Interviews mit Dirigenten - wie wichtig sind sie ?

  • Liebe Forianer,


    Dieser Thread ist stellt in gewisser Weise eine Ergänzung zu folgendem dar:


    Persönlich vernachlässigte Dirigenten - Eine "Beichte" (II)


    Eine Erweiterung des Themenkomplexes, gewissermaßen.


    Hier soll erörtert werden, inwieweit es einen Unterschied macht, einem Dirigenten (quasi) Aug in Aug gegenüberzustehen und ihn DANN zu hören - oder als "anonymen Klangvermittler" zu erleben- oder zu erleiden.


    "Musik muß man nicht erklären, man muß sie machen - oder hören."


    Diesen Standpunkt hört man immer wieder, speziell wenn man Mitdiskutanten fürs Forum anwerben will (Davon hab ich inzwischen übrigens Abstand genommen - es hat sich herausgetellt, daß nur der, der sich aus eigenen Stücken anmeldet auch dabei bleibt)


    Aber zurück zum Thema.


    Es gibt zahlreiche Dirigenten, deren Bilder von den Covern der Tonträger kennt - oder auch nicht.
    Namen die auf den Covern prangen, unbekannte, mäßig bekannte - und sogenannte "Pultstars". Einige erkennt man am Stil, aber zumeist achten die Hörer icht so darauf und werden erst nach hören von Alternativaufnahmen im wahrsten Sinne des Wortes hellhörig, beginnen hier und dort zu bewerten.


    Mit der Zeit kristallisieren sich bestimmte Vorlieben und Abneigungen heraus, man hat "Lieblingsdirigenten" , solche die man weniger mag, jene, die einem gleichgültig sind, einige denen man ausweicht, und auch welche die man durch irgendeinen Zufall gar nicht kennt.


    Nun ergibt es sich aber gelegentlich, daß man ein Interview mit einem Dirigenten zu sehen und zu hören bekommt, wo er sein "künstlerisches Credo", seine Schwierigkeiten und Freuden im Umgang mit Orchestern preisgibt und - selten, aber doch - über Vorbilder, abschreckende Beispiele - und Kollegen (Konkurrenten) im allgemeinen spricht.


    Plötzlich wird hier eine lebende Person vorgestellt, die einiges - bewusst oder unbewusst - von sich preisgibt. (Live Interviews im Fernsehen sind wesentlich aufschlussreicher und entlarvender, als jene geschönten in Zeitschriften oder Zeitungen, wo oft an Formulierungen (von welcher Seite und mit welchen Motiven auch immer) im nachhinein gefeilt wird......


    Im Idealfall erfährt man dann doch etwas mehr über den Dirigenten uind seine Vorstellung zu bestimmten Werken.....


    Wie sieht es nun bei Euch aus:


    a)Schaut ihr Euch sowas gar nicht an, weil es Euch gar nicht interessiert ?


    b) seid ihr anschliessend enttäuscht, weil der Künstler einiges an Ausstrahlung verloren hat ?


    c) hört ihr jetzt seine Einspielungen lieber als zu vor - weil ihr die Beweggründe kennt, ein Werk "So - und nicht anders" zu dirigieren ?


    d) Wenn ihr beispielsweise von dem Dirigenten bis jetzt keine Aufnahme im Schrank hattet - fühlt ihr Euch motiviert - gerade jetzt eine zu kaufen ?


    e)Hinterlässt solch ein Interview überhaupt keinen Eindruck bei Euch ?
    wei l der Satz: "Musik muß man nicht erklären, man muß sie machen - oder hören." für Euch die absolute Wahrheit darstellt ?


    Wer in dieser Hinsicht ein Schlüsselerlebnis hatte, der könnte hier eventuell davon berichten....


    mfg aus Wien


    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Eine etwas gewagte Behauptung. Wenn man einen Dirigenten über seine Darstellung im Konzertsaal hinaus näher kennenlernen will, sollte man ihn bei seiner Probenarbeit erleben. Hier ist zu sehen. ob er eine eigene Konzeption hat, die er seinem Orchester vermitteln und dann in der Probenarbeit und später im Konzert auch umsetzen kann. Noch besser wäre es mitzuwirken u. U. in einem Chor. um vom Beteiligten zum Betroffen zu werden.
    Interviews sind wieder Darstellungs- und Ausnahmesituationen, wo der Dirigent in der quasi abstrakten Atmosphäre des Gesprächs seine Ansichten äußern kann. Ein gewandter Interviewer kann seinen Gesprächspartner auch gekonnt steuern und beeinflussen. Ich vermeide bewußt das Wort Manipulation. Ich kann hier mit
    Erfahrung sprechen, denn ich habe schon eine Reihe von Dirigenteninterviews und Künstlergesprächen mit Dirigenten gemacht.
    Wie immer im Leben, will ich eine Persönlichkeit näher kennenlernen muss ich mich mit ihr intensiv beschäftigen und sie in verschiedenen
    sozialen Rollen erleben. Dazu kommt noch, dass der Beruf des Dirigenten einer der wenigen ist, bei dem autortiäre Leitung noch akzeptiert wird. allerdings nur, wenn als Leiter ein Könner agiert.
    Also nochmals nicht die Darstellung vor Publikum ist es, in der die ungeschminkte Persönlichkeit eines Dirigenten sichtbar ist. Es ist die Alltagarbeit im und mit dem Orchester.
    Herzlichst
    Operus

    Umfassende Information - gebündelte Erfahrung - lebendige Diskussion- die ganze Welt der klassischen Musik - das ist Tamino!

  • Lieber operus, ich zähle in die Reihe des von Alfred Aufgezählten auch das, was auf dem Kanal youtube so gesendet wird. Freilich, da kann man dann auch ein wenig von der Probenarbeit mitbekommen. Böhm gelingt es auch vor laufender Kamera nicht, sein Granteln zu verbergen, aber man erlebt, wie er eine Sinfonie (hier Beethovens Nr. 1 aufbaut). Der von mir wirklich nur partiell geschätzte Karajan hat für mich ungemein gewonnen durch das Video mit seiner Probe zu Schumanns 4. Sinfonie.


    Es gab sie ja schon zu LP-Zeiten: die Probenmitschnitte. Auch wenn da einiges geschönt sein dürfte: die Dokumente sind schon aufschlussreich.


    Bei den Print-Interviews ist es dann so, dass im Gespräch zuweilen auch Repertoire-Einschätzungen zu erfahren sind, oder, wie jüngst bei Ciccolini, Beurteilungen des Wertes von Schallplattenaufnahmen.


    Alfreds Ansatz ist durchaus interessant, da er ja eine private Facette mit hinzufügt. Auch wenn man davon ausgehen darf, dass die Antworten mutmasslich alle irgendwie "gesellschaftlich gewollt" ausfallen, es sei denn man wird zum Anti-Star gepushed wie weiland Nigel Kennedy, so finde ich dieses Aspekte nicht uninteressant.


    Ein paar Beispiele:


    Der Film "Mein Chopin" hat mich als Tzimon Barto-Hörer zurückgewonnen, den ich jahrelang nach anfänglicher Begeisterung beiseite gelegt hatte.


    Das Buch "So und nicht anders" hat mir Günter Wand dergestalt erschlossen, dass ich meinen diesbezüglichen Sammlungsschwerpunk auf seine Gürzenich-Aufnahmen ausgerichtet hatte.


    Bei Kennedy waren es die Autobiographie, die von ihm verfassten Klappentexte seiner Platten sowie das wiederholte live-Erlebnis, die meine Blick auf seine Aufnahmen verändert haben (besonders das Brahms-Konzert unter Tennstedt).


    Liebe Grüße vom Thomas :hello:

    Früher ist gottseidank lange vorbei. (TP)
    Wenn ihr werden wollt wie eure Väter waren werdet ihr so wie eure Väter niemals waren.

  • Es gab hier einen Anlass, nämlich ein Interview mit Michael Gielen, welches via Video im Rahmen der Gustav Mahler-Ausstellung im Österreichischen Theatermuseum abrufbar war.
    Gielen spricht hier über Kollegen . nicht direkt gehässig, nicht abwertend, aber doch sehr distanziert und kritisch - und erklärt was er an Mahler anders sieht als Leonard Bernstein und Bruno Walter. Hier positioniert er sich eindeutig. Ferner spricht er das Thema Musik und Politik an - hier steht er mit seiner Meinung zu mir in krassem Widerspruch - aber er bezieht Stellung und zeigt Flagge - etwas das mir imponiert,
    Dieser Intervie hat immerhin dazu geführt, daß ich mir eine Mahlersinfonie unter seinem Dirigat gekauft habe, was nicht ganz einfach war, die war in Wien kaum zu bekommen....
    Bis jetzt hatte ich allerdings die Zeit nicht, sie zu hören...


    DAS ist es was ich im Prinzip gemeint habe.
    Die Fragen waren schon so gestellt, daß ein "Entrinnen" kaum oder nur schwer möglich war,
    Jene berühmt berüchtigten Interviewas der 50er und sechziger jahre, die letztlich dazu dienten den Künstler PR-tauglich ins rechte Licht zu stellen gibt es heute allenfalls in Publikationen der Tonträgerindustrie.


    Das war aber nicht gemeint...



    mfg aus Wien


    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Ich finde Interviews und Dokumentationen über Dirigenten sehr interessant und wichtig um den Menschen und seine Ansichten besser kennen zu lernen.


    Im TV lasse ich keine Sendung in dieser Richtung (über Dirigenten und Solisten) aus. Je nach dem wer es ist, archiviere ich die Sendung auch durch eine Aufnahme auf Festplatte. Von daher kann ich ich schon nicht verstehen, dass es Leute gibt die kein TV haben und haben wollen !??!



    Erst vor zu Beginn des Jahres habe ich mir die abgebildete Doppel-DVD ORCHESTRA ! mit Georg Solti und Dudley Moore gekauft:
    Hier sind
    1. zahlreiche Orchesterproben mit Solti (Werke von Händel bis Lutoslawski) mit dem Schleswig Holststein Festival Orchestra vorhanden
    2. Interviews über Werke und Interpretation
    3. Hörbeispiele am Klavier (hier mit Brahms-Haydn-Var) mit Solti und Moore
    4. R.Strauss: Don Juan wird intensiv behandelt und als ganzes aufgeführt.



    Decca, 2 DVD + 1 CD, 1991


    :yes: Eine fabelhafte DVD mit CD, die meine Begeisterung für den Vollblutmusiker Georg Solti nochmal gesteigert und gefestigt hat.



    Zahlreiche TV-Sendungen von und mit Leonard Bernstein, die bereits seit den 60er jahren im TV liefen und später wiederholt wurden, habe ich noch auf VHS-Cassetten archiviert. Ein Grund den Videorecorder stehen zu lassen, wenn er auch sonst nicht mehr zum Einsatz kommt !
    :hello: Es gibt kaum einen Dirigenten der bessere Dokumentationen über Klassische Musik im Fernsehen gemacht hat, als Bernstein ! Ein Wegbereiter, den man sich für die heutige junge Generation auch wieder wünschen würde....

    Gruß aus Bonn, Wolfgang

  • Wenn wir über große Dokumentationen sprechen, darf der legendäre Viedo-Mitschnitt "Hinter den Kulissen der Götterdämmerung", der während der Studioaufnahme der Decca 1965 in Wien produziert wurde, nicht unerwähnt bleben. Besonders die Ausführungen von Sir Georg Solti über die Unterschiede von Liveaufnahmen und Studioproduktionen sind eine Lehrstunde. Dazu kommen aussagekräftige Interviews mit Birgit Nilsson und Fischer-Dieskau. Fast heiteren Charakter hat die "Leidensgeschichte" von Gottlob Frick, der den Beginn der schwierigen Mannenrufe des Hagen Xmal singen musste, weil Solti an dieser Stelle die nachgebauten Stierhörner erproben wollte.
    Diese Aufzeichnung ist in vielerlei Hinsicht eine Fundgrube für den Opernfreund.
    Herzlichst
    Operus

    Umfassende Information - gebündelte Erfahrung - lebendige Diskussion- die ganze Welt der klassischen Musik - das ist Tamino!


  • zu a)


    Ich schaue es mir an, und es interessiert mich ausserordentlich.
    Beim Hören frage ich mich oft, warum ein Interpret es so spielt oder dirigiert. Meistens verstehe ich das schon musikalisch, aber trotzdem bekommt man Einblicke in zusätzliche Aspekte, die für den Interpreten im Zusammenhang mit der Musik eines Komponisten wichtig und ggf. für seine Interpretation mitbestimmend waren.


    zu b)
    Meistens bin ich nicht enttäuscht, sondern finde den Künstler anschliessend sympathischer, bzw. ich sehe mehr zu ihm auf.
    An richtig dummes Geschwätz kann ich mich jetzt bei nicht erinnern.
    Die Musiker hatten meistens Interessantes und Eloquentes zu sagen.
    Karajan schweift ab und zu in Richtung asiatische Konzentrationsübungen etc. ab, aber das stört mich nicht, weil es etwas über seine Arbeitsweise aussagt.


    NB.: Natürlich habe ich auch viel von Harnoncourt gesehen, der ja in der Tat auch inhaltlich eine Menge zu sagen hat.
    Oft finde ich dessen Aussagen sehr gut und lehrreich (z.B. zu den Brandenburgischen Konzerten), manchmal aber auch etwas überspitzt oder sogar an der Grenze zu unhaltbar unüberlegt.
    So behauptete er in einem TV-Interview zu seiner neuen MP, dass er noch nicht einmal wüsste, ob Bach selbst religiös gewesen sei.
    Dabei ist es doch bekannt, dass Bach fleissig in seiner Luther-Bibel täglich las, dort Anmerkungen machte, etc. .
    Und wenn man seine Musik hört, dann finde ich schon, dass man heraushören kann, dass er nicht nur sehr gute Musik zu den Texten machen wollte, sondern auch als ganzer Mensch daran glaubte...


    Bei einem späten Wand-Interview stellte ich erst durch dieses Gespräch fest, wie alt der Mann eigentlich schon war, als er immer noch dirigierte.
    Das löste bei mir aber nicht Enttäuschung, sondern Bewunderung aus.


    zu c)
    Ja, ich denke schon, dass ich die Einspielungen aufgrund einiger neu verstandener Beweggründe für die Art der Interpretation noch lieber höre.


    d) Eigentlich muss ich die Frage mit NEIN beantworten, weil ich vor dem Kauf über JPC, Amazon oder Youtube auf jeden Fall immer in die Aufnahme so lange wie möglich hineinhöre.
    Aber durch das gehörte Interview kann es sein, dass ich überhaupt interessiert und neugierig auf diesen Dirigenten/Interpreten werde, was im Falle einer positiv ausgefallenen Hörprüfung durchaus zum Kauf führen kann.


    e) Nach meinen vorherigen Antworten müsste klar sein, dass dem bei mir nicht so ist.
    Für mich gilt aber -wie gesagt- trotzdem, dass ich (siehe oben )auch durch das Hören der Musik nachvollziehen möchte, dass an dem, was im Interview gesagt wurde, auch etwas dran ist.


    Ergänzen möchte ich noch, dass mich hier nicht nur Aussagen von Dirigenten interessieren. Die Standpunkte von Sänger/innen und Instrumentalisten finde ich genau so interessant zu hören, ebenso auch deren Art und Weise zu sprechen.


    Der Musiker tritt ja beim Konzertritual stumm auf und lässt die Musik durch ihn sprechen.


    [Das ist nebenbei gesagt auch gut so, denn ich mag es eigentlich nicht, wenn in Konzerten Zeit für langweilige Erklärungen der Musiker draufgeht. Wenn man etwas erklären will, dann soll man es meiner bescheidenen Meinung nach lieber ins Programmheft schreiben.
    Hier die richtige Mischung aus fachlicher Seriösität und allgemeiner Verständlichkeit zu finden, ist dabei eine Kunst für sich.]


    Ebenso hört der CD-Konsument eigentlich "nur"die Instrumente, bzw. die Singstimmen.
    Deswegen ist es an sich schon einmal interessant zu hören, wie denn eine Person überhaupt redet, was für eine Persönlichkeit hinter dem reinen, der Musik dienendem "Ausführungsorgan" steckt.


    Karajans Stimme schien (vor allem im Alter) nicht zu den bekannten Fotos zu passen, Harnoncourts breit-steirischen Dialekt finde ich sympathisch, Bernsteins verrauchte Whiskystimme war ja eine Erfahrung für sich ( auch seine interessanten Erklärungen am Piano), dem Sir Eliot Gardiner höre ich auch gerne zu ( very british....), Suzukis Interviews beeindrucken mich, weil seine tiefe Liebe zu Bach irgendwie spürbar wird (ein bescheidener, keineswegs arroganter Mann), Rattle versteht es, mit den Medien zu kommunizieren, Haitink kann ich stundenlang zuhören, der ebenfalls freundlich bescheidene Koopman gewinnt für mich durch seine fachlichen Aussagen jedesmal, wenn ich ihn in Interviews höre und Herreweghe finde ich auch irgendwie beeindruckend, selbst wenn ich nur auf seine Gesten etc. achten kann, denn leider kann ich kein Französisch... ;)


    Er scheint aber immer genau zu wissen, wovon er redet....
    Aber ich habe schon viele ins Deutsche übersetze Herreweghe-Interviews gelesen.


    Sehr gut und lehrreich soll auch diese Abbado-Dokumentation sein, die mir von meiner ehemaligen Klavierlehrerin sehr ans Herz gelegt wurde:



    :hello:
    Glockenton

    "Jede Note muss wissen woher sie kommt und wohin sie geht" ( Nikolaus Harnoncourt)