Opern-Interpretationen durch ein und denselben Dirigenten im Laufe der Zeit

  • Lange habe ich überlegt, wie ich diesen Thread überhaupt nennen soll, schließlich habe ich mich für diesen etwas langen Titel entschieden.


    Worum soll es gehen? Viele Dirigenten haben diverse Opern im Laufe ihrer Karriere mehrere Male auf Tonträger verewigt, was uns heute interessante Möglichkeiten des direkten Vergleichs ermöglicht. Wie hat sich die Interpretation geändert? Hat sie sich überhaupt verändert? Ist ein "Jugendstil" und "Altersstil" feststellbar? Was hat sich verbessert bzw. verschlechtert? Fragen über Fragen, die sich hier stellen ließen.


    Es gäbe unzählige Beispiele, um solche Vergleiche zu machen. Besonders spannend wird es freilich, wenn mindestens drei verschiedene Aufnahmen über einen längeren Zeitraum hinweg ein und derselben Oper unter demselben Dirigenten vorliegen.


    Willkürlich daher mein erster Opern-Interpretations-Vergleich: "Die Meistersinger von Nürnberg" von Wagner mit Herbert von Karajan am Pult. Dies nicht nur, weil es hierbei um meine persönliche Lieblingsoper handelt, sondern auch, weil viele Forianer diese Aufnahmen kennen oder gar selbst besitzen werden, handelt es sich doch um die mitunter bekanntesten und referenzträchtigsten Mitschnitte bzw. Einspielungen dieser Oper.



    OPERN-INTERPRETATIONS-VERGLEICH I:


    WAGNER: "DIE MEISTERSINGER VON NÜRNBERG" / KARAJAN



    1. Die einzelnen Aufnahmen und ihre Besetzungen



    a) "Die Meistersinger von Nürnberg", Bayreuther Festspiele 1951 (live)


    Hans Sachs: Otto Edelmann
    Sixtus Beckmesser: Erich Kunz
    Walther von Stolzing: Hans Hopf
    David: Gerhard Unger
    Eva: Elisabeth Schwarzkopf
    Veit Pogner: Friedrich Dalberg
    Fritz Kothner: Heinrich Pflanzl
    Magdalene: Ira Malaniuk


    Chor und Orchester der Bayreuther Festspiele


    Musikalische Leitung: Herbert von Karajan


    27. Juli 1951, Festspielhaus, Bayreuth



    b) "Die Meistersinger von Nürnberg", Dresden 1970 (Studio)


    Hans Sachs: Theo Adam
    Sixtus Beckmesser: Sir Geraint Evans
    Walther von Stolzing: René Kollo
    David: Peter Schreier
    Eva: Helen Donath
    Veit Pogner: Karl Ridderbusch
    Fritz Kothner: Zoltan Kélémen
    Magdalene: Ruth Hesse


    Chor der Staatsoper Dresden
    Chor des Leipziger Rundfunks


    Staatskapelle Dresden


    Musikalische Leitung: Herbert von Karajan


    24.–30. November & 1.–4. Dezember 1970, Lukaskirche, Dresden



    c) "Die Meistersinger von Nürnberg", Salzburg 1974 (live)


    Hans Sachs: Karl Ridderbusch
    Sixtus Beckmesser: Günther Leib
    Walther von Stolzing: René Kollo
    David: Peter Schreier
    Eva: Gundula Janowitz
    Veit Pogner: Louis Hendrikx
    Fritz Kothner: Jef Vermeersch
    Magdalene: Kerstin Meyer


    Wiener Staatsopernchor
    Wiener Singverein
    Kammerchor der Salzburger Festspiele


    Berliner Philharmoniker


    Musikalische Leitung: Herbert von Karajan


    7. April 1974, Großes Festspielhaus, Salzburg



    2. Direktvergleich der Aufnahmen



    a) Spielzeiten


    Bevor ich ins Detail gehe, will ich zunächst auf die einzelnen Spielzeiten eingehen:


    1951:


    1. Aufzug: 83'35
    2. Aufzug: 59'47
    3. Aufzug: 124'01
    Gesamtspielzeit: 267'23


    1970:


    1. Aufzug: 83'47
    2. Aufzug: 58'52
    3. Aufzug: 123'11
    Gesamtspielzeit: 265'50


    1974:


    1. Aufzug: 79'12
    2. Aufzug: 57'08
    3. Aufzug: 118'44
    Gesamtspielzeit: 255'04


    Während sich die Bayreuther und die Dresdner Aufnahme zeitlich nicht viel geben, fällt auf, daß er in Salzburg um einiges schneller unterwegs ist, was bereits im beschwingten Vorspiel zum I. Aufzug beginnt (1951: 9'11; 1970: 9'27; 1974: 8'49). Letztlich ist er so insgesamt ca. zehn Minuten schneller als in den beiden früheren Aufnahmen.



    b) Orchester und Dirigat


    Die Orchesterqualität ist an sich in allen drei Fällen herausragend. Insbesondere die Staatskapelle Dresden und die Berliner Philharmoniker erweisen sich als ausgesprochene Spitzenklangkörper. Während Karajan in Dresden beinahe kammermusikalische Töne anschlägt, kommt er in Salzburg ungleich "breiter" und pathetischer daher. Die Pauken und Blechbläser sind viel eher im Vordergrund. In Bayreuth vermag man dies aufgrund der doch eher bescheidenen Mono-Tonqualität nicht einwandfrei ausmachen, vieles geht unter. Mein persönlicher Favorit sind die Berliner.



    c) Chor


    Der Chor weist ebenfalls in allen drei Aufnahmen ein hohes Niveau auf. In der Studio-Aufnahme ist der Chor präsenter als in den Live-Mitschnitten, was aber gewiß aufnahmetechnisch bedingt ist.



    d) Sänger


    Ich will mich auf die fünf wichtigsten Rollen beschränken:


    Sachs:


    In Bayreuth singt Edelmann die Hauptrolle. Er, der ziemlich tief liegt, hat so manche Müh' mit den Höhen, doch erweist sich sein markantes Timbre als durchaus rollendeckend. Er ist eher der Schuster denn der Poet, vermag durch Autorität zu überzeugen.


    In Dresden mußte Karajan gezwungenermaßen Adam als Sachs einsetzen (es ist bekannt, daß er lieber Ridderbusch eingesetzt hätte, der dann den Pogner sang). Karajans Skepsis läßt sich durchaus begründen, ist Adam doch ein im Vergleich recht harmloser Sachs. Zwar hat er höhentechnisch keine Schwierigkeiten, doch bleibt er seltsam glatt. Insgesamt eine gute, keinesfalls aber überragende Besetzung.


    In Salzburg schließlich konnte Karajan seinen Wunsch-Sachs, Ridderbusch, endlich besetzen. Und in der Tat erweist sich der hoch liegende Baß als Idealbesetzung. Er ist der Rolle sowohl in den Tiefen wie auch Höhen gewachsen, weiß durch seine kernige Klangfarbe ungemein zu gefallen und besitzt auch die Fähigkeit zur Nuancierung (welche ihm unverständlicherweise oft abgesprochen wird). Mein Favorit.


    Beckmesser:


    Erich Kunz (Bayreuth) erweist sich als Beckmesser, der nicht der Karikatur verfällt. Sein Stadtschreiber ist ein ernsthafter, angesehener Mann, keine Witzfigur. Insgesamt mehr als solide.


    Sir Geraint Evans (Dresden) ist aufgrund seines englischen Akzents quasi zur Witzfigur prädestiniert. Wenn man diese Rollenauffassung bevorzugt, wird man in Evans einen idealen Interpreten finden. Der Akzent stört allerdings zuweilen doch.


    Der relative unbekannte Günther Leib (Salzburg) zeichnet ebenfalls ein Beckmesser-Bild, das mit Karikatur verfehlt beschrieben wäre. Vielmehr ist auch sein Beckmesser ein ernsthafter Konkurrent für Stolzing (und Sachs).


    Stolzing:


    Hopf ist die Schwachstelle in Karajans Bayreuther Aufnahme. Stimmlich der Partie nicht ganz gewachsen, bleibt er relativ blaß.


    Sowohl in Dresden wie auch in Salzburg singt Kollo den Stolzing – und beide Male mit vollem Erfolg. Für mich die referenzträchtigste Besetzung dieser Rolle, die ich kenne.


    David:


    Mit Unger (Bayreuth) und Schreier (Dresden, Salzburg) hatte Karajan jedes Mal ein unheimliches Glück, was diese Rolle angeht. Es handelt sich schlicht um die bestmöglichen Interpreten schlechthin.


    Eva:


    Der Schwarzkopf (Bayreuth) nimmt man die Goldschmied-Tochter nicht so ganz ab; gesanglich wenig auszusetzen. Sowohl Donath (Dresden) und noch mehr Janowitz (Salzburg) sind die besseren Besetzungen.



    3. Gesamtwertung



    Interessanterweise ist gerade die späte Salzburger Aufnahme die am zügigsten dirigierte und dramatischste der drei. Die Bayreuther und die Dresdner Aufnahme, zwischen denen beinahe zwei Jahrzehnte liegen, sind tempomäßig nahezu identisch, wobei die Studio-Aufnahme sicherlich die "schlankeste" unter den dreien ist. Wo der Bombast gegenüber Bayreuth abnahm, nahm er in Salzburg in noch größerem Maße wieder zu. Nicht umsonst titelte die Presse 1974 "Die Breitwand-Meistersinger". Erst hier hatte Karajan offensichtlich zu seinem persönlichen "Meistersinger"-Ideal gefunden. Bedingt durch den mit Adam (zu) leicht besetzten Sachs in Dresden war es ihm womöglich gar nicht möglich, diese Klangmassen auf die Sänger loszulassen, wie er es in Salzburg vier Jahre später tat – ohne diese freilich zuzudecken.


    Insgesamt wäre meine persönliche Reihenfolge Salzburg–Dresden–Bayreuth. Die geschlossenste Sängerbesetzung hat Karajan eindeutig in Salzburg versammelt. Der große Wermutstropfen dieser Aufnahme ist jedoch, daß sie bis heute nicht offiziell erschienen ist. Dieses Desiderat wird hoffentlich in Kürze endlich der Vergangenheit angehören. Tontechnisch ist die Dresdner Aufnahme die hervorragendste, allerdings kaum besser als jene aus Salzburg (die remastered von den Originalbändern sicherlich noch besser herüber kommt). Der '51er Mono-Mitschnitt muß hier abfallen, klingt gemessen an dem sehr hohen Alter jedoch auch noch passabel.

    »Und besser ist's: verdienen und nicht haben,

    Als zu besitzen unverdiente Gaben.«

    – Luís de Camões

  • Hallo Joseph,


    Deiner Rezension konnte ich sehr gut folgen, weil Du anschaulich und souverän argumentiert hast. Ich besitze ebenfalls die Einspielungen mit Edelmann und Adam als Sachs, obwohl ich kein eigentlicher Richard-Wagner-Fan bin. Mir fordert das Anhören einer Wagner-Oper auch sehr viel Geduld ab und ich muss das Textheft mitlesen können.


    1
    Ich habe nun zwei Fragen an den Fachmann. Die Partie der Eva mit Schwarzkopf, Donath und Janowitz ist in allen drei Fällen nicht mit einer typischen Wagner-Sängerin besetzt, denn alle drei singen auch Mozart und Sonstiges. Wenn Du bei der Auswahl der Sopranistin ein Mitbestimmungsrecht haben würdest, hättest Du auch so gewählt?


    2
    Auf Dich wirkte der Sachs mit Adam zu leichtgewichtig. Aber sollte man diese Nuancierung nicht gelten lassen, damit überhaupt unterschiedliche Rollenporträts zusammernkommen. In der Figur des Don Giovanni agiertt man auch großzügig, wenn ich an die Diskrepanz zwischen Ghiaurov und Wächter denke.


    3
    In der klanglichen Beurteilung der alten Mono-Aufnahme muss man wohl auch berücksichtigen, ob man die alte LP oder eine remasterte CD hört.


    4
    Bei den unterschiedlichen Abspielzeiten sollte man daran denken, dass die Anzahl der Minuten auch durch Striche in der Partitur ausgelöst und nicht nur angezogene oder gestreckte Tempi die Ursache sein können.


    Im Vergleich kann man auch beurteilen, ob ein Dirigent die Sache unbefangener oder pedantischer angegangen ist - an Schwung zugernommen hat oder lahmer geworden ist.


    Auf Deine weiteren Analysen freue ich mich schon sehr.


    :angel:
    Engelbert

  • Hallo Engelbert,


    erstmal vielen Dank für die Reaktion und die Fragen.


    Ad 1.:


    Da fragst Du mich etwas Interessantes. In der Tat war keine der drei Evas eine genuine Wagner-Sängerin. Insbesondere die Schwarzkopf verbinde ich ansonsten überhaupt nicht mit diesem Komponisten (sie sang 1951 aber auch die Woglinde, wie ich gerade herausfand). Frau Donath kenne ich spontan auch aus keiner anderen Wagner-Aufnahme (bitte durchaus um Korrektur diesbezüglich). Die Janowitz sang die Eva allerdings auch unter Kubelik (1967) und die Woglinde in Bayreuth (1962), insofern sozusagen zumindest eine gewisse Wagner-Erfahrung.


    Nun: Also ich finde, daß insbesondere Frau Janowitz sehr gut besetzt ist, von daher kann es also m. E. durchaus eine Bereicherung sein, mal keine "richtigen" Wagner-Sänger(innen) einzusetzen.


    Ad 2.:


    Nichts gegen Herrn Adam. Ich kenne ihn auch aus Aufnahmen unter Böhm und Suitner. Er war "der" DDR-Sachs, und das mit einigem Recht. Es wurde allerdings zurecht schon mehrfach angemerkt, daß es seinerzeit idealere Rolleninterpreten gab (Ridderbusch, Stewart, Weikl), wobei ich hier eine gewisse Subjektivität nicht verleugne. Adams Rollengestaltung ist legitim und O.K., mein Fall aber nicht unbedingt. Ich muß dazu sagen, daß ich die Oper mit ihm als Sachs kennenlernte (eben Karajan 1970).


    Ad 3.:


    Da hast Du sicherlich vollkommen recht. Ich wollte damit nur sagen, daß es generell unfair ist, Stereo-Aufnahme mit einer Mono-Aufnahme tontechnisch zu vergleichen. Diesen Aspekt habe ich daher bewußt eher am Rande erwähnt.


    Ad 4.:


    Das wäre in der Tat mal interessant, rauszufinden. Allerdings waren von mir ausgewählte Vergleichsstellen (u. a. das Vorspiel zum I. Aufzug) 1974 in der Tat schneller als 1951 und 1970. Sehen wir uns die Spielzeiten genau an, stellt man fest, daß Karajan insbesondere im I. und III. Aufzug schneller ist.


    Wie gesagt: Würde der Salzburger Mitschnitt nur endlich mal veröffentlicht (Orfeo d'Or, das wäre doch was für euch!), könnten mehr Opernfreunde den direkten Hörvergleich anstellen. Es ist schon sehr bedauerlich, daß selbst die Aufnahme eines so bekannten Dirigenten wie Karajan nicht greifbar ist. (Meine Import-Aufnahme ist sicherlich nicht vom Original-Masterband, von daher bin ich vorsichtig, was Tonqualität angeht. Fest steht aber: Selbst die mir vorliegende ist "gut". Da ist sicher was rauszuholen.)


    :hello:

    »Und besser ist's: verdienen und nicht haben,

    Als zu besitzen unverdiente Gaben.«

    – Luís de Camões