Die Tschechische Philharmonie gehört wie auch das Concertgebouw Orkest Amsterdam zu den traditionsreichen Mahler Orchestern, das die 7. Symphonie uraufführte. Vaclav Neumann (1920-1995) nahm mit dem Orchester in den Jahren 1976-82 die kompletten Symphonien bei Supraphon auf und erwarb sich mit dieser Aufnahme internationales Ansehen. In den 90iger Jahren bis kurz vor seinem Tod arbeitete er an einem weiteren Zyklus. Es entstanden Aufnahmen der Symphonien Nr. 1,2,4,5 (Label Canyon Classics) und wie ich kürzlich erfahren habe auch der 9. und der 6. (erhältlich leider nur als Japan-Import zum schwindelerregenden Preis!) – die Einspielung der 6. aus Prag von 1995 ist Neumanns letzte Aufnahme. Dazu kommen noch einige Platten, die er mit dem Gewandthaus-Orchester Leipzig aufnahm: die 5.,7. und 9.
Die Paarung der tschechischen Philharmonie mit ihrem unverwechselbaren Klang, den hochpoetischen und virtuosen Bläsern sowie seidigen Streichern, ihrer rhythmisch-tänzerischen Leichtigkeit und Neumanns niemals forcierendem, auf Partiturgenauigkeit und „Deutlichkeit“ im Sinne Mahlers zielendes Dirigat ist für mich eine ideale Verbindung. Sternstunden sind die Aufnahmen der 2., 4. und der 6. Symphonie. So schlüssig vorwärtsdrängend, dramatisch und zugleich klar proportioniert bekommt man den Kopfsatz der 2. sonst nirgendwo zu hören. Die 6. besticht durch das ungemein rhythmische Spiel des Orchesters. Zu den berühmtesten Aufnahmen der Tschechischen Philharmonie gehören die Einspielungen von Strawinskys „Petruschka“ und „Le Sacre du Printemps“ mit Karel Ancerl. Vertrackteste Rhythmen, wo sich andere Orchester hörbar abmühen, spielen die Tschechen mit einer Selbstverständlichkeit, als sei das die natürlichste Angelegenheit der Welt. Die Märsche in der 6. vibrieren geradezu vor rhythmischer Energie. Dazu kommt eine atemberaubende spieltechnische Präzision. In ihren besten Zeiten war die Tschechische Philharmonie eines der führenden Orchester der Welt. Neumann zeigt hier, dass man die tragischen Abgründe der 6. auch hörbar machen kann ohne Bernsteins Drastik durch eine sprechende, deutliche Phrasierung vor allem der außergewöhnlichen Bläser der Tschechischen Philharmonie. Da gibt es alle Schattierungen von Trauer, tragikomischen Seufzern, von Frechheit und Bosheit, bitterer Ironie.
Zu den schönsten Aufnahmen überhaupt zählt auch Neumanns 3. Das ist klanglich wunderbar, aber ohne zu ästhetisieren. Die rohe Natur im 1. Satz behält ihre erhabene Schrecklichkeit. Beim Posthornsolo (Solist: Miroslav Kejmar) schmilzt man einfach dahin! Die 4. ist eine ideale Aufnahme: durchsichtig und klar, mit Humor gespielt. Die Bläser sind „frech“, da stimmt einfach der Mahler-Ton! Die 5. gehört zu den besten Aufnahmen. Neumanns 8. ziehe ich der Aufnahme von Solti eindeutig vor mit ihrer niemals übertreibenden Natürlichkeit und souveränen Ausgewogenheit. Die 7. lebt vom idiomatischen Spiel der böhmischen Bläser. Wohltuend, dass Neumann auch hier – vor allem im Finale – nicht übertreibt, die Musik nicht zum virtuosen Rummel werden lässt. Bemerkenswert das langsame Tempo der 2. Nachtmusik, eine der intensivsten Darstellungen. In der 1. überzeugt die Tempo-Dramaturgie des Scherzo, das die meisten Dirigenten einfach viel zu schnell nehmen. Neumann beginnt eher gemächlich und zieht dann in der Wiederholung das Tempo an. Daß es sich hier um eine Spieltradition der Tschechischen Philharmonie handelt, zeigt der Vergleich mit Karel Ancerls Aufnahme. Auch die 9. hat Ancerl aufgenommen. Doch unterscheidet sich seine Interpretation von der Neumanns vor allem im 1. Satz nicht unerheblich. Bei Neumann spürt man den Einfluß des „Jugendstil“ bei Mahler. Das Auf und Ab hat „Linie“, da schwingt der Lebensrhythmus von Aufschwung und Zusammenbruch förmlich aus in einer ungemein dynamisch-flüssigen Gestaltung, welche den Ton des Abschieds in ihrer unaufgeregten Verhaltenheit bestens trifft. Das Scherzo und die Burleske – übrigens auch bei Ancerl! – sind fabelhaft!
Supraphon hat die Symphonien in einer Box herausgebracht (leider ohne die Wunderhornlieder mit Boris Berman!) in einer neuen digitalen Überspielung. Der Klang ist erheblich besser als in den älteren einzelnen Lizenzausgaben auf CD, die es gab. Insgesamt ist die Aufnahmetechnik im akustisch hervorragenden Smetana-Saal vorzüglich natürlich und eher schlank-durchsichtig. Da sind die Neuaufnahmen aus den 90igern vor allem was den Streicherklang angeht deutlich satter: Das Klangbild ist etwas weniger Bläser betont. Deutlich vernehmbar hat sich der Klang der Tschechischen Philharmonie mit der Zeit verändert, im Zeitalter der Globalisierung „verwestlicht“. Der typisch böhmische Ton der Klarinetten etwa ist nicht mehr so auffällig wie in den älteren Aufnahmen. Ich möchte beide Zyklen nicht missen! Zuletzt hörte ich den 1. Satz der 9., die späte Aufnahme. Interpretatorisch hat sich da kaum etwas geändert. Der derzeitige Chef der Tschechischen Philharmonie, Zdenek Macal, arbeitet an einem Mahler Zyklus, der aber noch nicht abgeschlossen ist. Mit diesen Aufnahmen habe ich mich bislang noch nicht intensiv beschäftigt – beim Hereinhören (z.B. der 3. oder 4.) klingt das aber alles etwas ernüchtert, weniger frei und tänzerisch beschwingt als bei Neumann. Wahrscheinlich werden die Musiker in Prag über Vaclav Neumann so etwas sagen wie die Leningrader (heute St. Petersburger) über ihren verstorbenen Chef Mrawinsky: er stehe immer noch am Pult!
Beste Grüße
Holger