Der hier durchaus kontrovers diskutierte Pianist Tzimon Barto hat ein bemerkenswertes Album vorgelegt: Das Schubert -Album. Was nun ist bemerkenswert daran? Da man über die stupende Technik des Pianisten kein Wort verlieren, seine Anschlagskultur staunend zur Kenntnis nehmen muss, bleibt also seine Interpretation zur Begründung übrig. Tzimon Barto zelebriert die Langsamkeit. Und dies extrem.
Das Impromptu D. 899 Nr. 3 spielt Aldo Ciccolini in 5:37 min. Und Barto? Er braucht 12:14 min dafür. Der „Moment Musical“ D. 780 Nr. 3 wird von Wilhelm Backhaus in 1:38 min gespielt Barto gönnt dem Stück 2:13 min.
Die Traditionalisten mögen nun awbinken: „Ach was, alles Unfug“ Tatsächlich hat vor einigen Jahren die Pianistin und Musikwissenschaftlerin Grete Wehmeyer ein Buch „prestißißimo-Die Wiederentdeckung der Langsamkeit “ veröffentlicht. Ihre Thesen – die offensichtlich in einigen Punkten nicht haltbar waren – bezogen sich allerdings auf die richtige Art, ein Werk – quasi HIP – zu spielen. Genau dies scheint die Zelebranten der Langsamkeit heute nicht zu beflügeln. Ivo Pogorelich etwa spielte vor wenigen Jahren in Düsseldorf ein Intermezzo von Brahms etwa halb so schnell wie Gerhard Opitz.
In der konzertanten Musik haben wir in Celbidache einen weiteren Exponenten der Langsamkeit.
Das muss man freilich können. Das Ges-Dur Impromptu in seiner Spielzeit mehr als zu verdoppeln, ohne dass es langweilig klingt – ungewöhnlich ist das beim ersten Hören indes schon – ist eine künstlerische Leistung (ebenso wie das, was Pogorelich da in Düsseldorf live geglückt ist).
Das Phänomen der langsamen Interpretationen soll nun nicht darauf eingehen, dass etwa Pianisten als junge Menschen ihre Virtuosität zeigen wollen und später auf angemessene Tempi zurückfallen, ggf. im Alter (etwa Ciccolini mit den Nocturnes von Chopin) tatsächlich einzelne Werke sehr langsam spielen.
In den genannten Fällen mag es an der Werktypologie liegen: „Impromptu“, „Moment Musical“ oder „Nocturne“, das klingt nach Augenblickseinfall (ähnlich etwa den „Préludes“ op. 28 von Chopin), mag zum meditieren einladen, eine gebunden Form wie die der Sonate liegt nicht vor.
Nun, Celibidache hat auch die gebundene Form der Sinfonie in die meditative Langsamkeit transponiert. Und Barto tut dies auch bei einer Schubert-Sonate. D. 894 schließt seine Doppel-CD ab, und da kommen wir auf folgende Spielzeiten, denen ich in Klammern die von Christian Zimmermann aus seiner EMI-GA gegenüberstelle:
26:35 (16:54/18:25 bei seiner Erstaufnahme des Werkes) – 13:02 (8:19/8:50) – 4:50 (4:24/4:45) – 10:17 (8:55/9:20). Zimmermann ist im Laufe der Jahre offensichtlich schneller geworden (und ich bin gespannt, wie seine neuerlich Deutung für Dabringhaus und Grimm in Bezug auf das Spieltempo ausfällt)
Was verbirgt sich nun hinter solchen Abweichungen? Tzimon Barto äußerte sich in dem Film „Mein Chopin“ ungefähr so, dass er schon immer langsam spielen wollte, das Publikum das aber nicht gemocht hätte und er früher nach dem Wunsch des Publikums gespielt hätte. Nach dem Tod seiner Kinder hätte ein grundsätzliches Überdenken seiner Lebenshaltung eingesetzt.
Der oben in ähnlichem Zusammenhang genannte Pogorelich hat sein Spiel nachhörbar nach ähnlichen Lebenserfahrungen vergleichbar geändert.
Der Thread spricht das Thema der Interpretation an. Und dies nicht in Bezug auf HIP: es geht nicht darum ob eine solche Deutung korrekt ist in Bezug auf die historischen Umstände und auf den hinterlassenen Notentext.. Es ist eher eine Art Regietheater-Debatte: Was Pogorelich und Barto machen, könnte man auch „Meditation über…“ nennen, wenn sie nicht die vorgegebenen Noten unverändert spielen würden. Dies derart in Slowmotion zu tun, erfordert schon einige pianistische Meisterschaft.
Fällt Euch dieses Phänomen –das der Entdeckung der Langsamkeit aus anderen als HIP-Gründen auch bei anderen Musikern auf?
Liebe Grüße vom Thomas