Überlebt der Liedgesang ? - Eine Spekulation

  • "Gustav" schrieb in einem anderen Thread


    Zitat

    Aber ob der Liedgesang in einer schneller, hektischer und lauter werdenden Welt überlebt, wage ich fast zu bezweifeln


    Die Frage mag müßig sein, aber lautent nicht schon das Sprichwort:
    "Müssikgkeit ist aller Threads Anfang" ???


    Also versuchen wir darüber nachzudenken und zu einem - wenn vielleicht nicht richtigen, so doch glaubwürdiegen bzw wahrscheinlichen Ergebnis zu kommen.


    Ich bezweifle keineswegs, daß es in 100 Jahren noch Liedgesang geben wird - auch wenn mich diese Thematik auf diese zeitliche Distanz gesehen eigentlich wenig kratzt.


    Wieso wage ich dies zu behaupten ?


    Das Schubertlied beispielsweise, mit Texten um 1800 versehen, hat die indrustielle Revolution überdauert, die Einführung der Elektrizität erlebt, jene der Radiowellen, Eisenbahn, Automobil, Flugzeug, Computer, Internet, Verfall von staatlicher Ordnung, Umgestaltum der Geselschaft vom Großbürgertum als Maß aller dinge zur Herrschaft des Proletariats , zwei Weltkriege, den Verfall des Glaubens, Wirtschftskrisen und deren Ende etc etc.


    Ich würde sogar behaupte, daß es die antike Aura ist, die dem Schubertlied - und natürlich allen anderen aus ungefähr dieser Zeit das Interesse gewährleistet. Aber auch das etwa 250 Jahre ältere englische Lautenlied wird noch immer gern gesungen - und gehört.


    A propos "hektische Welt".
    Es wird eine Zeit kommen da man mit Sprit für Flugzeuge (und Automobile) sparsamer umgehen wird müssen, als wir es heute tun, die Gesellschaft wird sich wandeln - in welche Richtung ist kaum vorhersehbar - ich glaube nicht an den linearen Fortschritt in eine Richtung, es gibt Wellenberge und Wellentäler.


    Nehmen wir als Beispiel "Die schöne Müllerin"
    Die Textvorlage gilt im allgemeinen nicht gerade als Spitzenprodukt deuscher Dichtkunst. Dennoch hat sie - durch die musikalisch Aufarbeitung vile Gedichte von mehr Tiefgang überlebt.
    Die Geschichte ist eigentlich banal - aber sie hat mit der Zeit Patina angesetzt, Patina, die sie in den Bereich des "historischen" führt - und somit interessant macht.
    Das gilt für zahlreiche andere Textvorlagen auch.


    Wie sehr sich Kultur festkrallt, oder besser gesgt, wie sehr sich gebildete Menschen an ihren überlieferten Kulturgütern festkrallen, das belegen einerseits der Film Fahrenheit 451, andreseits die derzeitige Existenz von Literatur in der guten alten Buchform.
    Sie wurde immerhin durch Radio, Film, Fernsehen, und Bildschirmtexte aller Art mehrfach angegriffen. - Aber sie besteht noch immer die gute alte Buchform....


    mfg aus Wien


    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Lieber Alfred!


    Leider bin ich da sehr viel pessimistischer. Und um das zu begründen, muss ich, glaube ich, sehr weit ausholen.


    Natürlich hat das Kunstlied diverse gesellschaftliche Veränderungen "überlebt" und du zählst sie auch auf. Entscheidend dabei ist IMO:


    Zitat

    Umgestaltum der Geselschaft vom Großbürgertum als Maß aller dinge zur Herrschaft des Proletariats


    Mit Beginn des 20. Jhrdts.nach dem I.WK lässt sich diese Tendenz beobachten, dass die Massengesellschaft, die Masse eben, immer mehr an Bedeutung gewann, einerseits im Politischen (Nationalsozialismus/Faschismus oder Kommunismus), andererseits im wirtschaftlichen (Kapitalismus). Und diese Masse und auch der Massengeschmack bestimmt weiterhin unser Dasein. Dies ist durchaus verständlich, da die relativ kritiklose Masse als Käuferschicht im Kapitalismus dringend gebraucht wird.


    Nun sind wir gesellschaftlich in einer Zwickmühle. Einerseits brauchen wir intelligente, gut ausgebildete Menschen, um unseren Standard durch Innovationen halten zu könen, andererseits braucht die Wirtschaft ein Massenpublikum, das wie gesagt, relativ kritiklos zum Kaufen bereit ist. So muss man versuchen, die Masse kritiklos zu halten und auch zufrieden. Hier erfüllen die neuen Medien und auch das Privatfernsehen (in zunehmendem Maße auch die öffentlich - rechtlichen Anstalten) eine wichtige Funktion. Mich erinnert das immer stärker an "Brot und Spiele". Auch damals ging es um eine ruhige und dem Willen der römischen Cäsaren zur Verfügung stehende Masse.


    Aber nun, was um alles in der Welt soll solch eine Masse mit einem Kunstlied? Ein Kunstlied ist doch eher der Dialog zwischen zwei Individuen über ein Thema, das in der Regel schlecht kommerziell verwertbar ist. Vor allem aber sind hier zwei Menschen aufgefordert, sich persönliche Gedanken zu machen und sich über ihre Gefühle klar zu werden. Beides ist aber dem Massengedanken abträglich. Die kapitalistische, globalisierte Gesellschaft braucht keine Individuen, die möglicherweise querschießen. Die wird es natürlich immer geben. Aber sind sie erwünscht? Werden sie gefördert?


    Ich sehe es in der Pädagogik. Natürlich wird heute viel von individueller Förderung gesprochen. Aber eigentlich immer nur in Hinsicht auf eine künftige Verwertbarkeit im Berufsleben. Gewünscht sind eben intelligente, gut ausgebildete Menschen, aber auch gebildete? Musik und Kunst fallen im Schulleben, so wie es kenne, völlig unter den Tisch.


    Und so wird eine Gesellschaft erzogen und herangezogen (und durch alle Medien unterstützt), die sich dem Mainstream annähern soll, denn nur der verspricht, selbst bei geringer Qualität, den größten Profit. Und es ist natürlich schön, wenn hier Schulklassen im Theater oder in der Oper sitzen, wenn wir so und soviele Orchester haben usw. Aber das sind doch Feigenblätter, bzw. Tropfen auf heißen Steinen, die wirklich sofort verdunsten, weil nichts an Förderung nachkommt.


    Und warum entsteht in Hamburg denn die "Elbphilharmonie" in dieser Weise. Doch nicht, um die Kunst zu fördern, schon gar nicht in der Stadt der Pfeffersäcke. Hier geht es um ein künftiges und in aller Welt bekanntes Wahrzeichen, um eine Marke, mit der für einen Standort Hamburg, für die Boomtown Deutschlands geworben werden kann.


    Und noch einmal die Frage: Was soll in diesem Zusammenhang solch eine delikate, stille und persönliche Kunst wie das Lied? Wenn man denn wenigstens ein Event daraus machen könnte! :D


    Und nun freue ich mich auf eine angeregte Diskussion, in der Hoffnung, dass ihr mir meinen Pessimismus ausreden könnte. ;)


    :hello: Gustav

  • Deinen Pessimismus, lieber Gustav, werde ich Dir nicht nehmen können. Es scheint so viel dafür zu sprechen, dass er begründet ist, und ich selbst habe gerade in einem anderen Thread dieses Forums (Was bedeutet euch das Lied?) darauf hingewiesen, dass das Kunstlied von seiner musikalischen Struktur her dem Trend zur Event-Kultur diametral entgegensteht.


    Folgendes wäre aber zu bedenken.

    Das Kunstlied war schon zu Schuberts Zeiten ein kulturelles Nischenphänomen, und das ist es bis heute geblieben. Dietrich Fischer-Dieskau konnte zwar problemlos große Konzertsäle füllen, aber das änderte nichts an der Intimität der musikalischen Erfahrung, die sich dort ereignete. Es behinderte sie eher. Ich war jedenfalls immer froh, wenn ich einen Liederabend mit ihm in einem kleinen Kammermusiksaal erleben konnte.


    Die Massenkultur wird nicht das Ende des Kunstliedes einläuten. Theodor W. Adorno hat in seinen Vorlesungen und Seminaren in Frankfurt immer wieder solche Prognosen gemacht, und ich habe ihm als junger Mensch damals spontan zugestimmt. Inzwischen bin ich ein alter, Adorno ist lange tot, und nichts von seinen Prognosen ist eingetreten.
    Mit-Forianer Siegfried hat mich gerade ( in besagtem Thread ) darauf hingewiesen, dass meine Behauptung vom Niedergang des Kunstliedes im öffentlichen Konzertleben nicht ganz zutreffend sei. Und es ist ja auch so: Selbst bei den großen Musikfestivals spielt es tatsächlich noch eine Rolle, wenn auch eine kleine und immer weiter abnehmende.


    Sowohl die historische Erfahrung als auch die ganz persönliche sprechen dafür, dass es immer Menschen geben wird, die sich weigern, dem großen allgemeinen Trend zu folgen, weil es ihnen auf die ganz individuelle geistige und emotionale Erfahrung ankommt, in der sie ihre Identität finden können.
    Und das Kunstlied ist ja gerade eine musikalische Gattung, bei deren Rezeption es auf genaues Hinhören, auf das Erfassen der subtilen musikalischen Struktur, insbesondere des Wechselspiels von Sprache und Musik ankommt.
    Jeder von uns kennt die wahrhaft beglückende Erfahrung, die damit verbunden sein kann. Warum sollten Menschen diese nicht auch künftig suchen?
    Nicht ohne Grund fühlen sich auch heute noch moderne Komponisten von dem Anspruch, den das Kunstlied erhebt, herausgefordert, siehe etwa Wolfgang Rihm.


    Der wirklich entscheidende Faktor ist die Heranführung junger Menschen an das Kunstlied durch das Elternhaus und die schulische Bildung.
    Was die häuslichen Verhältnisse anbelangt, kenne ich keine einschlägigen Untersuchungen.Aber in bezug auf die Schule kenne ich mich ein wenig aus, insbesondere was Hessen betrifft.
    Es gibt Bundesländer, in denen es mit dem Musikunterricht besser bestellt ist als etwa in Berlin, wo Daniel Barenboim aus gutem Grund immer wieder mahnend den Finger hebt.
    In meinem näheren Umfeld wird an vielen Gymnasien ein sehr engagierter Musikunterricht erteilt, mit einem großen Anteil an klassischer Musik übrigens. Es gibt vielerorts sogar kleine Kammerorchester.
    Ich selbst habe Examenslehrproben erlebt, die ein Schubertlied zum Thema hatten. Und keiner fand das ungewöhnlich.


    Es gibt also durchaus Hoffnungsschimmer. Man muss für die Zukunft des Kunstliedes nicht zwingend schwarz sehen.
    Eben studierte ich gerade in der FAZ die "Veranstaltungen und Termine in Frankfurt heute und morgen", und siehe: Ein Liederabend ist dabei!
    Na bitte!

  • Lieber Helmut!


    Nein, meinen Pessimismus konnte du mir - leider - noch nicht nehmen. Ich glaube auch, dass die positiven Entwicklungen, auch gerade was Schule angeht, doch sehr begrenzte Kulturinseln sind. Und ich befürchte mit dem folgenden Satz hast du den Nagel leider auf den Kopf getroffen.


    Zitat

    Und es ist ja auch so: Selbst bei den großen Musikfestivals spielt es tatsächlich noch eine Rolle, wenn auch eine kleine und immer weiter abnehmende.


    Natürlich wird es immer Menschen geben, die sich nach dieser Form des Dialogs sehnen, genauso wie es immer Menschen geben wird, die Lyrik lesen. Sie müssen dann nur noch ein Angebot für die Erfüllung ihrer Sehnsucht haben.


    Und die Frage ist ja, nimmt die Zahl ab oder nicht und wenn sie abnimmt, geschieht das drastisch oder eher schleichend und aufhaltbar. Und da tendiere ich eher zu der drastischen Abnahme.


    Liedgesang hat einfach auch etwas mit Bildung zu tun. Man muss auch bereit sein, einen gewissen Kanon an Lyrik sich aneignen zu wollen bzw. sich mit Lyrik auseinander zu setzen. Und ich denke, da gibt es wirklich eine fatale Bildungsmisere. Auch wenn in früheren Jahrzehnten solche Form der Bildung schon ein Nischendasein geführt hat, so gab es doch eine Basis an Allgemeinbildung, auf der Menschen aufbauen konnten, wandten sie sich der klassischen Musik und dann dem Liedgesang zu. Heute sind ja nicht einmal mehr bestimmte Namen ein Begriff. Meine Schüler kennen aus dem gesamten Allgemeinbildungsbereich nur die Namen Mozart, Goethe, Obama und bin Laden und können nur den beiden letzten irgendetwas zuordnen. Und das ist Realschule!!!


    Ich sah vor kurzem einen Werbespot aus den 50iger Jahre. Es ging um einen Mittelklassewagen. Und der gesamte Spot bestand aus Wilhelm - Tell - Zitaten. Damit konnte man damals ein Normalpublikum ansprechen. Heute, gut 50 Jahre später, völlig undenkbar. Hier hat also ein eklatanter Verfall von Bildung stattgefunden. Die ja auch, und da verweise ich auf meine These, im kapitalistischen System überflüssig ist. Höchstens wird sie als Sahnehäubchen gehalten oder wenn sie der Standortverbesserung dienen kann.


    Aber kurz und gut (oder gar nicht gut): Klassische Musik (die ich in diesen Verfall übrigens mit einbeziehen würde) und Liedgesang funktionieren nur mit einem gewissen Grad an Bildung und um die sieht es verdammt schlecht in diesem unserem Lande aus.


    Das ist übrigens einmal ein Beitrag bei dem ich hoffe, dass ich vollkommen daneben liege.


    :hello: Gustav

  • Also dieses Forum wird mir langsam unheimlich:


    Es bringt zustande, daß ich ein eingefleischter Pessimist aufgefordert werde eine optimistische Prognose abzugeben - und ich bringe das auch noch zustande - nicht aufgrund von einem "guten Gefühl" sonder an Hand von ziemlich klaren Fakten. Ein Restrisiko bleibt narürlich immer....


    Zitat

    Mit Beginn des 20. Jhrdts.nach dem I.WK lässt sich diese Tendenz beobachten, dass die Massengesellschaft, die Masse eben, immer mehr an Bedeutung gewann


    Eine Sache der Betrachtung, worin diese Bedeutung lag, ich würde sagen lediglich als Konsument, Arbeits- und Stimmvieh in einer Scheindemokratie, sowie als Kanonenfutter. Die wichtigen entscheidungen wurden immer von "Eliten" getroffen, egal in welcher Staatsform immer. Auch heute: Man lässt die Leute so oft und so lange abstimmen bis das Ergebnius das gewünschte ist.
    Nein die Masse hat heute dieselbe wie vor etlichen Jahren -
    nämlich keine.
    Der Unterschied ist lediglich, daß man ihr im Gegensatz zu früher wenigstens die Illusion der Mitbestimmung lässt.
    Ein weiterer Unterschie ist, daß sich die heute Mächtigen, seien sie aus Politik. Wirtschaft oder Kultur selbst aus einst unterpriviligierten Kreisen rekrutieren, und im innersten ihres Herrzens mit Kultus selbst nicht viel anzufangen wissen. Dieser Zustand ist jedoch ein labiler, noch labilr gemacht durch eine Kaskasde von angeblichen Wirtschaftskrisen - und kann jederzeit ins Gegenteil umkippen, wenn beispielsweise dereinst die Intelektuellen das Sagen haben, nachdem die Dummlöpfe in die Wüste geschickt wurden. Aber das nur am Rande.....


    Ich pflichte bei, daß die heutige Ausbildung vor allem auf wirtschaftliche Verwertbarkeit des Individuums ausgerichtet ist.
    Kunstausbildung findet de facto nicht statt - oder allenfalls als Pflichtübung. Aber war das je etwas anderes ?


    Kunst, Musik und Literatur wird auf lange Sicht wieder zu dem, was es sigentlcih immer schon war: LUXUS


    Und eine kleine Minderheit, nämlich die diesen Luxus immer schon für sich gepachtet hat, wird ihn wieder für sich beanspruchen - und hegen und pflegen.


    Das ist EIN mögliches Szenario.


    Aber ich habe auch andere - ungleich sympathischere - parat.
    ES wäre beispielsweise die Möglichkeit der Entkommerzialisierung des Liedes gegeben, man singt im kleinen Kreis - durchaus in hoher Qualität, aber ohne finanziellen Background.


    Auch diese Denkmodell hat Schwächen.


    Als am wahrscheinlichsten sehe ich Denkmodell Nr 3.


    Das Lied wird durch PR von Tonträgerkonzernen gepusht, und zwar aus durchaus wirtschaftlichen Erwägungen: Eine Lieder CD ist in der Produktion ungelich billiger als eine Opernaufnahme. Der Preis für den Konsumenten ist jedoch in beiden Fällen der Gleiche.


    Ein Liederabend- selbst wenn er nur kostendeckend sein sollte (oder nicht einmal das) ist eine ideale Gelgenheit die Brücke zwischen Interpret und seinem Publikum zu schlagen, Der Hörer hat ein "intimes " Erlebnis, das mit anderen Genres der Klassik - Solo-Klavierabende mals ausgeklammert . nicht erreicht werden kann.


    Tendenziell spricht auch einiges für mein These. Schauen wir mal wie vilee Schubert Liederzyklen zur Zeit Fischer-Dieskaus und Preys am Markt waren, da gabe es noch Fritz Wunderlich und Peter Schreier, eventuell solllte man noch Gerard Souzay nennen.


    Heute aber ist die Palette an Sängern die sich dem Lied verschreiben - ungleich vielfältiger - wenngleich meiner Meinung nach nicht ganz so hochkarätig wie einst....


    mfg aus Wien


    Alfred










    einerseits im Politischen (Nationalsozialismus/Faschismus oder Kommunismus), andererseits im wirtschaftlichen (Kapitalismus). Und diese Masse und auch der Massengeschmack bestimmt weiterhin unser Dasein. Dies ist durchaus verständlich, da die relativ kritiklose Masse als Käuferschicht im Kapitalismus dringend gebraucht wird.

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Diesen zweiten Versuch mache ich nicht, weil ich partout recht behalten möchte, sondern weil mich der resignative Grundton bedrückt, der bei euch beiden, lieber Alfred und lieber Gustav, unüberhörbar ist.
    Ich versuche es mit Fakten, die ich möglichst wenig kommentiere (aus dem genannten Grund).


    Wenn Dein Bild von der manipulierbaren Masse der Wirklichkeit entspräche, lieber Alfred, dann wäre in der Tat Hopfen und Malz verloren. Die Wirklichkeit sieht, Gott sei Dank, anders aus.
    Schau Dir mal die Ergebnisse der Regionalwahlen in Frankreich an. Sarkozy hat gewaltig eine auf die Mütze gekriegt und muss reagieren.
    Schau dir die Politik unserer Kanzlerin an. Sie musste ihren Kollegen von der EU gegen das Schienbein treten, weil sie genau weiß, dass die Wähler in Deutschland gegen eine finanzielle Unterstützung Griechenlands sind. Sie macht längst eine Politik, die das Gegenteil von dem ist, was sie auf dem Dresdner Parteitag der CDU verkündet hat.


    Kurz: Die Politiker lassen die Wähler keineswegs nach ihrer Pfeife tanzen. Es ist genau umgekehrt. Und wenn einer falsch tanzt, wie Guido Westerwelle, stürzt er demoskopisch in den Abgrund. Man weiß längst aus Wahlanalysen, dass der überwiegende Teil der Wähler in Deutschland gut informiert ist und seine Wahlentscheidungen sehr bewusst trifft.


    Es trifft zu, dass der Bildungsstand der Haupt- und Realschüler in Deutschland eine Katastrophe ist. Da hast du leider recht, Gustav! Aber die Bildungselite, aus der die künftigen Liebhaber des Kunstliedes hervorgehen könnten, kommt ja aus den Gymnasien.

    Dazu folgende Anmerkung.
    Die Bildungsinhalte, die an Gymnasien vermittelt werden, orientieren sich nicht an den Prinzipien kapitalistischen Denkens. Die Wirtschaftsverbände haben, wie alle anderen gesellschaftlich relevanten Gruppen, bei der Erstellung von Bildungsplänen nur ein Anhörungsrecht, und ihre Einwände werden sehr kritisch geprüft. Ich weiß, wovon ich rede.
    Lies mal, Gustav, was für die Jahrgangsstufe 12/I für das Fach Musik in den hessischen Gymnasien vorgeschrieben(!) ist:


    "Thema: Musik und Sprache.
    Sprachlicher Inhalt und musikalischer Ausdruck im Lied (Volkslied, Kunstlied, Wort-Ton-Verhältnis, Rolle der Begleitung ...);
    Sprachbehandlung in der Oper (Rezitativ, Arie, Endemble);
    Zwei unterschiedliche Opernkonzeptionen (z.B. Opera seria, Opera buffa, Nummernoper ...);
    Opernausschnitt, Gestaltung einer Szene (...);
    Aktuelle Strömungen in sprachlich- musikalischen Idiomen von Pop und Rock (...);
    Emanzipation der Stimme als Ausdrucksmöglichkeit in der Musik des zwanzigsten Jahrhunderts (...)."


    Es trifft nicht zu, dass meine Behauptung, an hessichen Gymnasien werde ein z.T. vorzüglicher Musikunterricht geleistet, nur punktuelle Gültigkeit habe. Ein wenig Einblick habe ich auch in Baden-Württemberg und Bayern. Da ergibt sich ein ähnliches Bild.


    Und schließlich noch ein Zitat.
    Ich habe mal nachgelesen, was noch praktizierende Liedinterpreten zur Zukunft des Kunstliedes zu sagen haben (in: Sabine Näher, Das Schubertlied und seine Interpreten, Stutgart 1996). Die dürften ja schließlich kompetent sein.
    Dort meint z.B. Thomas Hampson:


    "...Aber der Klage, diese Veranstaltungsform (des Liederabends) stürbe aus, schließe ich mich keinesfalls an. Mag sein, dass wir gerade in einem Tal sind; mag sein, dass andere Formen des Liederabends kommen werden, aber er wird sicher Bestand haben. Man muss auch zur Kenntnis nehmen, dass die Bandbreite an Veranstaltungen heute größer ist als je zuvor! Das Publikum, das in den sechziger und siebziger Jahren einen Liederabend besuchte, hatte längst nicht so viele Alternativen. Insofern dürfte es ein normaler Prozess sein, wenn die Zahlen in den letzten Jahren abnahmen. (...)" (a.a.O, S.108)


    Du hast ja zu Recht darauf hingewiesen, lieber Alfred, dass es heute mehr Liedinterpreten gibt, die einem breiten Publikum (auch über CDs und die Medien) bekannt sind, als dies zur Zeit eines Fischer-Dieskau der Fall war.


    Ich bitte um Entschuldigung für diesen langen Beitrag. Aber wie ich sagte: Die tiefe Resignation, der ich hier begegnete, bedrückte mich und war für mich wie ein Appell zum Reagieren.

  • Lieber Helmut!


    Zitat

    Ich bitte um Entschuldigung für diesen langen Beitrag.


    Gott bewahre, fang bitte damit nicht an. Ich habe deinen Beitrag mit großem Interesse gelesen und er konnte auch gar nicht lang genug sein.


    Ich habe natürlich wirklich eine eingeschränkte Sicht, was die Schüler angeht. Daher freut es mich besonders, wenn an Gymnasien wenigstens die Lehrpläne noch anders aussehen. In Hamburg bin mir da allerdings nicht so sicher und außerdem gibt es immer einen Unterschied zwischen Lehrplan und der eigentlichen Praxis. Aber immerhin. Lehrer, die diesen Lehrplan ernst nehmen, könnten viel erreichen.


    Zitat

    Es trifft zu, dass der Bildungsstand der Haupt- und Realschüler in Deutschland eine Katastrophe ist. Da hast du leider recht, Gustav! Aber die Bildungselite, aus der die künftigen Liebhaber des Kunstliedes hervorgehen könnten, kommt ja aus den Gymnasien.


    Aber ist das Durchschnittsniveau an unseren Gymnasien wirklich so besonders? Ist es immer noch von einer entsprechenden Bildung geprägt?


    Zur Politik: Inwieweit Politiker einer Masse folgen, die schon durch und durch manipuliert ist, ist allerdings eine Frage, die man genauer diskutieren müsste.


    :hello: von einem aber nicht mehr ganz so pessimistisch gestimmten Gustav

  • Je länger ich mir Alfreds Denkmodell Nr.3 durch den Kopf gehen lasse, desto mehr kann ich ihm abgewinnen. Es trifft ja wirklich zu, dass die Kosten für die Produktion einer Lied-CD wesentlich geringer sind als für die Aufnahme einer Sinfonie, von der Oper nicht zu reden.

    Im Grunde kommt es dann nur noch darauf an, das ein Sänger oder eine Sängerin genügend Star-Image angehäuft hat (was ja bisher in vielen Fällen immer geklappt hat), damit ein Produzent sich ein Geschäft mit ihm/ihr versprechen kann. Liederabend und CD könnten dann wie üblich in eine wechselseitige Promotion-Relation treten.
    Es spricht eigentlich nichts dagegen, dass die Zukunft des Kunstliedes so aussehen könnte.


    Alles hängt freilich davon ab, dass es auch künftig noch Hörer, bzw. Liebhaber des Kunstliedes gibt. Das Bildungsbürgertum, aus dem sie sich rekrutieren, wird zwar, wie die Soziologen prognostizieren, zahlenmäßig abnehmen, aber es wird nicht verschwinden.
    Es ist richtig, dass die Bildung, die der Gymnasialunterricht heute vermittelt, nicht mehr die Breite aufweist, die er vor zwanzig, dreißig Jahren etwa noch hatte. Hier hat Gustav durchaus recht. Aber die Schüler haben heute die Möglichkeit, in Leistungskursen wesentlich breitere und tiefer reichende Kenntisse im Fach Musik zu ewerben, als dies damals der Fall war.


    Nicht lassen möchte ich auch von meiner These von der Attraktivität der Nische. Es spricht meines Erachtens sehr viel dafür, dass es auch künftig Menschen geben wird, die sich nach Orten sehnen, an denen sie der Hektik, der vordergründigen Bilderflut und dem Lärm der modernen Welt für eine gewisse Zeitspanne entkommen können, um zu sich selbst zu finden und eine innere Bereicherung zu erfahren. Das Kunstlied ist ein solcher Ort par excellence.


    Mit meinem Optimismus hinsichtlich der Zukunft des Liedgesangs befinde ich mich, wie ich (beim Studium des Buches: Das Schubert-Lied und seine Interpreten, von Sabine Näher) zu meiner Freude feststellte, in guter Gesellschaft.
    Die meisten, die sich professionell mit dem Kunstlied beschäftigen (oder beschäftigten), sind durchaus optimstisch. Eine Ausnahme bildet lediglich Olaf Bär. Er sieht "in der Zukunft große Probleme".

    Anders Juliane Banse. Sie meint, dass es sogar "eine Entwicklung hin zu mehr Liederabenden" gebe und begründet das mit der Vielzahl der nachwachsenden Sänger.
    Darauf gründet sich auch der Optimismus von Dietrich Fischer-Dieskau.
    Matthias Görne hofft: "Das - begrenzte - Publikum wird aber kommen, wenn die Sänger übetrzeugend sind."
    Graham Johnson argumentiert (ähnlich wie ich mit meiner Nischen-These): "Meine Hoffnung ist, dass gerade in unserer technisierten, vereinheitlichten Welt plötzlich das Bedürfnis nach etwas wie dem Lied auftaucht: Es hat eine magische Qualiät - und damit unserer kalten Computer-Zeit etwas entgegenzusetzen." (a.a.O. S.134f.)
    Und schließlich Thomas Quasthoff: "Wo sonst kann man diese Ruhepole finden? Die Kunstgattung Lied trifft - wenn der Interpret gut ist - das Publikum besonders tief, eben weil der Sänger die Zuhörer so unmittelbar anspricht." (a.a.O., S.168)


    Ich hoffe, dass ich mit diesem neuerlichen Beitrag bei meinen lieben Liedfreunden Alfred und Gustav etwas Licht in die Schatten gebracht habe, die sich ( zu meinem Leidwesen! ) bei ihnen über die Zukunft des Liedgesangs gelegt haben.

  • Zitat

    Original von Helmut Hofmann
    Ich hoffe, dass ich mit diesem neuerlichen Beitrag bei meinen lieben Liedfreunden Alfred und Gustav etwas Licht in die Schatten gebracht habe, die sich ( zu meinem Leidwesen! ) bei ihnen über die Zukunft des Liedgesangs gelegt haben.


    Lieber Helmut!


    Das hast du durchaus, wenigstens ein bisschen. ;)


    Natürlich haben Quasthoff und Jonson vollkommen Recht und du auch. Es wird die Nische geben und sie ist wichtig. Hoffen wir nur, dass die Menschen bis dahin nicht völlig zugekleistert sind und sich noch öffnen können für das Stille, Intime. Eigentlich geht die Entwicklung bei Menschen ja immer in die andere Richtung. Ist ein Reiz nicht mehr stark genug, erfolgt selten eine Umkehr, sondern es wird ein noch stärkerer Reiz gesucht.


    Also muss man das "Fähnlein der sieben Aufrechten" spielen und immer wieder Werbung machen, damit die Menschen sich überhaupt noch erinnern, dass es so etwas wie Liedgesang gibt, dass es eben Alternativen zum gegenwärtigen Leben gibt.


    :hello: Gustav

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  • Hallo,


    wenn ein großer bekannter Sänger oder Sängerin einen Liederabend gibt, wird der Saal voll. Mann kennt er/sie von der Opernbühne und möchte diesen Sänger hautnah erleben. Oft ist es pure Neugierde, wie gibt sich der Sänger ohne Konstüm und Maske, hält er das was er auf der Opernbühne verspricht?
    Man hängt an seinen Lippen, hat vielleicht sogar Augenkontakt...alles sehr spannende Momente die ein Besucher das nächste Mal wieder einen Liederabend besuchen läßt, mit anderen bekannten Sängern.


    Liederabende von "nicht bekannten" Sängern dagegen, werden eher selten besucht, die Zuhörer bleiben aus, es ist nicht mehr interessant.


    Wer allerdings sich für die Literatur ansich interessiert, geht auch zu den Liederabenden wenn der Sänger nicht so bekannt ist, doch viele Plätze bleiben leer.


    Der Durchschnittssänger hat kaum eine Chance ein volles Haus zu bekommen.


    Ich war bei einem Liederabend von Barbara Bonney, der Saal platzte aus allen Nähten. Ein Liederabend bei einem sehr guten, doch nicht so bekannten Kollegen, war genau das Gegenteil.


    Dennoch behaupte ich, Liederabende sterben nicht aus, sie sind nicht so gefragt und das Interesse bewegt sich in kleinen Gruppen, schade eigentlich.

  • Liebe Musica,


    dieselben Beobachtungen mache ich auch bei uns, die von dir beschriebene Gesetzmäßigkeit scheint überregional gültig zu sein.


    :hello:

    Freundliche Grüße Siegfried

  • Liebe Musica!


    In Hamburg an der Staatsoper kommt noch ein weiteres Phänomen hinzu. Hier gingen die Besucherzahlen auch bei renommierten Sängern immer weiter zurück, bis die Liederabende dann vollkommen eingestellt wurden.


    Woran mag das liegen? Ich denke, dass eine Tradition von Liederabenden, und die hatte Hamburg, nicht abreißen darf und das man sie intensiv pflegen muss. Sonst bleibt das mögliche Publikum im Hause. Zudem traten in Hamburg immer häufige Sänger auf, die man in Opernaufführungen nie gesehen hat. Das muss sich aber gegenseitig ergänzen. Begeistert ein Sänger in der und der Rolle, sind viele bereit, dann noch einmal den Weg ins Opernhaus zu machen, um einen Liederabend anzuhören.


    Kurzum: Liederabende müssen gepflegt werden, die Intendanz muss dahinter stehen und man braucht auch den entsprechenden Raum.


    :hello: Gustav

  • Lieber gustav,


    ja, du hast volkommen recht, Liederabende müssen gepflegt werden, doch warum gehen diese Konzerte zurück? Woran liegt es? Es müssen wirklich schon Stars sein die weltbekannt sind, dann wären die Säle voll.


    Wir hatten vergangenen Monat einige Konzerte in Graz, darunter ein Liederabend. Doch obwohl wir nicht bekannt sind waren immerhin in einem sehr kleinen Kammermusikraum über 60 Zuhörer. Ist das viel? Uns hat es gereicht, hier in München wären es sehr wenige gewesen, wie ich es schon bei einem Kollegen erlebt habe, machmal singen sie für sich selber.


    Es hat sich im Laufe der Jahre vieles geändert. Zu meiner Zeit, vor ca. 20 Jahren, sah alles noch anders aus. Meine Liederabende wurden viel besucht, es hat sehr viel Spaß gemacht vor vollem Haus zu singen. Wohin ist diese schöne Zeit, ich weiß es nicht.

  • Liebe musica!


    In Hamburg wurde diese Querverbindung zwischen Oper und Lied einfach nicht mehr gepflegt, weil man Sänger ab einer bestimmten Größenordnung einfach nicht mehr einlädt. Und das schon seit den 90iger Jahren.


    Es würde sicherlich aber auch noch funktionieren, wenn man z.B. Bartoli und Quasthoff einladen würde, dann könnten nicht ganz so namhafte Sänger danach davon pofitieren, dass Liederabende einmal wieder ins Bewusstsein des Publikum gebracht wurden.


    Apropos Publikum. In den letzten 15 Jahren hat es sich in Hamburg sehr verändert. Seitdem der Schwerpunkt in Hamburg von Sängern hin zum Regietheater verlagert wurde, fehlt das süchtigmachende Element, das Zuschauer drei-, viermal in die selbe Oper einer Serie treibt. Und die sind dann, geradezu "angefixt", auch in Liederabende gegangen.


    Ich habe das Gefühl, ein Großteil des Publikums geht heute ab und an in die Oper, würde einen Liederabend aber eher meiden, weil die Sänger, den der Zuschauer live erlebt hat, nicht sonderlich beeindruckend waren.


    :hello: Gustav

  • Ich kann natürlich keine Universalrezepte bieten, aller allein, daß ich es geschafft habe zu erkennen, daß in unserem Forum das Potential für Liederthreads noch durchaus vorhanden ist - und dieses Potential dazu verwendet habe diesen Bereich wieder langsam in Fahrt zu bringen, zeigt, daß es auch in der Realität nöglich sein müsste hier vorhandenes Interesse zu befriedigen und auszubauen. Denn eines ist sicher- ohne Lokomotiven auf diesem Gebiet geht es einfach nicht. Der Zufall hat uns einige Neumitglieder beschert, die dieses Thema erklärtermaßen interessiert, und mein Verdienst besteht lediglich darin, daß ich dies erkannt habe und die Rahmenbedingungen für ein Aufleben dieser Sparte - die mich selbat interessiert - geschaffen habe. Nun haben Mitgieder, die das Thema zwar interessiert hat, es aber für nicht durchsetzbar gehalten haben - zum Teil auch auf Grund ihrer Erfahrung aus dem Konzertleben - die Signale gesehen und sich wieder motiviert dem Kreis angeschlossen.


    Aber machen wir uns nichts vor- Die Anzahl der Mitleser auf diesem Gebiet ist derzeit (noch ?) gering.
    Das mag unter anderem auch daran liegen, daß man derlei im Internet gar nicht vermutet, oder aber dien Rückgang dieser Sparte auch bei Tamino zu sehen glaubte.
    Wie dem auch sei - Aufbau von Segmenten in der klassischen Musik ist immer mühsame Kleinarbeit - und geht typischerweise LANGSAM vor sich. LANGSAMKEIT ist aber überall dort nicht erwünscht, wo SCHNELL Geld gemacht werden soll, Liederabende sind dazu nicht geeignet.
    Das hat dazu geführt, daß viele Musikmanager diesen Bereich erst gar nicht bewerben bzw behandeln, und daß sich Sänger von ihm fern halten - so sie können.


    Warum unbekannte Stimmen bei Liederabenden wenig Chancen haben, bzw wie man deren Chancen verbessern kann, darüber werde ich - bei Interesse in einem meiner nächsten Beiträge in diesem Thread schreiben


    mfg aus Wien


    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Zitat

    Original von Alfred_Schmidt
    Warum unbekannte Stimmen bei Liederabenden wenig Chancen haben, bzw wie man deren Chancen verbessern kann, darüber werde ich - bei Interesse in einem meiner nächsten Beiträge in diesem Thread schreiben


    Mit freundlichen Grüßen aus Wien


    Alfred


    Das ist ja das, was ich in einem anderen Forum schon geschrieben habe, wie wird man bekannter und wie macht man Werbung für weniger bekannte Sänger? Ich setze diesen Beitrag hier noch mal rein:


    Musiker auf der Grenze
    Sie leben nicht davon, doch sie leisten Beachtliches


    Zwischen den professionellen Musikern und den Liebhabern hat sich in den letzten Jahrzehnten eine Zwischengruppe herausgebildet, die weder in die eine noch in die andere Gruppe passen. Sie bestreiten ihren Lebensunterhalt nicht von dieser Tätigkeit, aber sie musizieren auf einem Niveau, das oftmals an das von Berufsmusikern heranreicht, so hoch auch der Anspruch ist, der an letztere gestellt wird. Dies lässt sich im Bereich der (Kammer-)Chöre wie auch in vergleichbaren Instrumentalensembles beobachten. Oft ist die Grenze nur schwer auszumachen, wie mehrfach ein Frankfurter Wettbewerb für Laienmusiker ergab: Ist eine Sängerin mit klassischer Ausbildung als Laie einzustufen, nur weil sie mittlerweile Ehefrau und Mutter wurde und nur sporadisch auftritt?


    Wie auch immer, entscheidend ist die Lebensqualität, die der aktive Umgang mit Musik für einen Erwachsenen bringen kann, umso leichter, wenn nicht die Existenz von der erfolgreichen Aufführung abhängt. Wie viele haben sich in ihrer Jugend gewünscht, ein Instrument zu spielen, oft taucht dieser Wunsch wieder auf, wenn eigene Kinder problemlos eine derartige Möglichkeit erhalten, manchmal ohne sie recht zu würdigen. Eine andere Situation tritt ein, wenn das Ausscheiden aus dem Beruf plötzlich Freiräume öffnet; ein Aspekt, der in den letzten Jahren immer mehr an Bedeutung gewonnen hat.


    Eine lange Tradition hat die Pflege in Chören, vom ländlichen Gesangverein bis zum Oratorienchor; hier bietet das Kollektiv dem Einzelnen Schutz und Deckung. Anders sieht dies beim Sologesang aus, hier geht es nicht ohne eine langjährige systematische Schulung. Doch dann taucht das nächste Problem auf: Wo finden sich angemessene Auftrittsmöglichkeiten? Gewiss bieten sich Gelegenheiten im kirchlichen Rahmen, bei Chorkonzerten oder literarischen Veranstaltungen. Doch verlangt dies ein Netzwerk an Kontakten, wenn die Auftritte nicht allzu selten werden sollen. Hier sann eine ehemalige Sängerin auf Abhilfe. Fünf Jahre ist es her, dass Jemand einen lockeren Verbund von Sängern begründete, die sich regelmäßig zu Arbeitstagen oder Konzerten treffen. Die modernen Medien machen es möglich, dass man sich über große Entfernungen hinweg unter dem Motto „Bel Canto Ensemble“ hinweg zu gemeinsamen Projekten vereinigt. Auszuräumen ist hier ein naheliegendes Mißverständnis: der Begriff „Ensemble“ meint nicht einen Chor sondern eine Vereinigung von Solisten, die sich allenfalls gelegentlich zu Duetten oder größeren Ensembles zusammenfinden, in der Regel aber solistisch auftreten. In den vergangenen Jahren kam eine stattliche Reihe erfolgreicher Veranstaltungen zusammen, wie Konzerte und workshops. Darüber hinaus bietet das Ensemble seinen Mitgliedern vielfältige Unterstützung für Fragen zum Repertoire, zur Präsentation auf dem Podium oder auch bei der Vermittlung geeigneter Gesangspartner.


    Angesichts derartiger eindeutiger Erfolge ist es erstaunlich, dass diese einzigartige Initiative noch immer nicht die Förderung erfährt, die sie zweifellos verdient. Was eine Person fast täglich an Zeit und Energie aufwendet, um die einzelnen Veranstaltungen zu organisieren, geeignete Räumlichkeiten und Instrumente, Dozenten und Teilnehmer zu finden, lässt sich ohnedies nicht in Euro und Cent aufrechnen. Hätte sie das Gleiche in einem städtischen Rahmen geleistet, so wäre sie längst mit dem Kulturpreis oder der Ehrenbürgerschaft ihrer Gemeinde ausgezeichnet worden. Doch über viele Hunderte von Kilometern verpufft die Wirkung. Es gibt so viele Kulturförderungen. Doch wer schlägt sie für eine Maßnahme vor? Viele Mitglieder sind dankbar für die Möglichkeit, in attraktivem Rahmen aufzutreten. Aber sie können (und wollen?) nichts dazu beitragen, dass dieses Angebot bekannter wird. Bisher spielt sich alles in einer verkehrten Welt ab. Schließlich darf es nicht heißen „Was kostet es, wenn wir hier auftreten?“ sondern „Was ist es Ihnen wert, wenn wir in Ihr Haus ein attraktives Konzert bringen?) Erst vor kurzem gestaltete das Ensemble ein ansprechendes Konzert in Hamburg - als Benefizkonzert! Dort wurde sie mit einem Verdienstkreuz am Bande in Gold durch den Freundeskreis Hoch- und Deutschmeister Mannheim / Baden für ihr besonderes Engagement bei Benefiz Konzerten und für die Wahrung der künstlerischen Gesangstradition der Ehrenpreis "ERWORBENES ERHALTEN"


    Wer aber sammelt für die Kosten des Ensembles: die Reisespesen, den Pianisten usw?
    Quelle: Gerhard Schroth, Musiker auf der Grenze
    Sie leben nicht davon, doch sie leisten Beachtliches


    Wer aber sammelt für die Kosten des Ensembles: die Reisespesen, den Pianisten usw?


    Quelle: Gerhard Schroth, Eschborn, Rezensent und Pianist


    Wenn schon bei bekannten Sängern kein Interesse mehr besteht Liederabende und andere Konzerte zu besuchen, was sollen dann diese Semi Profis machen?

  • Lieber Gustav :



    musica betrachtet die Situation sein Kenntnisreich aus ihrer jahrelangen eigene praktischen Erfahrung als Sängerin , Gesangspädagogin .Ich denke , dass ihre Ausführungen hier mehr als nur lesenswert sind . Man muss darüber ernsthaft nachdenken .


    Bei ihr geht es primär um gelebte und geliebte Musik aus der Erfahrung heraus einer selbst aktiven Sängerin , die viele Jahre überschauen kann .
    Dies verdient grossen Respekt und auch Dank .



    Ich kenne und liebe gerade Hamburg mit seiner enormen Vielfalt seit meiner Kindheit . Und f r ü h e r hätte ich mir keinen Besuch in Hamburg vorstellen können , ohne in einem Konzert , der Oper , Thalia - Theater oder Deutschem Schauspielhaus gewesen zu sein .


    H e u t e stellt sich vieles leider ganz anders dar . Meiner Meinung nach gehen die Besucher doch sehr gezielt in die doch insgesamt selteneren Aufführungen ( selbst in der stolzen Stadt Hamburg ) , in denen eine Bartoli oder Quasthoff singen . Ob da dann noch " Lust " auf kleinere , oft völlig unbekannte Namen besteht ? Ich bezweifle dies .


    Und es ist doch wohl Tatsache , dass es nach meiner Wahrnehmung in den beiden genannten Sprechbühnen schon seit über 20 Jahren nicht mehr diese Kraft gibt, die auch den nicht in Hamburg lebenden Kunstfreund unbedingt dorthin zieht, weil man sicher sein kann , grosse Schauspielkunst erleben zu können .


    In der Hamburger Oper gab es doch enorm viele grosse Opernabend e auch als Ensembelleistungen - dies halte ich für sehr wichtig ( Du betonst dies ja auch in Deinem Thread " Maria Callas - live " ständig ) - und nicht nur Abend emit einem "Star " als einmaligem Gast , bei der / dem hinter dem Namen dann meist steht : a. G. .


    Das " süchtigmachende Element " waren doch diese grossen , bewegenden , nachhaltigen Abende gewesen . Vielleicht auch einmalige Auftritte von ganz herausragenden sog. Weltstars , wobei dieser Terminus sicherlich inflationär gebraucht wird .


    Und woher soll man die bedeutenden Sängerinnen und Sänger nehmen , die doch eher dünn gesät sind im Vergleich zu den früheren Jahren ( Domingi hat seine Karriere etwa zeitgleich in Hamburg begonnen als Flaviano Labò seine letzten bedeutenden Abende gegeben hat - dies ebeiden Tenöre nur als ein Beispiel .


    Zwei Tage nach einer Aufführung heute ( Premiere oder Wiederaufnahme ) lesen wir d unglaublich viele ( überflüssoige ) Zeilen über Bühnenbilder , Kostüme ,Lichteffekt u. v. a. m. . Aber wir lesen kaum etwas differnziertes in den rezensionen über die einzelnen Leistungen der Sänger oder Schauspielr und Dirigenten .


    Wir haben seit Jahren auch eine Krise in der Berichterstattung von Format !


    Beste Grüsse



    Frank

    Frank Georg Bechyna
    Musik & Medizin

  • Das von Musica angesprochene Problem ist ein anderes - hat mit dem Liederabend von unberkanntem Interpreten nur indirekt etwas zu tun.


    Das Problem ist eine so komplexes, daß es mir kaum lösbar erscheint.


    Meiner Meinug nach gehen Leute dienur zu Berühmtheiten in Liederabende gehen, eigentlch nicht zu eingem Liederabend, sondern sie wollen einem bestimmte Interpreten möglichst nahe sein, das "Schnuppern am großen Sänger" ist hier das Motiv.


    Ein weiteres Problem ist das des Wettbewerbs.
    Man hat heute den Eindruck, daß die leute nicht in ein Konzertz gehen um ein Werk zu hören, sondern es "vom Besten" zu hören. Hibei haben schon die heutigen Interpreten an sich ein Problem, so berühmt sie auch sein mlgen - sie müssen gegen die Größen der Vergangenheit - stimmlich oft durch raffinierte Studiotechnik geschönt - antreten.


    Das hat nicht mal hermann Prey geschafft. Bei einem Livekonzert (Winterreise) vor etlichen Jahren konstatierte ich, daß seine Stimme längst nicht so füllig und wohlklingend in der unteren Lage war, wie ich es von meiner Aufnahme im Gedächtnis hatte......


    Ein Liederabend entlarvt meiner Meinung jede noch so kleine Schwäche der Stimme, und das sind die heutigen Hörer - CD- verdorben - nicht mehr bereit zu akzeptieren.


    Ich bin davon überzeugt, daß es einen Weg gibt unbekante GUTE Stimmen zu promoten, und anschliessen Säle mit ihnen zu füllen. Eine Präsentation im Internet wäre eine denkbare Lösung, eine Seit wo nicht so bekannte künstler ihre Stimme an Hand winziger Häppchen dem interessierten Publikum präsentieren könnten.


    So etwas war bei Tamino bereits mal angedcht, jedoch hat sich das Projekt dann zerschlagen....


    mfg aus Wien


    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Da das klassische Kunstlied für mich der Einstieg in die Klassik überhaupt bedeutet hat, möchte ich meine Meinung zu diesem Thema auch sagen.
    Meine Mutter hatte eine sehr schöne Sopranstimme und sang, ohne Noten , aus dem Kopf , zu Hause bei der Hausarbeit Kunstlieder (nicht Küchenlieder).
    Ich bin selber begeisterter Chorsänger geworden und hatte einige Jahre Gesangsuntericht. Da fing man mit Lieder an, nachdem die ersten technischen Probleme behoben waren. So begann meine Begeisterung für das Kunstlied. Damals gab es in jedem Konzertzyklus in den unterschiedlichen Städten immer einen Liederarbend - heute nicht mehr einen einzigen ! Die Veranstalter begründeten das damit, dass die Hörer nur kämen, wenn Dieskau, Prey, Schwarzkopf u.ä sängen, nach deren Ausscheiden aus dem aktiven Sängerleben schlug ich mal z.B. Margare
    t Price vor - Antwort "aber die kennt doch niemand" !!
    Lieber Herr Schmidt - sie schreiben weiter oben, dass damals doch nur die wenigen berühmten Sänger Lieder sangen, heute doch viel mehr --
    ja, es gibt eine Menge , die sich mit Liedgesang befassen, aber neben den von Ihnen genannten gab es damals doch auch noch, Rothenberger, Janowitz, Ludwig, Dermota, Seefried, Haefliger, Stader, Köth und und ... also doch gar nicht so wenige.
    Heute sind es wirklich eher "Nischen" wo noch der Kunstliedgesang gepflegt wird, wie Schwarzenberg/Hohenems und einige kleine Festivals.
    Wir haben hier das Glück, das mehrmals im Jahr Studierende der Musikhochschule Detmold mit einem Lied-Professor Konzerte veranstalten, so dass wir immer die Möglichkeit haben, Lieder zu hören.


    Ansonsten teile ich auch eher die pessimistischen Gedanken der meisten Forumteilnehmer, dass die langsam schwindende Bildung in der Bevölkerung das Verständniss und die Liebe für Liedgesang minimieren wird. Wer kennt denn heute noch die Texte der Lieder, da niemand mehr Gedichte lernt oder auch nur liest.
    Bei der Vorliebe der jungen Leute für grosse Lautstärken bleibt halt das kleine Lied auf der Strecke !

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  • Im Feuileton DIE ZEIT vom 17. Februar 2011 eröffnet Christine Lemke-Matwey ein Gespräch mit Matthias Goerne so:


    "Herr Goerne, sind Liederabende heute noch zeitgemäß? Passt es noch in unsere Welt, wenn auf der Bühne nichts als ein schwarzer Konzertflügel steht und ein Sänger Lieder von Franz Schubert vorträgt?"


    Ob die fragende Dame vielleicht Bostridges "Winterreise"- DVD im Kopf hatte, wo es auf dem DVD-Cover heißt: "Szenenaufbau, Schauspieler, Kostüme und Requisite vermitteln dem Liederzyklus eine neue hautnahe Dynamik"?


    Oder vielleicht die Winterreise-"Bearbeitung" von Regisseur Santiago Páles, der Markus Eiche am Nationaltheater Mannheim (2003) mal zu Turnübungen im Verlaufe der 24 Lieder verholfen hat?


    Nichts als ein schwarzer Konzertflügel und ein Sänger, der Schubert singt ... dieses Nichts lässt zumindest tief blicken ...


    Im Verlaufe des Gesprächs sagt Matthias Goerne u.a.:


    "Es müssen Leute zusammenkommen, die wirklich arbeiten wollen und nicht bloß das nächste Event bedienen. Mich macht diese Eventsucht krank. Sie hinterlässt eine furchtbare Leere."


    Freudige Mitteilung für Liedfreunde:


    Es wird aktuell gearbeitet - seit gestern ist die Lied Akademie (Künstlerischer Leiter Thomas Hampson) in Heidelberg am Wirken, u.a. sind auch Barbara Bonney, Christian Gerhaher, Dietrich Fischer-Dieskau und Wolfgang Rieger mit von der Patie ...
    Schon heute freue ich mich auf das Abschluss-Konzert der neuen Generation am 27. März 2011, 11:00 Uhr, Alte Aula, Universität Heidelberg.

  • Ein überaus bedenkenswerter Satz, den ich da eben in harts Beitrag finde:


    "Es müssen Leute zusammenkommen, die wirklich arbeiten wollen und nicht bloß das nächste Event bedienen. "


    Ich, - das ist ist ein Mitglied eines Forums, das sich der hörenden, interpretierenden und diskursiven Pflege des Kunstlieds verschrieben hat.


    Denkt jedenfalls dieses Mitglied.

  • Und nun freue ich mich auf eine angeregte Diskussion, in der Hoffnung, dass ihr mir meinen Pessimismus ausreden könnte.

    Recht optimistisch komme ich heute von einer Liedmatinee im Rahmen des HEIDELBERGER FRÜHLING. Soweit ich das sehen konnte, waren alle 1.250 Plätze besetzt.
    Es konzertierten Thomas Hampson und Wolfram Rieger - das Publikum war begeistert!


    Neben sechs Schubert-Liedern wurden Werke von Clara Schumann, Robert Schumann, Robert Franz, Franz Liszt, Wilhelm Kienzl, Charles Ives, Alban Berg, Edward MacDowell und Gustav Mahler angeboten.


    An gleicher Stelle hörte ich vor etwa 50 Jahren die Herren Dietrich Fischer-Dieskau (sollte auch heute als Gast da sein, ist aber leider erkrankt) und Hermann Prey.
    So betrachtet ... hat sich eigentlich nichts verändert ... ;)

  • Anschließend an diesen Beitrag möchte ich noch eine positive Nachricht verbreiten:
    Die Lied Akademie im Rahmen des HEIDELBERGER FRÜHLING war ganz offensichtlich ein großer Erfolg. Das sind ja keine Spekulationen oder Vermutungen, sondern akustisch und optisch wahrnehmbare Tatsachen.
    Beim Abschlusskonzert der acht Stipendiaten (4 Mezzosopran, 2 Sopran, 2 Bariton) war die Alte Aula der Universität rappelvoll.


    Und weil oft behauptet wird, dass im Liederabend eigentlich nur Schubert und Schumann zu Gehör gebracht werden, seien hier auch einmal die Komponisten dieser Lied-Matinee mit 29 Liedern genannt:
    Johannes Brahms (zwei), Walter Braunfels (1), Franz Liszt (drei), Gustav Mahler (1), Wolfgang Amadeus Mozart (1), Henry Purcell (1),
    Arnold Schönberg (1), Franz Schubert (drei), Clara Schumann (zwei), Robert Schumann (acht), Richard Strauss (fünf), Hugo Wolf (1).


    An Alfreds Aussage, dass das Publikum am großen Sänger schnuppern möchte, ist bestimmt was dran - in diesem Falle war Thomas Hampson der spiritus Rector und die Attraktion - aber die meisten Leute wären wahrscheinlich auch so gekommen, um die jungen Leute singen zu hören. Dessen ungeachtet ist jedoch nicht zu befürchten, dass Liederabende zu Massenveranstaltungen werden - und das ist gut so!

    Zitat


    Meiner Meinug nach gehen Leute dienur zu Berühmtheiten in Liederabende gehen, eigentlch nicht zu eingem Liederabend, sondern sie wollen einem bestimmte Interpreten möglichst nahe sein, das "Schnuppern am großen Sänger" ist hier das Motiv.

  • Hallo,


    um Falschinterpretationen vorzubeugen: Ich bin kein Gegner oder gar Verächter des Kunstliedes, höre es im Gegenteil sehr oft selbst und hatte sogar die Ehre, bei intimen "Hauskonzerten" von SängerInnen als Kritiker anwesend sein zu dürfen. Ich kann die Meinung, daß das Kunstlied als Gattung im Sterben liege oder dem Vergessen zum Opfer falle absolut nicht teilen ! Ganz im Gegenteil habe ich den Eindruck, daß die mediale und markttechnische Rezeption des Kunstliedes im Vergleich zu der der Oper im stärker wird. Anders gesagt: Opern-Gesamtaufnahmen oder Recitals gibt es kaum noch, Neuaufnahmen von Liederzyklen ständig neue. Wenn junge SängerInnen überhaupt noch mit CD-Aufnahmen auf den Markt kommen, dann handelt es sich um Kunstlieder. Vermutlich, weil die Produktion hier billiger ist. Außerdem sind die Aufnahmen der großen Interpreten jener Kunstform lückenlos greifbar. Ein Liebhaber kann sich allein mit den Aufnahmen von Fischer-Dieskau und Prey einen ganzen Schrank vollstellen. Ebenso werden immer mehr Liedaufnahmen von Interpreten der Vorkriegsjahrzehnte verfügbar. Unterstützt durch den ungeheuer guten Ruf, den der Liedgesang durch Elisabeth Schwarzkopf, Dietrich Fischer-Dieskau, Hermann Prey und Peter Schreier erhalten hat, ist eine jüngere Generation nachgewachsen, für die das Lied einfach unverzichtbar ist. (Hampson, Quasthoff, Schmidt, Gerhaher, Pregardien, sogar Wottrich gibt jetzt Liederabende) Es werden sogar Fachgrenzen aufgebrochen. So wurde die Winterreise inzwischen von Mezzosopranen und Sopranen aufgenommen und gesungen, die schöne Müllerin von Countertenören. Wenn heute im TV von sängerischen Nachwuchskräften die Rede ist, wird hauptsächlich über deren Affinität, ihre Leistungen und Planungen für den Liedgesang gesprochen. Wenn ich mehrere junge Baritone einer Meisterklasse im TV sehe, interessiert mich als Liebhaber der Oper auch, wo sich der Künstler in 10 Jahren sieht, als Spielbariton, Lyrischer Bariton, Dramatischer Bariton oder Heldenbariton und nicht nur, wann er seine erste Winterreise aufnehmen will. Aufnahmen der Winterreise gibt es viele gute, ausreichende Telramunds und Kurwenals wenige. Es wurden ganze Meisterklassen von Elisabeth Schwarzkopf übertragen, die dann mit den ElevInnen an jedem Ton feilte und sehr arrogant war. Nichts dagegen, aber wo ist die TV-Aufzeichnung, in der ein jüngerer Bariton Teile des Wotan oder Rigoletto übt ? Der Liedgesang hat im deutschen Sprachraum einen so hohen Stellenwert, daß er sogar in das Crossover Eingang gefunden hat. So finden sich auf der Platte von Streisand "Classical Barbra" aus den 70igern einige Kunstlieder und einige Zeit später nahm der deutsche Liedermacher Hannes Wader eine Platte mit Schubert-Liedern auf. Gerade hier in diesem Forum ist bekannt, daß der Tenor Johannes Kalpers, jetzt fast nur in Crossover unterwegs, eine beachtliche Schubert-CD aufgenommen hat. Sogar Peter Hofmann wollte nach seiner Zeit im Musical die Winterreise aufnehmen. Die Rezeption des Kunstliedes und seine Stellung ist meines Erachtens stärker denn je, daß es immer weniger Menschen gibt, die es begreifen und erfassen können, steht auf einem anderen Blatt !


    Gruß,


    Antalwin

  • Lieber Antalwin,
    aus meiner Sicht siehst Du das weitgehend richtig. Aber während ich Barbara Streisands "Verschwiegene Liebe" oder "Lascia ch´io pianga" noch akzeptieren kann, hört für mich das Verständnis für die Schubertinterpretationen eines Hannes Wader auf - es handelt sich hier ja eindeutig um Kunstlieder!
    Schubert-Lieder sollte man den Leuten überlassen - oder anvertrauen -, die tatsächlich dieser Materie auch gewachsen sind, wie zum Beispiel der von Dir erwähnte Johannes Kalpers.
    Dass Peter Hofmann die Winterreise aufnehmen wollte, habe ich auch schon mal gelesen, aber diesbezüglich hatte ja ein anderer Wagner-Sänger auch seine Schwierigkeiten, der wohl die schnellstgesungene "Winterreise" produziert hat.

  • Unlängst in einer der modischen kritischen Diskussionsrunden illustrierte der Leiter einer journalistischen Akademie den Verfall der Bildung in Deutschland wie folgt:


    Seit Jahren stelle er den Absolventen eine Fangfrage, versteckt in dem fingierten Pressebericht von "Überschwemmungen in Bolivien". Diese Meldung ist eine Absurdität, da die geographische Lage des Landes (La Paz, 3000 m ü. NN) solche Naturkatastrophen ausschließt. Noch vor 20 Jahren, so meinte der Schulleiter, hätten noch etwa 80% der Schüler diese Kenntnis eingebracht. Heute höchstens zwei oder drei, wenn überhaupt.


    Daran schloß er die bittere Einsicht, daß in einer Welt, die überall von Globalisierung rede, die Beschaffenheit dieser Welt gänzlich aus dem Blick geraten sei.


    Ich selbst, so gestehe ich, bin in Geographie keine Leuchte und ginge den Überschwemmungen sofort auf den Leim. - Um nun den Bogen zu unserem Thema zurückzuschlagen, so scheint mir, daß die Vermittlung des positiven Wissens im Schwund begriffen ist. Das bedeutete ja für die Geschichte einmal das Auswendiglernen von Daten - dreidreidrei, siebenfünfdrei usw. - Bezogen auf unser Spezialthema steht hinter einer verbreiteten Kenntnis deutscher Lyrik die harte Schule des Auswendiglernens. Ich werde nie vergessen, wie meine arme Mama mit meinem lieben Bruder "Die Heinzelmännchen von Köln" von August Kopisch einübte. "Es pispert und paspert" ... schwer zu merken, es war nicht anzusehen.


    Ich führe das bloß an, um den Irrweg einer Pädagogik grell zu beleuchten, die, um Liebe zu erwecken, Drill und Zwang einsetzt. Ich selber, der Jüngere in der Famile, habe nach der Grundschule zu meinem Bedauern nur noch wenig auswendig lernen müssen - denn ich bin in der glücklichen Lage, ein Gedicht nach bloßem Durchlesen bereits mehr oder weniger im Kopf zu haben. Früher wäre ich einer bedauernswerten Schulklasse als Vorbild einer selbstgerechten Pädagogengeneration angebiedert worden und hätte mutmaßlich (und verdient) Prügel bekommen.


    Natürlich bin ich durch Erziehung vorbelastet, denn meine Mutter hat Gedichte schon als Kind geliebt und Schiller verschlungen, mit dem man ja auch Generationen von Schulkindern das Fürchten gelehrt hat. Das Wort "Massenkultur" uneingeschränkt auf das Phänomen der Jugendkultur anzuwenden, widerstrebt mir. Entscheidend ist doch, daß die jungen Menschen erstmalig selbst entscheiden dürfen, welche Musik ihnen gemäß sei (und das war seit den 20er Jahren der Jazz). - Ich blende die heutigen Marktmechanismen, die auf diese Jugendkultur abstellen, einmal aus.


    Es war ja doch eine einsame Zeit, meine Jugend mit ihren Entdeckungen im Reich der Klassik. Daß mir diese Musik, zumal das Kunstlied, noch heute etwas bedeutet, liegt ja zum nicht geringen Teil daran, daß ich in diese Musik etwas hineingeheimnist habe von meiner existentiellen Entwicklung; daß diese Musik mir zur Seite stand und Antwort zu geben hatte auf alle drängenden Fragen (und dann noch ausgerechnet die Winterreise, beispielsweise ...).


    Helmut Hofmann, das hat mir zuletzt Bewunderung abgenötigt, hat sich seine Liebe für die Kunst des 19. Jh. ungebrochen bewahren können und nimmt die Winterreise noch immer so ernst wie ich vor 30 Jahren. - Für mich gehen der Verzicht, die Versagungen, die Bigotterie und die Härte, unter denen ganze Generationen zu leiden hatten, ein in das empfundene Glück, das es bloß auf der Höhe einer Gedichtzeile gab. Das ungeheuere Potenzial an Idelität, an Wunschdenken und hoffnungsfroher Zukunftsgeladenheit zielte seit Beethoven zumindest auf ein allgemeines Glück, das man sich nie recht verwirklicht vorstellen mochte und das deshalb so jenseitig klingt. Wir Heutigen haben einen allgemeinen Wohlstand erreicht, der noch für unsere Großväter bloß in der Oberschicht existierte; und nun gar im bedürftigen, armseligen 19. Jh.Schuberts oder im Europa der Gründerjahre.


    Wir Heutigen müssen uns diesen halb irrealen, erlsöungsbedürftigen Glücks-Idealismus der Kunst der Romantik (sehr vereinfacht gesprochen) wieder zurückübersetzen, als ginge es um etwas jenseits unserer materiellen Bedürfnis-Befriedigung. Das aber ist eine grobe Fehleinschätzung dessen, was die Künstler als Menschen damals beflügelt hat (z.B. die Verzweiflung angesichts unentrinnbarer Armut). - Man mag das allmähliche Verblassen der deutschen Lyrik der Nach-Goethezeit im Volksbewußtsein bedauern - als nationalpsychologisches Symptom geschieht es nicht ohne Fogerichtigkeit.


    :hello:

    Zerging in Dunst das heilge römsche Reich


    - uns bliebe gleich die heilge deutsche Kunst!

  • Hallo,


    vielen Dank für Deine Antwort, hart. Zu Deiner Beruhigung: Ich habe nicht gesagt, daß ich die Interpretation der Schubert-Lieder von Hannes Wader gut finde, ich habe nur auf eine Tatsache hingewiesen. Gerade weil ich Peter Hofmann sehr mag und auch durch ihn zur Oper gekommen bin, bin ich froh, daß sein Winterreise-Projekt nicht realisiert wurde. Aber würdest Du mir generell zustimmen, daß das Kunstlied sehr präsent ist ?


    Übrigens, um welchen anderen Wagnertenor handelt es sich ?


    Gruß,


    Antalwin


  • Ich selbst, so gestehe ich, bin in Geographie keine Leuchte und ginge den Überschwemmungen sofort auf den Leim. - Um nun den Bogen zu unserem Thema zurückzuschlagen, so scheint mir, daß die Vermittlung des positiven Wissens im Schwund begriffen ist.


    Das kann man in jeder Sendung von Wer wird Millionär oder anderen Quizshows sehen (ich habe die zu meiner Schande mal eine Zeitlang regelmäßig geschaut). (Die Frage mit den Überschwemmungen ist ziemlich trickreich dagegen. Es ist ja keineswegs so, dass gebirgige Gegenden grundsätzlich keine solchen Probleme haben.)


    Zitat


    Ich führe das bloß an, um den Irrweg einer Pädagogik grell zu beleuchten, die, um Liebe zu erwecken, Drill und Zwang einsetzt. Ich selber, der Jüngere in der Famile, habe nach der Grundschule zu meinem Bedauern nur noch wenig auswendig lernen müssen - denn ich bin in der glücklichen Lage, ein Gedicht nach bloßem Durchlesen bereits mehr oder weniger im Kopf zu haben. Früher wäre ich einer bedauernswerten Schulklasse als Vorbild einer selbstgerechten Pädagogengeneration angebiedert worden und hätte mutmaßlich (und verdient) Prügel bekommen.


    Warum? Du hättest doch einfach Glück gehabt und mit wenig Mühe glänzen können? Muss man denn Gedichte/Lieder auswendig wissen, um sie schätzen zu können? Dieser Zusammenhang erscheint mir nicht ganz schlüssig. Ebensowenig bin ich sicher, ob eine verordnete Liebe zur entsprechenden Lyrik das Ziel des Auswendiglernens sein sollte. Mir ging es insofern ähnlich, dass ich vergleichsweise leicht auswendig lerne und ein gutes Gedächtnis habe. Gerade daher wünschte ich, ich hätte mehr (nicht nur Gedichte, auch Vokabeln usw.) auswendig lernen müssen.
    (Ich bin wohl ein paar Jahre jünger, musste aber in der 7. Klasse noch den kompletten Zauberlehrling auswendig lernen, ist zum Glück nicht so schwer. Bei der "Bürgschaft" waren dann nur noch die ersten drei Strophen und die letzte oder so fällig, nur eine Streberin hat alles gelernt. Freilich ist das ein "Abstieg", da meine Mutter Ende der 1950er in der Volksschule mehr Gedichte auswendig gelernt hat als ich Mitte der 1980er auf dem Gymnasium. Ovid oder Homer wurde bei uns gar nicht mehr auswendig gelernt, was angeblich in den 1950ern auch noch vorkam, teils als Disziplinarmaßnahme... allerdings Stammformen und Deklinationen. (Meines Bruders Lateinlehrer motivierte die Kinder erfolgreich, indem er die Zeiten stoppte, die benötigt wurden um is ea id, hic haec hoc etc. runterzurattern....)


    Zitat


    Wir Heutigen müssen uns diesen halb irrealen, erlsöungsbedürftigen Glücks-Idealismus der Kunst der Romantik (sehr vereinfacht gesprochen) wieder zurückübersetzen, als ginge es um etwas jenseits unserer materiellen Bedürfnis-Befriedigung. Das aber ist eine grobe Fehleinschätzung dessen, was die Künstler als Menschen damals beflügelt hat (z.B. die Verzweiflung angesichts unentrinnbarer Armut).


    Das scheint mir ebenfalls etwas vorschnell. Ungeachtet der Unzahl in Mansarden frierenden Künstler und Studenten erfreute sich der größere Teil des Bildungsbürgertums im 19. Jhd. vergleichsweise angenehmer Lebensverhältnisse. Goethe, Schumann oder Fontane haben meines Wissens weder gehungert noch gefroren. Ich glaube nicht, dass idealistische oder romantische Poesie hier notwendig war, um unbefriedigte materielle Bedürfnisse auszugleichen. Grob gesagt: Das Publikum der Winterreise ist zumindest von der physischen Armut und Heimatlosigkeit des Wandergesellen nicht selbst betroffen gewesen. Und als Ausgleich für eine langweilige bürgerliche Existenz oder den faden Materialismus der Verhältnisse kann die Kunst heute ebenso taugen wie damals.


    viele Grüße


    JR

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • Lieber Johannes Roehl,


    das mit der Armut war ein wenig anders gemeint, als daß alle Künstler Spitzwegs "Armem Poeten" geglichen hätten. Ehe es den Begriff "Proletarier" gab, entstammte das Gros der Bevölkerung dem Kleinbürgertum der städtischen und ländlichen Gesellschaft. Die materiellen und sozialen Aussichten dieser Menschen waren äußerst bescheiden - man hatte vielleicht einen Tisch, zwei Stühle, womöglich einen Schrank, und das mußte ein ganzes Leben lang, ja, für mehrere Generationen reichen. Wie in den Schwellenländern heutzutage hatten die Menschen damals kaum Möglichkeiten, Vermögen anzuhäufen - der Tag- oder Wochenlohn deckte gerade mal die Grundbedürfnisse, Essen, Kleidung, Heizung. Man sparte am Licht, an den Kohlen und natürlich an der Qualität und Menge der Nahrungsmittel. Noch unsere Großeltern sind bis in die Mittelschichten niemals in den Urlaub gefahren. Zur Deckung des Nahrungsbedarfs hatte man einen Gemüsegarten bitter nötig; die Bekleidung wurde geflickt, gestopft, vererbt und umgearbeitet. Und diese Menschen waren lange Zeit rechtlos.
    In den 20ern lief man durch die Straßen, ein Pappschild umgehängt, auf dem stand: "Nehme jede Arbeit an".


    1833 schrieb Büchner:


    "Was nennt ihr denn gesetzlichen Zustand? Ein Gesetz, das die große Masse der Staatsbürger zum fronenden Vieh macht, um die unnatürlichen Bedürfnisse einer unbedeutenden und verdorbenen Minderzahl zu befriedigen? Und dies Gesetz, unterstützt durch eine rohe Militärgewalt und durch die dumme Pfiffigkeit seiner Agenten, dies Gesetz ist eine ewige, rohe Gewalt, angetan dem Recht und der gesunden Vernunft, und ich werde mit Mund und Hand degegen kämpfen, wo ich kann."


    Trotzdem bin ich Dir für jede Zurechtweisung dankbar!


    :hello:

    Zerging in Dunst das heilge römsche Reich


    - uns bliebe gleich die heilge deutsche Kunst!

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