Uraufführung MEDEA/Aribert Reimann - STOP 28.2.2010

  • Wäre vor 10 Jahren ein derartiger, unwidersprochener Erfolg für eine zeitgenössische Oper in Wien möglich gewesen? Ich glaube nicht – und allein diese Tatsache spricht schon für das Wiener Opernpublikum, das – entgegen anderer Behauptungen – sehr wohl in der Lage ist, eine hervorragende Produktion von Schrott (Macbeth...) zu unterscheiden.


    Im Vorfeld der Premiere wurde kräftig die Werbetrommel geschwungen, Interessierte konnten mittels Facebook die Anstrengungen und Leiden einiger Sängerinnen quasi live mitverfolgen – und schlussendlich ist auch der Kammeroper zu danken, dass sie mit der „Gespenstersonate“ ein Stück produzierte, durch das es einmal möglich war, sich in die Klangwelt von Aribert Reimann einzuhören.


    Wer Melodien erwartet, die man nachpfeifen kann, ist naturgemäß enttäuscht worden, aber was aus dem Orchestergraben klang, war unglaublich beeindruckend, drohend und expressiv. Jedem Darsteller war eine eigene Klangsprache zugeordnet – Medea, ein Geschöpf des Feuers, wurde mit Streicherklängen unterlegt, die teilweise an die Loge-Motive aus dem Ring erinnerten. Im Zwischenspiel vor geschlossenem Vorhang vor dem letzten Bild kam noch einmal die ganze Stärke der Orchestrierung zum Vorschein.


    Die Gesangsparts sind extrem schwer – kaum zusammenhängende Melodiebögen (nur Kreusa hatte es da ein bisschen leichter) sind nun mal schwer zu memorieren, technisch wird ihnen alles abverlangt, auch rhythmisch werden die Darsteller aufs Höchste gefordert. Daher kann man nur einmal ein Pauschallob für alle Mitwirkenden aussprechen.


    Zuallererst muss Marlis Petersen erwähnt werden, die als Titelheldin das Zentrum der Oper und Aufführung ist und fast die ganze Zeit auf der Bühne präsent sein muss. Sie sang derartig intensiv, expressiv, leidend – und man hatte wirklich den Eindruck, dass sie die Partie absolut verinnerlicht hat – und diese nicht zum ersten Mal sang. Sie bewegte sich auch gut und konnte dem Publikum glaubhaft machen, dass sie zu den Morden getrieben wurde. In diesem Zusammenhang ein weiteres Kompliment an Reimann, der ja auch für das Libretto (nach Grillparzer) zuständig war und die Geschichte stringent und nachvollziehbar erzählte. Medea wird durch die Umwelt zu dem gemacht, was sie dann schlussendlich ist. Eine Fremde fernab der Heimat. Eine Frau, die in ihrer Heimat angesehen und erfolgreich war – und nun eine Ausgestoßene ist, der man keine Chance geben will, der man „zum Wohle der Kinder“ ebendiese wegnimmt, damit es diese in Zukunft leichter haben (dieses Thema haben wir ja auch bei Madama Butterfly, nur reagiert die Japanerin da etwas anders, allerdings nicht weniger gewalttätig, als Medea). Die in vielen Vorbesprechungen und Interviews angekündigte Szene mit dem Kopftuch trug ebenfalls zur Aktualität des Stückes bei. Einer der Medea-Monologe erinnert ein bisschen an den Schlussgesang der Salome – eine Frau absolut am Limit, die vor keiner noch so abscheulichen Tat zurückschreckt – und gleichzeitig noch Mitleid erregt.


    Elisabeth Kulman war ebenfalls beeindruckend. Ihr wunderbares Timbre fasziniert, den schwierigen Gesangspart meister sie bravourös – beeindruckend in der Höhe und in der Tiefe ist sie eine der Medea gleichgestellte Vertraute/Dienerin. Michaela Selinger war Kreusa, eine Figur, die als naives, gutgläubiges Geschöpf gezeichnet ist, aber mit ihrer Naivität viel dazu beiträgt, dass Medea psychisch in den Abgrund getrieben wird. Reimann hat – wie für alle anderen Sänger – auch für Selinger eine Tessitura gewählt, die ihren stimmlichen Möglichkeiten perfekt entgegen kommt.
    Unspektakulär muss man den Auftritt von Michael Roider bezeichnen, der als Kreon seinen Charaktertenor einsetzen kann, Adrian Eröd als „Bösewicht“ zu erleben, das ist etwas ungewöhnlich. Er schien mir etwas gehemmt, was aber dem guten Gesamteindruck nicht schadete.


    Erstmals an der Staatsoper trat Max Emanuel Cencic auf. Der ehemalige Wiener Sängerknabe hatte vor der Pause seinen Auftritt als Herold und beeindruckte mit seinem Sopran. Es ist spannend, dass bei neuen Stücken wieder vermehrt auf Countertenöre zugegriffen wird (auch bei den „Besessenen“ wurde eine Partie für diese Stimmlage geschrieben). Technisch war er perfekt und auch auf während seines Auftritts auf der Bühne sehr präsent. Ein sehr gelungenes Debüt.


    Derjenige, der alles zusammenhielt, war Michael Boder, der das Staatsopernorchester und die Sänger präzise führte – in Zusammenarbeit, und das sei hier ausdrücklich erwähnt, mit dem Maestro suggeritore Mario Pasquariello.


    Marco Arturo Marelli schuf beeindruckende Bilder – eine karstige Mondlandschaft auf der einen Seite, einen (fast unvermeidlichen) Quader, der rechts oben auf der Bühne schwebt und den Palast von Kreon darstellt, zu dem man mittels einer Treppe gelangt. Eines der allerstärksten Bilder ist jenes, das den Gemütszustand von Medea quasi kommentiert. Im Hintergrund hebt sich die Bühne und Steine rollen auf die Hauptbühne – alles gerät in Bewegung. Es ist schwer, die Eindrücke, die das macht, zu beschreiben. Es ist besser, wenn man das selbst miterlebt. Sehr geschmackvolle Kostüme steuerte Dagmar Niefind bei. Die Griechen sind in weiß gehalten während Medea in rot-bläulichen Kostümen ausgestattet sind und somit einen sichtbaren Gegensatz zwischen der „Hochkultur“ der Griechen und der erdigeren der Kolcherinnen auf die Bühne bringen.


    Der Schlussapplaus war riesig (nur ein Besucher buhte, als Reimann die Bühne betrat) und lange andauernd. Besonders bejubelt wurden Petersen, Kulman, Eröd und Cencic. Aribert Reimann mutierte zum Küsserkönig – er war sichtlich gerührt ob des großen Erfolges und der Leistung der Sänger, Orchestermusiker und des Dirigenten.


    Es gibt für die Folgevorstellungen noch genügend Karten – und es sei jedem ans Herz gelegt, sich dieses Werk anzusehen.

    Hear Me Roar!

  • Zitat

    Original von Dreamhunter
    und schlussendlich ist auch der Kammeroper zu danken, dass sie mit der „Gespenstersonate“ ein Stück produzierte, durch das es einmal möglich war, sich in die Klangwelt von Aribert Reimann einzuhören.


    Ich habe doch vor ca. 15 Jahren eine Reimann-Oper in Wien gehört - auf der Baumgartner Höhe?
    :D

    Zitat

    Es gibt für die Folgevorstellungen noch genügend Karten – und es sei jedem ans Herz gelegt, sich dieses Werk anzusehen.


    Na, ich überleg' mir's noch.
    ;)

  • Lieber KSM,


    Du hast das Wort "einmal" falsch ausgelegt!!! Ich hätte sonst "zum ersten Mal" geschrieben :D


    Zur Baumgartner Höhe fällt mir spontan nur ein, dass ich dort 3 Wochen lang den Patho-Sezierkurs belegt habe und so alle möglichen Arten von Lungenkrebs live vor Augen geführt bekommen habe... :yes:

    Hear Me Roar!

  • Zitat

    Original von Dreamhunter
    Zur Baumgartner Höhe fällt mir spontan nur ein, dass ich dort 3 Wochen lang den Patho-Sezierkurs belegt habe und so alle möglichen Arten von Lungenkrebs live vor Augen geführt bekommen habe... :yes:


    Dort gibt's das Jugendstiltheater, wo ich auf jeden Fall Ligeti (Le Grand Macabre) und Penderecki (Die Teufel von Loudun) gesehen habe. Und einen Reimann, glaube ich, den ich damals nicht mochte (war mir zu konservativ, haha).
    Da ich "Unrevealed" und "Shine & Dark" eigentlich mag, könnte ich mir die Medea schon reinziehen ... ich mag ja inzwischen auch Bose und dergleichen "Postmodernes".
    :hello:

  • Danke, lieber Dreamhunter, für die umfangreiche und gute Besprechung der Premiere. Um diese Medea beneide ich euch Wiener doch sehr. Ich halte Reimann für einen hervorragenden zeitgenössischen Komponisten, da er seine moderne eigenständige Musiksprache mit großer Emotionalität füllen kann. Den Lear und Troades kenne ich bisher nun von Aufnahmen, wobei der Lear in Hamburg mit Skovhus geplant ist. Endlich! Die Gespenstersonate und das Schloss habe ich wenigstens live erleben können. Beides große Erlebnisse.


    Ich hoffe von der Medea wird es demnächst eine Audio - CD oder eine DVD geben. Weißt du, ob da etwas geplant ist?



    :hello: Gustav

  • Ich weiß noch nichts von CD oder DVD. Vielleicht wird ja der neue Direktor dann die zweite Serie filmen lassen (30.11.,3.12.,7.12.2010).


    Aber - Ö1 hat die Premiere ja live übertragen und vielleicht wird - ähnlich wie bei der letzten Uraufführung (Riese von Steinfeld) es später eine CD geben.


    Aber Ö1 bietet auch Mitschnitte an - anbei der Link dazu !!


    http://oe1.orf.at/service/mitschnitte


    LG

    Hear Me Roar!

  • Lieber Dreamhunter!


    Vielen Dank für den Tipp. Ich werde es einmal versuchen, befürchte aber, dass es diese Sendung nicht als Mitschnitt geben wird, da es kein download war. Aber wer weiß. Sicherlich wird es die Medea aber noch in irgendeiner Form auf dem Markt geben. Die STOP wäre ja schön blöd, wenn sie solch eine Uraufführung nicht noch vermarkten würden.


    :hello: Gustav

  • Allen Unkenrufen zu Trotz war auch die vierte Aufführung von Aribert Reimanns „Medea“ ausgesprochen gut besucht – und nur wenige Plätze blieben auch nach der Pause frei. Der Stehplatz auf der Galerie war auch voll. Es dürfte sich herumgesprochen haben, dass dieses Werk es sich verdient hat, dass man es (zumindest einmal, öfter ist sicherlich besser) anschaut.


    Beim wiederholten Besuch beginnt sich die Klangwelt dieser Oper dem Besucher zu erschließen – naturgemäß gibt es da keine ins Ohr gehenden Melodien, die man nachpfeifen kann. Aber die Qualität eines Werkes ist ja glücklicherweise nicht von der Nachsingbarkeit abhängig. Und wie schon im Online-Merker in der Premieren-Kritik erwähnt, hat diese Oper, wenn sie auch so klug inszeniert wird, wie dies Marco Arturo Marelli getan hat, auf jeden Fall die Chance, im Repertoire zu bleiben. Dazu trägt sicherlich das von Aribert Reimann gestaltete Libretto bei, das ja den Grillparzer-Text verwendet.


    Wie bei allen großen Werken der Literatur, die Jahrhunderte – in diesem Fall sogar Jahrtausende überdauern, kann man ewig gültige Lehren und Einblicke daraus ziehen. In diesem Fall geht es um das Schicksal einer Immigrantin, die aus Liebe zum Gatten alles versucht, sich dem neuen Umfeld anzupassen (und noch einmal – es ist Marelli nicht genug zu danken, dass er die Geschichte nicht in der Gegenwart spielen hat lassen, sondern eine zeitlose Darstellung gefunden hat). Sie wird von ihrem Mann gerügt, weil sie eine Kopfbedeckung trägt (aktueller geht es wohl kaum…), sie versucht, ihrem Gatten Erinnerungen an dessen Jugend zurückzugeben (eine sehr intensive Szene, wenn Medea von Kreusa das Harfenspiel zu erlernen versucht) – scheitert aber schlussendlich an ihrer Herkunft, an ihrem kulturellen Background. Das wird auch an den Kostümen ersichtlich, die von Dagmar Niefind stammen. Die „zivilisierten“ Griechen in weißen Anzügen, Mänteln; eine ärmellose Bluse für Kreusa. Im starken Kontrast dagegen die beiden Kolcherinnen – da beherrschen rote und violette Töne die Bekleidung, selbstverständlich auch lange Ärmel.


    Über das Bühnenbild wurde schon bei der Premierenkritik geschrieben – es ist passend zum Stück – eine trostlose Mondlandschaft, die auch das Seelenleben der Medea widerspiegelt. Stark kontrastierend das griechische Penthouse, in weiß gehalten, mit klaren Linien. Wenn im dritten Bild sich die Hinterbühne anhebt und die Felsstücke ins Rollen kommen, ja dann ist das eines der beeindruckendsten Bilder, die man in den letzten Jahren auf der Staatsopernbühne zu sehen bekommt.


    Michael Boder koordinierte das Staatsopernorchester und die Sänger – unter tatkräftiger Mithilfe des Maestro suggeritore Mario Pasquariello – perfekt. Noch einmal, obwohl es natürlich schwer ist, etwaige Unstimmigkeiten zu erkennen, hatte man immer den Eindruck, dass da jede einzelne Note absolut sinnvoll war.


    Den Sängern kann man nur höchstes Lob für die Interpretation aussprechen, allen voran natürlich Marlis Petersen, die eine sängerische und schauspielerische Höchstleistung bot. Vielleicht mit der ganz kleinen Einschränkung, dass sie zu Beginn der Oper nicht ganz so souverän wirkte wie noch bei der Premiere.


    Gesteigert haben sich in der Interpretation seit der Premiere sowohl Adrian Eröd als Jason wie auch Michael Roider als Kreon. Eröd hat den Charakter des Jason geschärft, kommt noch viel unsympathischer rüber und überzeugte absolut mit seiner Technik. Auch Michael Roider kam mit seinem Part hervorragend zurecht und gab ein tolles Rollenprofil des im Prinzip schwachen Königs.


    Ein Höhepunkt der Oper ist der Auftritt des Herolds in Person von Max Emanuel Cencic. Es ist positiv zu vermerken, dass wieder Rollen für Countertenöre geschrieben werden – und wenn diese dann mit so engelsgleicher Sopranstimme vorgetragen werden, bleibt einem wirklich der Atem stehen. Bei den ersten Tönen würde man nie vermuten, dass es ein Mann ist, der diesen Part zu singen hat. Absolut phantastisch!


    Michaela Selinger als It-Girl war ebenfalls exzellent. Als naives Blondchen charakterisiert, das keine Ahnung hat, wie sehr sie mit ihren Aktionen, die wahrscheinlich nicht einmal bös gemeint sind, Medea verletzt, wirkte sie im Vergleich mit den anderen Akteuren wie von einer anderen Welt. Einer Welt, in der es keine Probleme gibt und alles ein Spiel. Diese Einstellung spiegelt sich auch in der Partitur wider.


    Last but not least noch einige Worte zu Elisabeth Kulman als Gora. Der Komponist lotete, als der das Werk geschrieben hat, die vokalen Fähigkeiten der Sängerin vollkommen aus. Ich denke, dass es nicht viele Darstellerinnen zur Zeit gibt, die sowohl die hohen Töne als auch die verlangten tiefen Töne (oft sehr sprunghaft gesetzt) derartig brilliant zur Geltung bringen können wie es Kulman tat. An diesem Abend war sie besonders in der Höhe absolut umwerfend.


    Wie schon bei der Premiere war die Aufführung ein großer Erfolg für alle Beteiligten – und ich glaube, dass ich kein Prophet bin wenn ich behaupte, dass auch bei der nächsten Serie im November/Dezember 2010 die Vorstellungen wieder sehr gut besucht sein werden. Da handelt es sich um Musiktheater vom Feinsten. Tolles Libretto, aufwühlende Musik, großartige Singschauspieler – Herz, was willst du mehr?

    Hear Me Roar!

  • Zitat

    Original von Gustav
    Lieber Dreamhunter!


    Vielen Dank für den Tipp. Ich werde es einmal versuchen, befürchte aber, dass es diese Sendung nicht als Mitschnitt geben wird, da es kein download war. Aber wer weiß. Sicherlich wird es die Medea aber noch in irgendeiner Form auf dem Markt geben. Die STOP wäre ja schön blöd, wenn sie solch eine Uraufführung nicht noch vermarkten würden.


    :hello: Gustav


    Am kommenden Samstag im Deutschlandradio:


    Euroradio-Opernsaison 2009/2010
    Wiener Staatsoper
    Aufzeichnung vom 28.2.2010



    Aribert Reimann
    "Medea",

    Oper in zwei Teilen
    Libretto: Aribert Reimann nach Franz Grillparzer


    Marlis Petersen, Sopran - Medea
    Michaela Selinger, Mezzosopran - Kreusa
    Elisabeth Kulman, Alt - Gora
    Michael Roider, Tenor - Kreon
    Adrian Eröd, Bariton - Jason
    Max Emanuel Cencic, Countertenor - Herold
    Orchester der Wiener Staatsoper
    Leitung: Michael Boder


    Sendung am 27.03.2010 · 19:05 Uhr - DLR Kultur, Berlin


    LG


    :hello:

    Harald


    Freundschaft schließt man nicht, einen Freund erkennt man.
    (Vinícius de Moraes)

  • Wäre vor 10 Jahren ein derartiger, unwidersprochener Erfolg für eine zeitgenössische Oper in Wien möglich gewesen?


    Dann stimme ich jetzt doch auch noch ins Jubeln ein - wobei ich es ja am Bemerkenswertesten finde, dass so eine Musiksprache ungeteilten Zuspruch finden kann. (Aber wahrscheinlich sitzen doch so einige Leute im Publikum, die nichts damit anfangen können?)
    Dreamhunters Ausführungen zur Musik und zur Inszenierung kann ich nur zustimmen.
    :thumbup:
    Auch für morgen sind die Sitzplätze für unter 100 € ausverkauft.

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