem Aspekt "Intention der Komponisten" betrachtet, ergibt sich aus dem Vergleich ein Sachverhalt, den man eigentlich nicht erwartet hat, der aber ziemlich eindeutig ist:
    Grundsätzlich liegen Zelter, Schumann und Loewe intentional auf einer Linie, allerdings arbeiten sie mit ganz unterschiedlichen Mitteln.
    Alle drei wollen für die Aussage des lyrischen Textes, den Gehalt des Gedichts also, ein musikalisches Äquivalent schaffen.


    Zelter begnügt sich damit, eine musikalische Struktur zu schaffen, die in der Stimmung, die sie auslöst, dem Gedicht entspricht und es damit wie "auf Fittichen" zu tragen vermag.


    Schumann bleibt zwar auf dieser Linie, will aber mehr. Er will das Gedicht musikalisch ausdeuten, die feinsten Winkel seines Gehalts ausleuchten und diesen somit in seiner Expressivität verstärken.


    Auch Loewe will das. Dass er dabei danebengreift, ist weniger bedeutsam, als dass seine musikalischen Mittel dafür nicht ausreichen. Sie sind, um es einmal deutlich zu sagen, zu simpel.
    Wer das nicht glauben mag, der möge einmal die Noten der vier Lieder nebeneinander vor sich auf den Tisch legen und einfach draufschauen. Die Simplizität der Faktur springt einem bei Loewe regelrechts ins Auge. Bei Schumann und vor allem bei Schubert ist im Notentext "viel mehr los".


    Schubert setzt, im Unterschied zu den drei anderen, nicht primär am Gehalt, sondern am sprachlichen Text an. Man muss gar keine große Analyse machen, um das zu erfassen, man kann es nämlich hören. Man muss nur das Gedicht zweimal laut lesen und dann das Schubertlied bewusst in sich aufnehmen.
    Die für ein lyrisches Gedicht ganz ungewöhnliche sprachliche Einfachheit des Textes, diese fast parataktische Syntax mit ihren schlichten Feststellungen ( "ist" - "spürest" - "schweigen" - "ruhest" ), all das kann man Schuberts Lied ganz deutllich durchklingen hören.

  • Zitat

    Original von Helmut Hofmann
    Zwar glaube ich nicht mehr, dass das einer hier liest, was ich hier schreibe, ...


    Ich schon! Laß Dich bitte nicht entmutigen.



    Reinhard

    Einer acht´s - der andere betracht´s - der dritte verlacht´s - was macht´s ?
    (Spruch über der Eingangstür des Rathauses zu Wernigerode)

  • Lieber Helmut Hofmann,


    Du täuscht Dich.


    Ich habe Deine von großer Sachkenntnis geprägten Beiträge mit großer Aufmerksamkeit und noch größerer Zustimmung gelesen. Ich komme auf die Ausnahmeerscheinung Schubert im Lied aus meiner Sicht noch zurück; soviel allerdings heute schon:


    Zu Luthers Bibelübersetzung gibt es den Ausspruch, "er habe dem Volk aufs Maul geschaut".


    Schubert hat in einem Freundeskreis gelebt, in dem viel - ständig - musiziert und gesungen wurde. Seine phänomenale Begabung (+ Einfühlungsvermögen) und dieses "aufs Maul schauen" - ob bewußt oder aus reiner Intuition - hat dies zu seiner Ausnahmestellung in der Liedkomposition beigetragen?


    Herzliche Grüße


    zweiterbass

    Wer die Musik sich erkiest, hat ein himmlisch Gut bekommen (gewonnen)... Eduard Mörike/Hugo Distler

  • Danke, lieber Reinhard und lieber zweiterbass!
    Ihr könnt euch gar nicht vorstellen, wie sehr ich diesen Zuspruch gebraucht habe.
    Letzte Nacht war ich entschlossen, mit meinem Schreiben aufzuhören und den letzten Teil meines Liedvergleichs gar nicht mehr einzutragen. Meine Vorbemerkung war keine Rhetorik!

  • Zitat

    Original von Helmut Hofmann
    Zwar glaube ich nicht mehr, dass das einer hier liest, was ich hier schreibe, aber ich möchte die Sache zu Ende bringen, weil ich überzeugt bin, dass es hier um eine für den Liedfreund wichtige Frage geht.


    ....


    Schon alleine die Zahl der Aufrufe dieses Artikels widerlegen dich! Aber wenn du gerne liest, wie interessant deine Artikel sind, bitte! ;)

    Ciao


    Von Herzen - Möge es wieder - Zu Herzen gehn!


  • Lieber H.H.,


    auch ich lese Dich mit viel Interesse.


    Ich wertschätze Deine detaillierte Versenkung in die individuellen Tonschöpfungen; wenn ich auch nicht immer Deiner Meinung bin.


    Wenn ich bisweilen sarkastisch antworte, dann verletze ich Dich in Deiner beseelten Genauigkeit, was ich gar nicht möchte.


    Zum Nachtlied:


    Da hat mich der Schubert leider nie ganz überzeugt. Irgendwie kommt mir das Lied sehr "gemacht", sehr bewußt konstruiert vor, aber ohne innere Konsistenz, ohne Fluß. Am Anfang Terzen- und Sextenseligkeit wie im "Wirtshaus" der Winterreise. Dann die suggestiv schwankende Begleitfigur für den Windhauch. - Aber warum wird bei den Vöglein das "schweigen" zweimal genommen? Warum hier die aufblühende Kantilene, wo der Text ihr gar keinen Raum gibt, wo alles - vom ersten Vers an - Innehalten, Stockung, Spannung, Stille atmet?


    Die Vöglein schweigen,
    schweigen im Walde -


    Bei Schubert klingt das, als atme der Wandrer hier erleichtert auf; als fließe die Ruhe über die Wipfel in den Waldgrund zurück.


    - Die Hornrufe beim "Warte nur, balde" haben mich einmal dazu gebracht, zu behaupten, Schuberts Vertonung klänge, als habe Eichendorff das gedichtet. Ich bleibe dabei - es ist keine textnahe, sondern im Gegenteil eine sehr stark romantisierende Auffassung des (eigentlich unvertonbaren) Goethe-Gedichts. Und ich lese auch laut ...

    Zerging in Dunst das heilge römsche Reich


    - uns bliebe gleich die heilge deutsche Kunst!

  • Lieber Theophilus, lieber farinelli,
    ich stelle mit leichtem Erschrecken fest, dass ich mit meiner Vorbemerkung missverstanden worden bin.
    Das war kein fishing for compliments. Absolut nicht! Ich war entschlossen, erst einmal für einige Zeit das Tamino-Forum zu verlassen. Ich zweifelte am Sinn meiner Schreiberei hier und hatte ( und habe immer noch!) die Befürchtung, dass ich mit dem Umfang meiner Beiträge und dem sprachlichen Stil, in dem sie formuliert sind, so manchen Forianer vor den Kopf stoße und ihn/sie möglicherweise sogar mundtot mache.
    Ich habe Anlass zu dieser Befürchtung. Die Reaktion auf einen meiner Beiträge ( "aber man traut sich ja fast nichts mehr zu sagen") bin ich bis heute nicht losgeworden!


    Aber nebenbei:
    Auch wenn Du mir das nicht abnehmen magst, lieber Theophilus: Ich weiß überhaupt nicht, woran man die Zahl der Aufrufe erkennen kann.


    An farinelli:
    Ich kann Deine Beurteilung von "Über allen Gipfeln" nicht teilen, - beim besten Willen nicht! Dennoch ist es höchst interessant, Deine Sicht auf dieses Lied kennenzulernen. Zudem macht eine solche Divergenz im Urteil das Forum ja gerade besonders interessant und bereichernd.


    Für mich ist an diesem Lied besonders faszinierend, dass man hier erleben kann, wie Musik, die ihrem Wesen nach ja Bewegung ist, es schafft, die Suggestion vollkommener Ruhe zu erzeugen.
    Die Akkordsäulen in der Einleitung, die ja einen leicht daktylischen Rhythmus aufweisen, wirken auf den Hörer, als würde er mit äußerster Behutsamkeit in diese vollkommene Ruhe hineingeleitet.
    Und warum das "schweigen" wiederholt wird, das meinte ich erklärt zu haben.


    Na ja! So unterschiedlich kann man Lieder hören. Das macht ja, unter anderem, ihre Faszination aus!

  • Zitat

    Original von Helmut Hofmann
    ... Ich habe Anlass zu dieser Befürchtung. Die Reaktion auf einen meiner Beiträge ( "aber man traut sich ja fast nichts mehr zu sagen") bin ich bis heute nicht losgeworden.


    Fürchte dich nicht!
    Es kann nie der Sinn eines Forums sein, dass die Schüchternheit einzelner Mitglieder dazu führt, dass interessante Artikel nicht geschrieben werden...


    Zitat

    Ich weiß überhaupt nicht, woran man die Zahl der Aufrufe erkennen kann.


    In der Themenübersicht gibt es in der Tabelle eine eigene Spalte "Hits", die die Aufrufe des jeweiligen Themas dokumentiert.

    Ciao


    Von Herzen - Möge es wieder - Zu Herzen gehn!


  • ________________________________________
    Ich möchte das Thema dieses Threads nicht totreiten. Ein Nachtrag scheint mir aber, im Sinne einer Ergänzung zu meinen Beiträgen, durchaus angebracht zu sein.


    Von Arnold Schönberg findet sich im Jahrbuch "Der blaue Reiter" (München 1912) folgende Bemerkung:


    "Ich war vor ein paar Jahren tief beschämt, als ich entdeckte, dass ich bei einigen mir wohlbekannten Schubert-Liedern gar keine Ahnung davon hatte, was in dem zugrunde liegenden Gedicht eigentlich vorgehe. Als ich aber dann die Gedichte gelesen hatte, stellte sich für mich heraus, dass ich dadurch nicht im geringsten genötigt war, meine Auffassung des musikalischen Vortrags zu ändern. Im Gegenteil: es zeigte sich mir, dass ich, ohne das Gedicht zu kennen, den Inhalt, den wirklichen Inhalt, sogar vielleicht tiefer erfasst hatte, als wenn ich an der Oberfläche der eigentlichen Wortgedanken haften geblieben wäre."


    Wie ist diese Äußerung Schönbergs zu lesen?
    Ich meine, man könnte sie als einen gleichsam symptomatischen Beleg für das nehmen, was ich zur spezifischen Eigenart des Schubertliedes hier ausgeführt habe.
    Wenn es tatsächlich so ist, und es spricht vieles dafür, dass Schubert mit seinen Liedern keine musikalischen Äquivalente für den semantischen und emotionalen Gehalt der Gedichte schaffen wollte, sondern lyrischen Text in musikalischen Text verwandelte, dann muss der Effekt, von dem Schönberg berichtet, eigentlich mit einer gewissen Zwangsläufigkeit eintreten:
    Der Text geht in der Musik auf. Man gewinnt gar nichts mehr zusätzlich, wenn man den Text nachträglich, also nach der Rezeption des musikalischen Textes, liest.
    Wie sollte man denn auch? Alles, was die lyrische Sprache zu sagen hat, steckt doch jetzt gleichsam in der Musik. Es ist in sie restlos übergegangen.


    Schönberg sagt ja, dass er über Schuberts Lieder "den wirklichen Inhalt" der Gedichte "tiefer erfasst" habe.
    Das würde bedeuten, dass Schubert durch diese Verwandlung von sprachlicher in musikalische Struktur Dimensionen des dichterischen Gehalts erschlossen hat, die über das einfache Lesen des Textes nicht ohne weiteres zugänglich sind.
    Und so ist es ja auch!


    ANMERKUNG für diejenigen, die sich wundern, warum ich so lange und so intensiv an der Frage dieses Threads "herumlaboriere":
    Ich hatte vor einiger Zeit, aus einer reinen Laune heraus, eine Schallplatte mit Liedern von Karl Friedrich Zelter aufgelegt. Während des Hörens aber schlichen sich immer wieder Schubertklänge zwischen die Zeltertöne.
    Ich fragte mich, wie sich dieses Phänomen erklären lässt.
    Ist es einfach nur die Folge eines jahrzehntelangen Schubert-Hörens, bei dem sich diese melodischen Linien einem geradezu "eingebrannt" haben?
    Oder ist es vielleicht eher so, das die lyrische Sprache Goethes - denn um die ging es hier - mit diesen Schubertmelodien so eng verschmolzen ist, dass, wenn man diese Sprache vom Sänger gesprochen hört, wie mit einer Art Automatismus die Musik Schuberts sich einstellt?
    Und wie, das war die dritte Frage, unterscheiden sich diese Schubertmelodien grundsätzlich von denen Zelters? Sie haben, salopp formuliert, einen ganz typischen "Sound", der sich von dem Zelters ganz klar unterscheidet. Kann man den irgendwie fassen?


    Es möge bitte keiner annehmen, dass ich der Meinung sei, mit meinen Beiträgen hier die Frage nach der spezifischen Eigenart des Schubertliedes auch nur ansatzweise beantwortet zu haben.
    Das Schubertlied ist und bleibt in seiner Größe ein Rätsel!

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