Ein Technokrat bester Schule - Vol 1 Dirigenten

  • "....ein Technokrat bester Schule und Perfektionist" so schireb Thomas Knöchel heute über Pierre Boulez als Dirigenten.


    Eine sehr griffige Bezeichnung, aber viele Mitleser werden sich dennoch darunter nichts genaueres virstellen können.
    Was zeichnet einen technokratischen Dirigenten aus ?
    Was sind seine Stärken, was seine Schwächen ?
    Dirigiert er "werkgetreu"? wenn ja - was unterscheidet ihn dann von sogenannten "biederen Kapellmeister ?


    Wenn nein - inwieweit ist der Stempel eines technokratischen Dirigentenzu erkennen ?


    Auf welche Dirigenten passt diese Bezeichnung besonders gut, und welche Einspieluingen von ihnen sind besonders typisch ?


    Last, but not least: Wie gefällt Euch dieser Interpretationsansatz und warum gefällt er euch, bzw warum lehnt ihr ihn ab.


    Welche Dirigenten seht ihr als Antipodem zu den "Technokraten" und wie bewertet ihr sie ?


    Dieser Thread soll durchaus llgemein gehalten werden, mit der Möglichkeit aus ihm dann dieverse Spezialthreads herauszudestillieren.


    mfg
    aus Wien


    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Was ist denn eigentlich ein "Technokrat" im Zusammenhang mit Musikinterpretation?
    Ich meine, ein Dirigent muss doch den Noten folgen, wenn er dirigiert. Und er kann auch nicht jeden Orchestermusiker machen lassen, was dieser will.
    Was wäre denn das Gegenteil? Wenn einer im Stile der antiautoritären Erziehung sich vorn hinstellt und wild mit dem Taktstock wedelt, aber keine Einsätze gibt und sich auch sonst nicht darum schert, wie die Musik klingt? Ein wenig so wie der Sketch von Loriot, wo er als Reinigungskraft/Pförtner o. ä. plötzlich vor den Berliner Philh. steht und dann vor denen rumhampelt? Dazu hat er ja mal erzählt, dass das für ihn ziemlich anstrengend war, weil das Orchester auch mal aus Spaß anfing, ihn zu hetzen und schneller und schneller spielte und er kaum noch mit dem Taktstock nachkam.


    Reden wir hier nicht eher über die Ausstrahlung eines Dirigenten? Jemand wie Boulez wirkt eher kühl und trocken und der dicke Levine, der mit Handtuch über dem T-shirt probt und gern sitzt, wirkt eher gemütlich.


    Maradona trainiert die argentinische Nationalmannschaft mit Zigarre im Mund. Haben sie deshalb oder trotzdem gegen Deutschland gewonnen?

  • Na da hab ich mich ja wieder mal schön weit aus dem Fenster gelehnt… Wie sollte ein einfach gestrickter Mensch wie ich dies nun erläutern wollen ;-)
    Ich probier‘s mal: Als Technokraten (ein m.E. vielleicht etwas strapazierter Begriff) würde ich jemanden bezeichnen, dessen Herangehensweise an ein (z.B.) Projekt oder eine Überlegung eher nüchtern und verstandesorientiert ist. Jemanden, der eher ein Buch, einen Taschenrechner oder einen Zollstock zur Beurteilung einer Sache heranzieht als seinen Bauch, seine Erfahrung oder sein Gefühl.


    Vielleicht ein Beispiel: man kann eine perspektivische Zeichnung nach den Regeln der Gesetze ‚konstruieren‘, also mit Hilfe anerkannter wissenschaftlichen Methoden errechnen und aufbauen – man kann sie aber auch – perspektivisches Wissen vorausgesetzt – zeichnerisch ‚aus der Hand‘ gestalten. Das Ergebnis wird beide Male nahezu das gleiche sein. Die buchstabengetreu konstruierte Fassung wird vielleicht die „perfektere“ im Sinne der Sache sein; gefälliger im Sinne des Betrachters wird aber vermutlich letztere sein. Es liegt im Auge des Betrachters, welche Version ihm besser „gefällt“. Ein absolutes „Besser“ gibt’s hier nicht.


    So läßt sich das m. E. auch auf die Herangehensweise in der Musik beurteilen. Ein technokratischer Dirigent ist meiner Ansicht jemand, der sich auf die niedergeschriebenen Noten, auf die Anweisungen und Gesetze beruft. Das, was schwarz auf weiß zu lesen ist, wird quasi 1:1 umgesetzt. Unemotional und ohne viel eigenes „Zutun“. Er sieht vielleicht nicht die schöne komponierte Phrase, er sieht einzig die Noten und Striche, die nacheinander aufgereiht sind. Andere Dirigenten können dieser Phrase vielleicht etwas abgewinnen und interpretieren ihre eigene Sichtweise hinein. Musik ist eigentlich immer irgendwie emotional. Vielleicht die Musik der Neuzeit versucht, Emotionen auszumerzen und aufs nackte Gerüst zurückzuführen (hier gibt’s sicher Leute, die dies besser beurteilen können). Nun wär‘s auch wieder unredlich, von „besser“ oder „schlechter“ zu reden; ich denke beides hat seine Berechtigung – die Ergebnisse sind ja eh‘ immer erhaben.


    Es gibt Menschen, von denen wird gesagt „wenn du den anstichst, der gibt keinen Tropfen Blut…“Im Allgemeinen beschreibt man so einen nüchternen, verstandesorientierten Menschen – im Beispiel von Luis wäre das sicher eher der Herr Boulez als Mr. Levine.


    Mein Vater (selber Bauingenierur)hat immer gesagt „mit einem Technokraten kannst du keinen Trinken gehen“. Ich denke, das sagt viel aus. Nun weiß ich nicht, ob Levine der bessere Saufkumpane wäre, aber mit Boulez könnte ich mir das irgendwie überhaupt nicht vorstellen. Ein gepflegtes Glas Wein ja, aber … Ich denke, Lenny wär da der idealere Kandidat ;-) Aber das spürt man ja schon in seiner Musik….


    Bitte verzeiht meine einfachen Worte … gar nicht so leicht … Vielleicht hat jemand ne treffendere Aussage.

  • Als Technokrat wurde z.B. in den 1950ern Karajan gegenüber Furtwängler wahrgenommen. Gerade eben, weil er der Nachfolger gewesen ist. (Man hätte vielleicht auch andere Dirigenten nennen können. Was technische Möglichkeiten und mangelnde Scheu vor dem Aufnahmestudio betraf, war Fricsay zB auf derselben Linie wie Karajan. Verglichen mit Furtwängler oder Kna sind praktisch alle modernen Dirigenten "Technokraten"...)


    In diesem Kontext sollte der Technokrat zum einen "musiktechnisch" sehr gut sein: präziser Schlag, eine präzise Klangvorstellung, die effizient umgesetzt wird, extrem Kontrolle über alle Parameter. Der Gegensatz ist dann jemand, der entweder nicht viel Wert auf Proben legt (wie angeblich Knappertsbusch, Roschdestwjenskij) oder jedenfalls den Musikern viele Freiheiten läßt. Oder ein sehr offensichtlich emotional beteiligter Künstler wie Bernstein. Die Magie des Augenblicks bei der Aufführung entzieht sich sozusagen der Kontrolle, jedenfalls der bewußten, auf Proben basierenden.


    Meistens dürfte es sich hier freilich um Klischees handeln. Wer weiß schon genau, wie die Probenarbeit abläuft? Mitgeschnittene Proben dürften häufig geschönt sein usw.


    Was noch mitschwingt, ist natürlich eine gewisse Kühle, evtl. sogar aufgrund der technischen Perfektion. Die klangliche Oberfläche wird über die Emotion gestellt, anstatt in derem Dienste zu stehen. Daher nennt hier niemanden C. Kleiber, der obsessiv geprobt hat, sondern eben Karajan, Maazel, Boulez. Auch hier besteht natürlich Klischee-Alarm.
    (Gerade bei Boulez besteht ein ziemlicher Unterschied zwischen den Aufnahmen der 1960er und 1970er und den späten DG-Einspielungen, was emotionale Distanz betrifft, auch bei den anderen wird die Charakterisierung nicht auf alle Einspielungen zutreffen, noch weniger auf Live-Konzerte.)


    viele Grüße


    JR

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • Es wurden ja hier schon Boulez und Gielen genannt - inwieweit dies in letzter Konsequenz haltbar ist - und vor allem ob sie sich selber so sähen, das wäre interessant.
    Als Antipoden wurde beispielsweise schon Bernstein , der "Vollblutmusiker" genannt, auch Celibidache könnte man nehmen.
    Wie siehts mit Harnoncourt aus, der doch "historisch korrekt" sein möchte (Nein, nicht alle sogenannten HIP-Ensembles wollen das - mit Sicherheit nicht)


    Wie definiert man "Technokrat" in diesem Zusammenhang ?
    Nüchtern ? Buchstabengetreu ? - Aber doch sicher nicht- Kapellmeisterlich ?


    Auch das wäre letztlich ein Begriff, den man in diesem Zusammenhang analysieren könnte.
    Aber ich möchte mich hüten, dieses Attribut einem lebenden Dirigenten "anzuhängen" - das könnte ins Auge gehen.
    Denn - Während der Begriff "Technokrat" im Sinne eines nüchternen Analytikers doch etwas ist, mit dem sich so mancher Dirigent anfreunden kann - "Kapellmeister" wollen vermutlich die wenigsten sein. (wenngleich die auch ire Meriten haben)


    Karajan als "Technokrat"
    Grade wurde er weiter oben im Thread in diese Schublade gesteckt.
    Ich glaube aber nicht, daß er dort hineingehört.


    Karajan war weniger ein Analytiker, als ein strategischert Planer.
    Und was er plante war eher karajangetreu als werkgetreu. Wenn ich das so schreibe, dann meine ich das keineswegs abwertend, denn sein Stil hat lange Zeit das Konzert- und Opernleben geprägt.
    Er erhob die nicht vordergründig die Klangschönheit zum Dogma - das taten andere Dirigenten auch - sondern in erster Hinsicht die ELEGANCE . Nein - nicht ELEGANZ - sondern ELEGANCE, er "karajanisierte" gewissermaßen.


    So kamen sich Bernstein und Karajan - entgegen der Fama - auch kaum je ins Gehege, der elegante Partiturenpoliteur und der Vollblutmusiker......



    mfg aus Wien


    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !