Wäre vor 10 Jahren ein derartiger, unwidersprochener Erfolg für eine zeitgenössische Oper in Wien möglich gewesen? Ich glaube nicht – und allein diese Tatsache spricht schon für das Wiener Opernpublikum, das – entgegen anderer Behauptungen – sehr wohl in der Lage ist, eine hervorragende Produktion von Schrott (Macbeth...) zu unterscheiden.
Im Vorfeld der Premiere wurde kräftig die Werbetrommel geschwungen, Interessierte konnten mittels Facebook die Anstrengungen und Leiden einiger Sängerinnen quasi live mitverfolgen – und schlussendlich ist auch der Kammeroper zu danken, dass sie mit der „Gespenstersonate“ ein Stück produzierte, durch das es einmal möglich war, sich in die Klangwelt von Aribert Reimann einzuhören.
Wer Melodien erwartet, die man nachpfeifen kann, ist naturgemäß enttäuscht worden, aber was aus dem Orchestergraben klang, war unglaublich beeindruckend, drohend und expressiv. Jedem Darsteller war eine eigene Klangsprache zugeordnet – Medea, ein Geschöpf des Feuers, wurde mit Streicherklängen unterlegt, die teilweise an die Loge-Motive aus dem Ring erinnerten. Im Zwischenspiel vor geschlossenem Vorhang vor dem letzten Bild kam noch einmal die ganze Stärke der Orchestrierung zum Vorschein.
Die Gesangsparts sind extrem schwer – kaum zusammenhängende Melodiebögen (nur Kreusa hatte es da ein bisschen leichter) sind nun mal schwer zu memorieren, technisch wird ihnen alles abverlangt, auch rhythmisch werden die Darsteller aufs Höchste gefordert. Daher kann man nur einmal ein Pauschallob für alle Mitwirkenden aussprechen.
Zuallererst muss Marlis Petersen erwähnt werden, die als Titelheldin das Zentrum der Oper und Aufführung ist und fast die ganze Zeit auf der Bühne präsent sein muss. Sie sang derartig intensiv, expressiv, leidend – und man hatte wirklich den Eindruck, dass sie die Partie absolut verinnerlicht hat – und diese nicht zum ersten Mal sang. Sie bewegte sich auch gut und konnte dem Publikum glaubhaft machen, dass sie zu den Morden getrieben wurde. In diesem Zusammenhang ein weiteres Kompliment an Reimann, der ja auch für das Libretto (nach Grillparzer) zuständig war und die Geschichte stringent und nachvollziehbar erzählte. Medea wird durch die Umwelt zu dem gemacht, was sie dann schlussendlich ist. Eine Fremde fernab der Heimat. Eine Frau, die in ihrer Heimat angesehen und erfolgreich war – und nun eine Ausgestoßene ist, der man keine Chance geben will, der man „zum Wohle der Kinder“ ebendiese wegnimmt, damit es diese in Zukunft leichter haben (dieses Thema haben wir ja auch bei Madama Butterfly, nur reagiert die Japanerin da etwas anders, allerdings nicht weniger gewalttätig, als Medea). Die in vielen Vorbesprechungen und Interviews angekündigte Szene mit dem Kopftuch trug ebenfalls zur Aktualität des Stückes bei. Einer der Medea-Monologe erinnert ein bisschen an den Schlussgesang der Salome – eine Frau absolut am Limit, die vor keiner noch so abscheulichen Tat zurückschreckt – und gleichzeitig noch Mitleid erregt.
Elisabeth Kulman war ebenfalls beeindruckend. Ihr wunderbares Timbre fasziniert, den schwierigen Gesangspart meister sie bravourös – beeindruckend in der Höhe und in der Tiefe ist sie eine der Medea gleichgestellte Vertraute/Dienerin. Michaela Selinger war Kreusa, eine Figur, die als naives, gutgläubiges Geschöpf gezeichnet ist, aber mit ihrer Naivität viel dazu beiträgt, dass Medea psychisch in den Abgrund getrieben wird. Reimann hat – wie für alle anderen Sänger – auch für Selinger eine Tessitura gewählt, die ihren stimmlichen Möglichkeiten perfekt entgegen kommt.
Unspektakulär muss man den Auftritt von Michael Roider bezeichnen, der als Kreon seinen Charaktertenor einsetzen kann, Adrian Eröd als „Bösewicht“ zu erleben, das ist etwas ungewöhnlich. Er schien mir etwas gehemmt, was aber dem guten Gesamteindruck nicht schadete.
Erstmals an der Staatsoper trat Max Emanuel Cencic auf. Der ehemalige Wiener Sängerknabe hatte vor der Pause seinen Auftritt als Herold und beeindruckte mit seinem Sopran. Es ist spannend, dass bei neuen Stücken wieder vermehrt auf Countertenöre zugegriffen wird (auch bei den „Besessenen“ wurde eine Partie für diese Stimmlage geschrieben). Technisch war er perfekt und auch auf während seines Auftritts auf der Bühne sehr präsent. Ein sehr gelungenes Debüt.
Derjenige, der alles zusammenhielt, war Michael Boder, der das Staatsopernorchester und die Sänger präzise führte – in Zusammenarbeit, und das sei hier ausdrücklich erwähnt, mit dem Maestro suggeritore Mario Pasquariello.
Marco Arturo Marelli schuf beeindruckende Bilder – eine karstige Mondlandschaft auf der einen Seite, einen (fast unvermeidlichen) Quader, der rechts oben auf der Bühne schwebt und den Palast von Kreon darstellt, zu dem man mittels einer Treppe gelangt. Eines der allerstärksten Bilder ist jenes, das den Gemütszustand von Medea quasi kommentiert. Im Hintergrund hebt sich die Bühne und Steine rollen auf die Hauptbühne – alles gerät in Bewegung. Es ist schwer, die Eindrücke, die das macht, zu beschreiben. Es ist besser, wenn man das selbst miterlebt. Sehr geschmackvolle Kostüme steuerte Dagmar Niefind bei. Die Griechen sind in weiß gehalten während Medea in rot-bläulichen Kostümen ausgestattet sind und somit einen sichtbaren Gegensatz zwischen der „Hochkultur“ der Griechen und der erdigeren der Kolcherinnen auf die Bühne bringen.
Der Schlussapplaus war riesig (nur ein Besucher buhte, als Reimann die Bühne betrat) und lange andauernd. Besonders bejubelt wurden Petersen, Kulman, Eröd und Cencic. Aribert Reimann mutierte zum Küsserkönig – er war sichtlich gerührt ob des großen Erfolges und der Leistung der Sänger, Orchestermusiker und des Dirigenten.
Es gibt für die Folgevorstellungen noch genügend Karten – und es sei jedem ans Herz gelegt, sich dieses Werk anzusehen.