Sprache und Musik im Lied

  • Die Idee zu diesem Thread entspringt der Erkenntnis und der Überzeugung, dass die Faszination des Kunstlieds nicht nur im Zauber seines Klangs liegt, sondern auch in der Tatsache, dass in ihm, wie in keiner anderen musikalischen Gattung sonst, Sprache und Musik ein überaus spannungsreiches und wechselseitig befruchtendes Verhältnis eingegangen sind.


    Dieser Thread soll der Ort sein, an dem diesem Verhältnis in Reflexion und Dialog nachgegangen wird.


    Er muss, von seiner Intention her, offen sein, nicht eingegrenzt auf eine bestimmte historische Phase der Geschichte des Kunstlieds oder eine spezifische Gruppe von Komponisten. Denn das Verhältnis von Sprache und Musik ist im Falle des Kunstlieds nicht nur an sich hochkomplex, es wandelt und verändert sich auch historisch sehr stark und sieht von Fall zu Fall anders aus. Die Bandbreite reicht dabei von der einfachen Einbettung von Sprache in Musik, bei der diese die Funktion eines Gehäuses hat, bis hin zu einem dialektischen Spannungsverhältnis, bei dem Musik Sprache interpretiert und ihr zusätzliche Dimensionen des Ausdrucks verleiht.


    Bei der gemeinsamen Reflexion könnte gleichsam exemplarisch verfahren werden. So also, dass an ein Lied oder an einen Komponisten mit folgender Fragestellung herangegangen wird:


    - Wie geht der Komponist mit dem lyrischen Text um? Welche Absichten verfolgt er mit der Vertonung?


    - In welcher Form schlägt sich dies in diesem oder jenem seiner Lieder nieder?


    - Wird er mit dieser Vertonung dem dichterischen Gehalt des lyrischen Textes gerecht? Hat er das Gedicht richtig verstanden oder komponiert er darüber hinweg? Hat er das Gedicht auf seine eigene Weise gedeutet?


    - Lassen sich Gründe dafür ermitteln, warum ein Komponist gerade zu den Gedichten eines bestimmten Lyrikers gegriffen hat?


    - Gibt es erkennbare Affinitäten zwischen der musikalischen Grundhaltung eines Komponisten und der spezifischen sprachlichen Struktur der Lyrik, die er vertont?


    Das klingt alles ziemlich abstrakt und kompliziert. Es ist aber lediglich als Orientierungsrahmen zu verstehen, an dem deutlich werden soll, worum es in diesem Thread geht.


    Im Grunde ist schon ungeheuer viel gewonnen, wenn einfach nur Gedanken über das Kunstlied unter dem hier relevanten Aspekt ausgetauscht werden, und seien sie auch noch so unstrukturiert und dem augenblicklichen Einfall geschuldet.

  • Ich fange einfach mal an, um Ansatzpunkte für einen Dialog zu liefern.


    Vor einiger Zeit vertrat ich im Forum die Auffassung, dass jeder lyrische Text vertont werden könne. Es sei eigentlich nur eine Frage der musikalischen Mittel, über die der Komponist verfügt. Nun hatte ich aber vor kurzer Zeit ein Erlebnis, das mich sehr nachdenklich machte. Aus Anlass des Tages der deutschen Einheit sendete die ARD einen Film, in der eine Szene vorkam, wo der Schauspieler Sylvester Groth den Anfang von Goethes Gedicht PROMETHEUS sprach. Ich zuckte regelrecht zusammen, und mein erster Gedanke war: Das lässt sich nicht vertonen. Diese mit ungeheuerer Wucht herausgeschleuderten Verse einer trotzigen Auflehnung gegen den Gott sind mit keiner Musik der Welt wirklich zu fassen. Dieses Gedicht genügt sich selbst. Jeder Versuch einer Vertonung bringt eine Minderung seines Gehalts mit sich.


    Ich schaltete den Fernseher aus (der Film war ohnehin nicht fesselnd) und hörte mir Schuberts Komposition an. Und siehe: Ich fand mich in meiner Auffassung bestätigt. Schubert gibt sich ja alle Mühe, diese ungeheuer verdichtete und wuchtige Sprachlichkeit einzufangen, indem er das Lied rezitativisch anlegt, weitgehend auf seine sonst so geliebte Melodie verzichtet und den trotzigen Ton der Auflehnung gegen das Göttliche mit dem wuchtigen Tremolo der Klavierbegleitung zum Ausdruck zu bringen versucht. In schwere akkordische Sequenzen ist zum Beispiel die Frage eingebettet "Wer half mir wider der Titanen Übermut?"


    Alles mit größter kompositorischer Könnerschaft gemacht, dachte ich. Aber Goethes Gedicht erfasst das nicht voll!


    Irgendwie, meinte ich, sind doch die Vorbehalte Goethes gegen Schuberts Lieder zu verstehen. Wenn ein Dichter davon überzeugt ist, dass seine Werke sich selbst genügen, dass alles, was er mit ihnen sagen wollte, auch in ihnen zu finden ist, dann muss er doch einen Komponisten ablehnen, der mit der Lyrik macht, was er will, was er, musikalisch gesehen, für richtig hält.


    Am selben Tag noch stieß ich zufällig auf eine Bemerkung des Schubert-Biographen Manfred Wagner. Der schrieb in seiner 1996 erschienenen Schubert-Biographie:


    "Reichardt achtet den Dichter, Schubert benutzt ihn, auch wenn er Goethe heißt. Man mag dafür historische Gründe finden - in Berlin die Wortgebundenheit, gelernt aus dem protestantischen Choral und dem deutschen Lied, in Wien prioritär immer die Paraphrase des Theatralischen, das Wort immer untergeordnet der Szene, nie Selbstwert besitzend." (S.41f)


    Diese Feststellung war eine von der Sorte von Gedanken, bei denen einem ein Licht aufgeht.


    Darf ein Komponist ein Gedicht einfach so benutzen, wie er das für richtig hält? Und wo ist da die Grenze?

  • Derjenige, der einen Thread eingerichtet hat, muss sich natürlich dann, wenn sich dort nichts tut, der Frage stellen: Woran liegt es?


    Eigentlich wollte ich ja am Beispiel eines Goethe-Gedichts, das von Reichardt und von Schubert in ein Lied verwandelt wurde, den oben aufgeworfenen Fragen nachgehen. Das werde ich auch tun. Zuvor aber noch etwas Grundsätzliches.


    Es spricht einiges dafür, dass ich mit meinem Ansatz, das Kunstlied als in Musik verwandelten lyrischen Text zu sehen und über seine spezifische innere Struktur unter diesem Aspekt nachzudenken, bei einigen Forianern so etwas wie Kopfschütteln auslöse. Sollte das so sein, so bedauere ich das. Es ist ja völlig im Sinne des Komponisten, wenn man sich an einem Kunstlied erfreut und hörend seiner Botschaft lauscht. Das macht Freude, und diese Freude genügt sich selbst.


    Es gibt aber auch noch eine andere Freude im Umgang mit dem Kunstlied. Ich meine die Freude, die man erlebt, wenn man sieht, wie Schubert zum Beispiel (oder Schumann oder ein anderer Komponist) ein Goethe-Gedicht gelesen hat. Das muss er nämlich getan haben, und zwar im Sinne einer wirklichen Auseinandersetzung mit dem Text, sonst hätte es ihn ja nicht zur Komposition animiert. Man kann ihm zum Beispiel darin folgen, wie er das Klavier die Singstimme interpretieren oder ihr Contra geben lässt, und aus diesem Sachverhalt ablesen, wie den Text an dieser Stelle verstanden hat.


    Mag sein, dass ich mit dieser meiner Freude auf wenig Gegenliebe stoße. Aber ich möchte nicht vorzeitig aufgeben. Erst möchte ich bei einigen Liedern im Sinne der Fragestellung hörend und nachdenkend der Intention der Komponisten nachgehen.


    Die berühmte Frage nach der zeitlichen Priorität von Henne und Ei ist beim Kunstlied eindeutig zu beantworten. Es war immer erst der lyrische Text da, und dann kam die Musik. Nur in wenigen Fällen (Maler, Franz Schreker, einmal Schubert) haben sich die Komponisten ihre Liedertexte selbst geschrieben. Aber auch dann haben sie sie nicht so behandelt wie ein Opernkomponist das beim Schreiben einer Arie tut oder Bach bei der Komposition der Matthäus-Passion.


    Kurzstueckmeister hat heute die Frage nach dem Wesen des Kunstliedes und der Berechtigung dieses Begriffs aufgeworfen. Worin unterscheidet es sich grundsätzlich von anderen musikalischen Gattungen, in denen auch Sprache und Musik eine Verbindung eingegangen sind, dem Madrigal zum Beispiel, der Canzonette, der Arie oder einfach nur dem Volkslied. Solche Fragen könnten hier nicht beantwortet, aber wenigstens doch gestreift werden.

  • Reichardt soll Goethe "geachtet" haben, sagt Manfred Wagner, Schubert higegen habe den Dichter "benutzt", ohne Rücksicht auf seinen großen Namen. Er sei mit Goethes Gedichten umgegangen wie mit denen eines Johann Gabriel Seidl oder eines Johann Mayrhofer.


    Wie schlägt sich dies, wenn es denn stimmen sollte, in den Liedern von Reichardt und Schubert nieder? Man muss das an einem Beispiel untersuchen. Ich wähle Goethes Gedicht "JÄGERS ABENDLIED" dafür, weil ich es in der Fassung von Schubert überaus liebe.


    Jägers Abendlied


    Im Felde schleich´ich still und wild // Gespannt mein Feuerrohr, // Da schwebt so licht dein liebes Bild, // Dein süßes Bild mir vor.


    Du wandelst jetzt wohl still und mild // Durch Feld und liebes Thal, // Und, ach, mein schnell verrauschend Bild, // Stellt sich dir´s nicht einmal?


    Des Menschen, der die Welt durchstreift // Voll Unmut und Verdruß, // Nach Osten und nach Westen schweift, // Weil er dich lassen muß.


    Mir ist es, denk´ich nur an dich, // Als in den Mond zu sehn; // Ein stiller Friede kommt auf mich, // Weiß nicht, wie mir geschehn.


    Die vier Stropen sind metrisch völlig gleich gebaut: Der erste und der dritte Vers besteht jeweils aus vierhebigen Jamben (unbetont - betont x X ), der zweite und der vierte aus dreihebigen. Regelmäßiger geht es eigentlich rhythmisch und metrisch nicht.


    Und jetzt ist die Frage: Wie streng halten sich beide Komponisten an die sprachlich strukturellen Vorgaben des Dichters Goethe?


    Zunächst ein Blick auf Reichardts Vertonung:


    Es ergibt sich ein klares Bild. Es besteht eine nahtlose Übereinstimmung zwischen sprachlicher Struktur und der Faktur der Komposition. Die Singstimme deklamiert exakt so, wie es das jambische Versmaß vorgibt. Die erste Melodiezeile steigt in Sekundschritten an bis hin zur Quinte, endet dann aber auf der Terz. Auf jeder Silbe sitzt ein Ton. Danach steigt die melodische Linie in ähnlichen Schritten abwärts, um in einem Wechsel von Dominante und Tonika zu enden.


    Die Tonschritte der Singstimme erinnern unüberhörbar an Hornsignale, was ja auch vom Text nahegelegt wird. Reichardt nimmt den Text also ganz wörtlich: Er sieht da einen Jäger abends durchs Gelände ziehen, der nicht zu seiner Geliebten kann, weil er "die Welt durchstreift", seine "Jägerwelt". Die Klavierbegleitung der Singstimme besteht aus schlichten Akkorden, die wiederum exakt mit der Skandierung der melodischen Linie übereinstimmen. Diese Klavierbegleitung hat neben ihrer klanglichen Stützfunktion keine weitere. Man könnte sie genauso gut weglassen und nur die Melodie singen: Diese würde dadurch überhaupt nichts von ihrem inneren Ausdruck verlieren.


    Das Gesamtbild der Komposition ist eindeutig: Das ist wortgetreu in Musik gesetzte lyrische Sprache. Reichardt "achtet" den Text bis in seine kleinsten Feinheiten. Aus dieser "Achtung" heraus hütet er sich vor jeglicher Eigenständigkeit im Umgang mit Goethes Gedicht. Er lässt den Sänger exakt nach den metrischen Vorgaben silbengetreu skandieren. Von einer eigenständigen Interpretation des Gedichts durch den Komponisten kann keine Rede sein.


    (Schuberts Fassung des Liedes muss in einem eigenen Beitrag dargestellt werden, damit dieser hier nicht zu umfangreich wird.)

  • Das Gesamtbild der Komposition ist eindeutig: Das ist wortgetreu in Musik gesetzte lyrische Sprache. Reichardt "achtet" den Text bis in seine kleinsten Feinheiten. Aus dieser "Achtung" heraus hütet er sich vor jeglicher Eigenständigkeit im Umgang mit Goethes Gedicht. Er lässt den Sänger exakt nach den metrischen Vorgaben silbengetreu skandieren. Von einer eigenständigen Interpretation des Gedichts durch den Komponisten kann keine Rede sein.


    Also mir ist schon klar, dass diese Formulierung den Zweck hat, die Unterschiede zu Schubert deutlich herauszuarbeiten. Aber ich bin mir sicher, dass Sätze wie "Von einer eigenständigen Interpretation des Gedichts durch den Komponisten kann keine Rede sein", wenn man sie ernst nimmt, nach hinten losgehen. Eine etwas behutsamere Ausdrucksweise wäre sicher angemessener.


    Aber wir werden ja sehen, wie Du das Wort "Interpretation" bei Schubert verwenden wirst. Ich muss ja mal wieder zugeben, dass das ein Wort ist, das ich im Zusammenhang mit Musik und Text nicht so mag.
    ;)

  • Über den Einwand von kurzstueckmeister freue ich mich. Ich werde auf den Begriff "Interpretation", so wie ich ihn hier verwende, noch ganz genau eingehen, und zwar im übernächsten Beitrag, wenn es um die Auswertung des Liedvergleichs "Jägers Abendlied" geht. Aber schon jetzt, bei der Beschreibung von Schuberts Kompositionsweise, dürfte vieles deutlich werden. Schubert interpretiert Goethes Gedicht musikalisch. Und das kann man zeigen.


    Schubert geht mit einer ganz anderen Grundhaltung an Goethes Lyrik heran. Er will sie nicht vertonen, sondern er will sie in Musik verwandeln, in Sprachmusik. Wie stellt sich das in diesem Falle dar?


    Ins Auge fällt schon beim ersten Draufblick: Es fehlt eine Strophe, und zwar die dritte. Das ist ein massiver Eingriff in Goethes Gedicht, den Reichardt sich nicht erlaubt hätte. Bei Schubert bleibt nämlich völlig unklar, warum der Jäger die Visionen hat, die Goethe in so meisterhafter lyrischer Sprache gestaltet. Die erste Vermutung: Schubert geht es - im Gegensatz zu Reichardt - gar nicht so sehr um den Jäger und seine reale Situation (das "Durchstreifen" seiner Jägerwelt), - ihm geht es um sie seelischen Empfindungen dieses Mannes. Sollte sich das in der musikalischen Struktur seines Liedes bestätigen, dann hätte er das Gedicht Goethes auf seine eigene Weise gelesen. Er hätte es interpretiert, indem er einen ganz bestimmten Aspekt des lyrischen Textes in den Vordergrund gestellt und einen anderen (die reale Jägersituation) vernachlässigt hätte.


    Diese Vermutung lässt sich mittels einer Analyse der musikalischen Struktur ganz einwandfrei belegen. Das Lied ist überschrieben: "Sehr langsam, leise". Vom semantischen Gehalt des lyrischen Textes her, den Schubert in den Mittelpunkt seiner Komposition stellen will - der Jäger schleicht still dahin und erfährt eine visionäre Begegnung mit seiner Geliebten - ist das die genau angemessene Tempoangabe. Nun heißt es aber auch: Er schleicht nicht nur "still", sondern auch "wild". Ein Blick in die Noten, - und man sieht, wie Schubert auf Goethes Text musikalisch reagiert.


    Sofort wird klar: Hier liegt eine ungleich komplexere Komposition vor als die Reichardts. Ist dort die musikalische Faktur recht einfach, so ist sie hier ein kompliziertes Gefüge von Notenbewegungen im Bereich von Singstimme und Klavier. Zwar deklamiert die Singstimme anfänglich so wie bei Reichardt. Aber im Klavier herrscht eine Unruhe von aufsteigenden Sechzehnteln. Warum? Der Jäger schleicht eben nicht nur still, - es ist eine Unruhe in ihm, eine seelische Erregnung ("wild" ! ).


    Das ist typischer Schubert! Die Klavierstimme begleitet nicht einfach (wei bei Reichardt!), sie wird hier zum Gegenspieler der Singstimme. Diese will eigentlich ruhig voranschreiten (Text: "schleich ich"), aber das unruhige Klavier zwingt ihr Melismen ab: Über "ich" und über "und wild". Es herrscht - unübersehbar und unüberhörbar! - eine leichte Erregung in der Musik, die die beiden ersten Verse umfasst.


    Dann aber ändert sich alles. Und auch das ist wieder ganz vom Text her begründet. Die Vision des "lieben Bildes" erfordert eine gänzlich andere musikalische Struktur: Die Antithese von Singstimme und Klavier, die die Musik der ersten beiden Verse prägte, ist verschwunden. Die melodische Linie der Singstimme wird von Akkorden getragen und schmeichelnd umspielt. Die rechte Hand des Klaviers wirkt fast wie eine Verdoppelung der Singstimme.


    Spätestens hier ist klar: Schubert ist an den realen Lebensumständen des Jägers gar nicht interessiert. Ihm geht es um seelische Regungen. Das seelische Innenleben dieses Mannes rückt in seiner Komposition ganz in den Vordergrund. Die dritte Strophe braucht er nicht. Sie würde in ihrem semantischen Gehalt auch gar nicht zu der lieblichen Melodie passen, mit der die Vision der Geliebten musikalisch gestaltet wird. Diese Vision spiegelt sich - musikstrukturell gesehen - in den Portato-Figuren des Klaviers und der Bewegung der melodischen Linie in hohen Lagen.


    Damit ist das Wichtigste gesagt. Eine weitere Analyse scheint mir nicht erforderlich, zumal es sich hier ja um ein Stropenhlied handelt. Es dürfte deutlich geworden sein, dass Schubert mit einer ganz anderen Haltung an das Gedicht Goethes herangeht: Er will es in Sprachmusik verwandeln. Dazu liest er es auf seine Weise: Er setzt als Komponist einen unüberhörbaren Akzent auf die seelischen Regungen, die in diesem Gedicht sprachlich gestaltet sind. Das heißt: Der Komponist Schubert interpretiert die textliche Vorlage für seine Musik auf seine ganz indivduelle Weise.

  • Zunächst eine Vorbemerkung, die sich nach dem Beitrag von kurzstueckmeister als erforderlich gezeigt hat:


    Der Begriff "Interpretation" wird hier im germanistisch definierten Sinne verwendet. Interpretation bedeutet bei einem dichterischen Text, hier also einem Gedicht, die bewusste und methodisch regulierte Auslegung des jeweiligen dichterischen Gehalts. Die methodische Regulierung bezieht sich dabei auf die Beachtung der Textvorlage in allen ihren sprachlich-strukturellen und semantischen Ebenen. Sie sorgt dafür, dass die Anbindung der Auslegung an den Text gewahrt bleibt und keine Willkür herrscht. Die Partikel "bewusst" ist hier eingefügt, weil es auch eine mehr oder weniger unbewusste Interpretation gibt: Sie ereignet sich bei jedem Lesen eines dichterischen Textes, bei seiner einfachen Rezeption durch den "normalen" Leser also.


    Und damit kann ich zu dem Punkt kommen, um den es hier geht: Den Vergleich zwischen Reichardt und Schubert. Reichardt verhält sich als Komponist wie ein ganz normaler Leser des Goethe-Gedichts. Er interpretiert dieses Gedicht natürlich auch, und zwar auf die Weise, dass er es liest und sich überlegt, wie man diesen Text in Musik setzen kann. Aber er bleibt dabei ganz nahe am Text und liest diesen mit nur wenig bewusster Interpretation.


    Das zeigt seine Komposition. Die Hörnerklänge in der melodischen Linie seines Liedes lassen erkennen: Reichardt sieht hier den Jäger, der sich durch sein Revier bewegt und dabei an seine ferne Geliebte denkt. Dass es in diesem Jäger "still" und "wild" zugleich zugeht, interessiert ihn nicht, sonst müsste sich das in seiner Komposition musikalisch niederschlagen.


    In diesem Zusammenhang ist es wichtig, zu wissen, was Reichardt über das Komponieren von Liedern selbst sagt:


    "Meine Melodien entstehen jederzeit aus wiederholtem Lesen des Gedichts von selbst, ohne daß ich darnach suche, und alles was ich weiter daran thue, ist dieses, daß ich sie so lang mit kleinen Abänderungen wiederhole, und sie nicht eh´aufschreibe, als bis ich fühle und erkenne, daß der grammatische, logische, pathetische und musikalische Akzent so gut miteinander verbunden sind, daß die Melodie richtig und angenehm singt, und das nicht nur für eine Strophe, sondern für alle." (zitiert nach H.W. Schwab, Sangbarkeit, Popularität und Kunstlied, Regensburg 1965).


    Man sieht: Reichardt liest das Gedicht zwar als Komponist, aber er liest es mit den Augen des normalen, nicht mit denen des bewusst interpretierenden Lesers. Bitte in diesem Zusammenhang die Wendung "ohne dass ich darnach suche" beachten! Er liest so lange, bis ihm die zu dem Gedicht passende Melodie einfällt. Ist das geschehen, hat er, was er möchte. Mehr als dieses will er nicht!


    Schubert geht im Umgang mit Goethes Gedicht weit über Reichardt hinaus. Er interpretiert nicht nur in viel größerem Umfang, als Reichardt dies tut, er interpretiert sogar exzessiv. Als Germanist würde ich ihm auf die Finger klopfen. Warum?


    In der dritten Strophe von Goethes Gedicht, die Schubert souverän übergeht, wird eine wichtige Aussage über das Wesen des Menschen gemacht: Der Mensch, dessen ganzer Lebenshinhalt aus aktivem "Durchstreifen" der Welt besteht, bezahlt dies mit Entfremdung von sich selbst (und damit auch von seiner Liebe) und muss darüber "Unmut" und "Verdruß" empfinden. Dieser gehaltliche Aspekt des Gedichts interessiert Schubert aber überhaupt nicht!


    Was Schubert mit diesem Gedicht tut, musste Goethe zu Recht empören. Er verkürzt als interpretierender Leser und als komponierender Musiker ohne Hemmungen die Aussage des lyrischen Textes. Er gibt ihr, wenn man so will, einen einseitigen Akzent.


    Ich hätte also oben präziser formulieren und sagen müssen: Schubert interpretiert das Gedicht "Jägers Abendlied" exzessiv, gleichsam über die Stränge schlagend, und eben nicht, wie sich das eigentlich aus Achtung vor dem Text gehört, "methodisch reguliert" (s. meine obige Definition!). Er tut dem Werk des Dichters Gewalt an. Er "achtet" es nicht, wie Reichardt das tut.


    Die Frage ist: Warum verhält er sich so? Dazu braucht es einen neuen Anlauf.

  • Lieber Helmut Hofmann,


    bei Betrachtungen zu diesem Lied sollte man vielleicht auch darauf hinweisen, dass es Jägers Abendlied in zwei Fassungen von Schubert gibt.



    Die erste Bearbeitung vom Juni 1815 (D 215) hatte noch zwei Gedichtstrophen zu einer zusammengefasst und den jeweils zweiten Teil mit einer durchlaufenden Triolenbegleitung unterlegt.
    In der zweiten Bearbeitung (D 368 ) von 1816 (überschrieben: "sehr langsam, leise") entscheidet Schubert sich für eine einfache Strophenform, allerdings in der ungewöhnlichen Tonart Des-Dur und mit einer deutlichen Zweiteilung jeder Strophe in der Mitte: harmonisch durch den Trennstrich eines dominantischen Halbschlusses, formal durch die Änderung der Begleitfiguren, die von chromatischen Einwürfen auf repetierte sechzehntel umstellen.


    Diesen Text (Joachim Landkammer) habe ich auszugsweise aus dem Begleitheftchen einer Naxos-CD (Goethe Lieder - 3) zitiert.


    Die CD wurde vor acht Jahren vom SWR produziert und ich war damals auch überrascht, dass es Jägers Abendlied in zwei Schubertfassungen gibt (auch "Am Flusse" ist in zwei Bearbeitungen drauf - D 160 und D 766) Der Interpret ist der Tenor Johannes Kalpers, den ich sehr schätze! Leider (aus meiner Sicht) hat sich Kalpers im Folgenden eher den "leichten" Dingen zugewandt.

  • Vor einiger Zeit vertrat ich im Forum die Auffassung, dass jeder lyrische Text vertont werden könne. Es sei eigentlich nur eine Frage der musikalischen Mittel, über die der Komponist verfügt. Nun hatte ich aber vor kurzer Zeit ein Erlebnis, das mich sehr nachdenklich machte. Aus Anlass des Tages der deutschen Einheit sendete die ARD einen Film, in der eine Szene vorkam, wo der Schauspieler Sylvester Groth den Anfang von Goethes Gedicht PROMETHEUS sprach. Ich zuckte regelrecht zusammen, und mein erster Gedanke war: Das lässt sich nicht vertonen. Diese mit ungeheuerer Wucht herausgeschleuderten Verse einer trotzigen Auflehnung gegen den Gott sind mit keiner Musik der Welt wirklich zu fassen. Dieses Gedicht genügt sich selbst. Jeder Versuch einer Vertonung bringt eine Minderung seines Gehalts mit sich.


    Ich schaltete den Fernseher aus (der Film war ohnehin nicht fesselnd) und hörte mir Schuberts Komposition an. Und siehe: Ich fand mich in meiner Auffassung bestätigt. Schubert gibt sich ja alle Mühe, diese ungeheuer verdichtete und wuchtige Sprachlichkeit einzufangen, indem er das Lied rezitativisch anlegt, weitgehend auf seine sonst so geliebte Melodie verzichtet und den trotzigen Ton der Auflehnung gegen das Göttliche mit dem wuchtigen Tremolo der Klavierbegleitung zum Ausdruck zu bringen versucht. In schwere akkordische Sequenzen ist zum Beispiel die Frage eingebettet "Wer half mir wider der Titanen Übermut?"


    Alles mit größter kompositorischer Könnerschaft gemacht, dachte ich. Aber Goethes Gedicht erfasst das nicht voll!


    Lieber Helmut,


    wir sind Beide (Andere auch) Liedfreunde - ich besonders Schubert. Unter Verweis auf den Thread "Wodurch ist Schuberts Ausnahmestellung in Sachen Lied begründet" (wird hoffe ich bald wiederhergestellt! Alfred?)) sind wir auch von seiner Ausnahmestellung überzeugt.


    Dann wundert mich aber: Auch Schubert war nur ein Mensch, wenn auch mit ganz außergewöhnlicher Begabung. Dann müßtest Du ihm aber auch zugestehen, dass es bei ihm nicht nur Kompositionen/Liedvertonungen gibt, die 100-ig alle Anforderungen erfüllen, sondern auch Werke, die nur 70, 80 oder 90% erfüllen - auch Schubert konnte nie immer + stets eine Genie sein.


    Also gestehe ihm, bitte, bei "Prometeus" einen "Ausrutscher" zu und schließe daraus nicht, daß dieses Gedicht unvertonbar sein oder dadurch eine Vertonung, von wem auch immer, Nichts gewönne. Schubert hat sehr, sehr heitere, fröhliche, vor Glück überschäumende Gedichtvertonungen geschaffen, aber auch höchst melancholische, von äußerster Zerissenheit und tiefster Depression geprägte - könnte es sein, dass ihm der polternde, aufbegehrende Ausdruck wesensmäßig nicht s o s e h r lag?


    Herzliche Grüße
    zweiterbass

    Wer die Musik sich erkiest, hat ein himmlisch Gut bekommen (gewonnen)... Eduard Mörike/Hugo Distler

  • Ich hatte in meinem Beitrag zu Schubert die These vertreten, Schubert wolle Musik nicht "vertonen", sondern er wolle lyrische Sprache in Musik verwandeln. Diese These habe ich auch in dem Thread "Schuberts Ausnahmerang" vertreten. Ich stütze mich dabei auf die Untersuchungen von Thr. Georgiades, ohne dass ich allerdings dessen Auffassung übernehmen möchte, dass dies sozusagen ein "Alleinstellungsmerkmal" Schuberts sei. Jedenfalls nicht nicht in der Radikalität, mit der er sie vertritt.


    Alles, was ich schreibe sind zwar meine eigenen Gedanken, diese sind aber natürlich Ausfluss all dessen, was ich zum Thema Sololied gelesen habe. Ich kann nicht immer genau angeben, auf welchen Autor ich mich bei diesen oder jenen Ausführungen stütze. Das würde meine Beiträge, die ohnehin für einige hartes Brot sein dürften, noch schwerer lesbar machen. Einige Autoren möchte ich aber nennen, weil ich von deren Publikationen besonders viel gelernt habe: D. Fischer-Dieskau, Thr. Georgiades, Walther Dürr, Hans Gal und Arnold Feil.


    Die These von der Verwandlung von Sprache in Musik, - ich nannte das Ergebnis "Musiksprache" - kann ich hier nicht noch einmal ausführlich konkretsieren. Der Thread "Schuberts Ausnahmerang" wird ja glücklicherweise wieder restituiert. In Einzelfällen werde ich aber noch nähere Ausführungen zu dieser These machen.

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  • Lieber zweiterbass,


    ich freue mich, hier im Forum von Dir wieder zu lesen. Was Schuberts "Pometheus" betrifft, so habe ich nicht die Auffassung vertreten, dass dies eine misslungene Komposition sei. Sie ist noch nicht einmal eine von den weniger gelungenen, die es von Schubert ja auch gibt. Sie ist ein großartiges Lied. Reichardt und Hugo Wolf haben dieses Gedicht Goethes ja auch vertont. Für mich ist Schuberts Lied aber dasjenige, das dem Gedicht noch am ehesten gerecht wird.


    Was ich meinte, war dieses: Ich habe Zweifel daran, ob man den Geist des Sturm und Drang, den dieses Gedicht bis in seine innersten sprachlichen Fasern atmet, wirklich in Musik setzen kann. Gleichgültig, wie groß das kompositorische Genie auch immer sein möge!


  • Lieber Helmut,


    ist Dein Beitrag vom 16.10. 11 Uhr 32 "…Schubert wollte Musik vertonen" nun ein schwarzer/weißer Schimmel oder ein weißer/schwarzer Rappe?


    Doch Spaß beiseite, ich möchte etwas Anderes klären:
    Die letzten beiden Absätze aus dem Zitat möchte ich nicht besprechen, die sind klar, aber:
    Neben den Merkmalen in den Absätzen 1 - 3 verwendest Du auch noch gelegentlich die Begriffe "Sprachmusik" und "lyrische Sprache in Musik verwandeln".



    Von dem Ausnahmefall abgesehen, dass ein Komponist/Liedvertoner/Sprachumwandler ein Gedicht verkürzt/verändert (Dein Beispiel "Jägers Abendlied" oder Distler's Vertonung "Ich wollt' dass ich daheime wär) und damit absichtlich eine andere (völlig andere bei Distler!) Aussage des Gedichtes erreicht,


    könnten wir uns nicht auf folgende oder ähnliche - das Bessere ist des Guten Feind - Begriffsdefinition einigen, wenn es sich um die kompositorische Umsetzung eines Gedichtes/Textes handelt (es würde die Diskussion im Forum und unseren Gästen das Lesen erleichtern):



    "Die Vertonung eines Gedichtes umfasst die Umsetzung in Musik, unter Beibehaltung des Originaltextes, so wie der Komponist den Text in seiner wörtlichen und inhaltlichen Bedeutung verstanden hat."


    Es kann sein,
    der Komponist hat die Worte falsch verstanden/interpretiert - im Bezug zum Dichter oder zum heutigen Leser?
    der Komponist hat den über die Worte hinaus gehenden Inhalt nicht oder falsch erfasst - im Bezug… wie vor
    der heutige Leser hat das Gedicht in den "Worten" und dem "Inhalt" gegenüber dem Dichter anders interpretiert, als es der Dichter eigentlich gemeint hat - das kann das Unvermögen des Dichters sein oder die Borniertheit des Heutigen
    der heutige Hörer hat die Komposition …wie vor.



    Was will ich damit sagen: Es gibt so viele unterschiedliche Möglichkeiten des Missverständnisses, dass generalisierende Aussagen sehr schwierig sind, meine ich.


    Und wenn ich nicht daneben liege: Altersmäßig hast Du die jugendliche Unbeugsamkeit
    hinter Dir gelassen und der Altersstarrsinn liegt noch weit vor Dir! (Zum "Jägers Abendlied" komme ich ein anderes Mal.)


    Herzliche Grüße
    zweiterbass

    Wer die Musik sich erkiest, hat ein himmlisch Gut bekommen (gewonnen)... Eduard Mörike/Hugo Distler

  • Lieber zweiterbass,


    ich schreibe so viel (zu viel?), dass mir offensichtlich auch unsinnige Formulierungen unterlaufen. Natürlich muss in dieser von Dir zitierten Stelle das Wort "Musik" durch "Sprache" ersetzt werden.


    Aber jetzt zu Deinem Vorschlag. Er ist für mich voll akzeptabel. Natürlich erfolgt die Kompositiion auf der Basis des Textverständnisses des jeweiligen Komponisten. Das Problem ist aber doch, dass jeder Komponist mit einer jeweils ganz spezifischen Haltung an den Textr herangeht. Diese Haltung dem Text gegenüber ist der entscheidende Faktor, der darüber entscheidet, wie das Lied am Ende aussieht. Ein lyrischer Text ist ein polyfunktionales semantisches Gebilde. Heißt: Es gibt eine gewisse Bandbreite der Interpretation. Und da liegt der Hund begraben. Was ein Komponist aus einem lyrischen Text herausliest, das kann etwas ganz anderes sein als das, was einer seiner Vorgänger oder auch seiner Zeitgenossen darin als musikalisch ausdrückenswert empfindet.


    Darf ich Dich noch ein wenig vertrösten? Vielleicht wird´s ja im weiteren Verlauf deutlich, was ich meine.


    Du kannst es aber auch hier schon sehen: Reichardt hat Jägers Abendlied anders gelesen als Schubert. Er ging als Komponist mit einer anderen Haltúng an das Gedicht heran. Heraus kamen zwei völlig verschiedene Lieder. Das genau möchte ich zeigen!

  • Die Frage lautete: Warum geht Schubert in dieser eigensinnigen Form mit Goethes Gedicht "Jägers Abendlied" um? Kan man Gründe für die Haltung finden, die er hier - und generell - dem lyrischen Text gegenüber einnimmt? Das ist ja schließlich hier kein Einzelfall. Schubert greift häufig in die sprachliche Struktur der Gedichte ein, wenn auch selten so rabiat wie hier. In der Regel begnügt er sich mit dem Ersetzen einzelner Wörter und der Wiederholung von ganzen oder halben Verszeilen.


    Das Problem ist: Schubert hat sich zu dieser Frage nicht direkt geäußert. Man muss also aus der gegebenen Quellenlage schlussfolgern. Interessant ist in diesem Zusammenhang eine Bemerkung von D. Fischer-Dieskau zu dem frühen Schubertlied "Klaglied" (D 23), Text von Johann Friedrich Rochlitz: "Da, wo es ihm (Schubert) nützlich erscheint, scheut er sich nicht, unbedenklich zu ändern, einzelne Zeilen und Teile zu wiederholen, die im Text nicht direkt aufeinanderfolgen." (Franz Schubert und seine Lieder, S.44). Fischer-Dieskau führt diesen Sachverhalt darauf zurück, dass Schubert damals "ein noch Lernender" war. Ich hingegen denke, dass hier schon, ganz am Anfang der Liedkomposition, bei Schubert die Haltung zutage tritt, die er gegenerell dem lyrischen Text gegenüber einnimmt, bis ans Ende.


    Es ist auffällig: Schuberts Haltung als Komponist ist die einer ausgeprägten Sprachfixiertheit. Darin unterschiedet er sich fundamental etwa von Reichardt und Zelter und den anderen Lied-Komponisten vor ihm und den zeitgenössischen.


    Für Zelter wie für Reichardt war die Musik, die sie als als Liedkomponisten schufen, im Grunde das Gehäuse für den lyrischen Text. Sie diente dazu, das Gedicht in musikalischer Umrahmung und Einhüllung zu präsentieren. Bezeichnend ist das Lob Goethes: Er findet Zelters Lieder deshalb so großartig, weil sie "den Hörer in die Stimmung versetzen, welche das Gedicht angibt" (Brief vom 2.5.1820). Diese Funktion erfüllen Reichardts, Zelters und Zumsteegs Lieder auch tatsächlich. Das dürfte am Beispiel von Reichardts "Jägers Abendlied" deutlich geworden sein.


    Schubert will etwas gänzlich anderes: Er will mit Sprache Musik komponieren. Man kann das gut an einem frühen Lied wie "Hagars Klage" nachweisen, wenn man Zumsteegs Vertonung neben Schuberts Komposition stellt. Bei Schubert ist die Orientierung am Text unübersehbar ausgeprägter: Es wird deutlich mehr deklamiert und skandiert, weil die Sprache in die Musik eingegangen ist.


    Vermutlich hängt die ausgeprägte Sprachfixierung mit dem Aufwachsen Schuberts in der Tradition der Wiener Klassik zusammen. Manfred Wagner hat darauf hingewiesen, dass dort das Wort immer der Szene untergeordnet sei. Auf Schuberts Liedkomposition übertragen, wäre dann "Szene" der musikalische Entwurf, die Melodie und das kompositorische Konzept, das die Begegnung mit einem lyrischen Text bei ihm hervorbringt. Ein beliebiges Beispiel: Die Zeile "Ach, daß die Luft so ruhig, ach, daß die Welt so licht", in dem Lied "Einsamkeit" aus der Winterreise. Das Tremolo im Klavier erzeugt eine bohrende Dramatik. Sie ist das Ergebnis eines szenischen Denkens bei der Rezeption dieser Gedichtzeile!


    Ich möchte eine These aufstellen: Der Eigensinn Schuberts im Umgang mit dem lyrischen Text, in dem er deutlich über Schumann und erst recht über Wolf hinausgeht, entspringt unmittelbar seinem Willen, Sprache in Musik zu verwandeln, Sprachmusik zu komponieren.


    Es ist doch bemerkenswert. Man sollte eigentlich erwarten, dass ein Komponist, der in die Textvorlage eingreift, sich danach - beim Komponieren - willkürlich über den Text hinwegsetzt, dessen sprachliche Struktur nur nach Belieben berücksichtigt. Das genau tut aber Schubert nicht. Das Gegenteil ist der Fall: Die musikalische Faktur ist bei ihm grundsätzlich eine minutiöse Spiegelung der Textstruktur. Ich darf erinnern an die ersten Takte von "Jägers Abendlied": Die innere Erregung des Jägers ist in den Noten ablesbar. Bei Schubert! Bei Reichardt nicht!

  • Ich darf erinnern an die ersten Takte von "Jägers Abendlied"


    Nachfrage: Welche Schubert-Fassung ist gemeint? D215 oder D338?
    Ist die zweite Fassung das bessere Lied? Nach welchen Kriterien soll man das denn beurteilen?
    Welchen Grund wird Schubert wohl gehabt haben, sich nochmals mit dem Text auseinanderzusetzen?
    Wir werden dies nicht erfahren können - mitunter geht man einen Weg von A nach B auch auf unterschiedliche Art und beide sind schön ...

  • Lieber hart,


    diesen Satz kenne ich schon von Dir: "Wir werden dies nicht erfahren können". Und ich reagiere immer in gleicher Weise darauf: Wir können eine ganze Menge erfahren. Wir müssen nur suchen!


    Du glaubt es nicht? Pass auf!


    Schubert nahm die Komposition von"Jägers Abendlied" im Juni 1815 zum ersten Mal in Angriff. Diese Fassung registriert Deutsch unter der Nummer 215. Schubert kannte die Fassung von Reichardt, fand sie aber offensichtlich zu lakonisch. Anders ist nicht zu erklären, dass er zwei der Strophen Goethes zu einer musikalischen Einheit zusammenfasste. Als er damit fertig war, stolperte er über ein Problem: Die erste und die dritte Strophe stießen nun unmittelbar aufeinander. Sie sind aber in ihrem Inhalt und dem sprachlichen Ton so sehr verschieden, dass sie nach seinem musikalischen Empfinden die Einheit des Liedes störten.


    Schubert legte daraufhin das Gedicht erst einmal beiseite und nahm es sich - vermutlich ein Jahr später - noch einmal vor. Jetzt entschloss er sich, aus den oben genannten Gründen, die Komposition als Strophenlied anzulegen und die dritte Strophe einfach rauszuwerfen, eben weil sie den musikalischen Gehalt der Komposition störte ( wie ich zu zeigen versucht habe). Das ist übrigens ein schöner Beleg dafür, wie sorgfältig und überlegt Schubert bei seiner Liedkomposition umging.


    Deine Frage, welche der beiden Fassungen das bessere Lied sei, hat Schubert selbst beantwortet. Du hörst es aber auch selber. Allein die Simplizität der Klavierbegleitung in den Einleitungstakten (schlichte Akkorde im Vergleich zu den aufsteigende Sechzehnteln in der rechten Hand bei der zweiten Fassung) ist ein eindeutiges Indiz für die kompositorisch höhere Qualität der Fassung D 368. Schubert wusste genau, was er tat, als er die Erstfassung verwarf.


    Die zweite Fassung wurde dann 5 Jahre später, zusammen mit dem "Heidenröslein", "Schäfers Klagelied" und "Meeres Stille" veröffentlicht.


    Vielen Dank für Deine Nachfrage! Ich ging übrigens von der zweiten Fassung aus (D dreihundertachtundsechzig - musste ich ausschreiben, weil bei der Acht ein gelbes Wackelgesicht erscheint).


    Aber wenn ich schon Gelegenheit habe, noch einmal auf dieses Lied einzugehen (das übrigens neben Schubert und Reichardt auch von Zelter, Tomaschek und Weber vertont wurde):


    Goethe hatte 1814 Eduard Genast folgende Anweisung gegeben: "Der erste Satz sowie der dritte müssen markig, mit einer Art Wildheit vorgetragen werden, der zweite und vierte weicher, denn da tritt eine andere Empfindung ein."


    Auch diese Anweisung des Dichterfürsten ignorierte Schubert souverän. Er hatte eben tatsächlich seine ganz eigenen Vorstellungen davon, wie dieses Gedicht in Musik zu verwandeln ist (sehr zum vermutlichen Ärger Goethes).

  • Danke! :) Für diese sehr klare Darlegung - vielleicht stelle ich mal einen Vergleich über die verschiedenen Interpretationen dieses Stückes an, aber da muss ich mich erst mal in einer stillen Stunde in meinem Fundus umhören, damit ich eine fundierte Aussage machen kann ...

  • Lieber hart,


    Du wirst es mir nicht glauben, aber es ist die Wahrheit. Dein Beitrag heute hat mich dazu gebracht, mir alle Interpretationen von "Jägers Abendlied", die ich hier zur Verfügung habe, vergleichend anzuhören. Ich erspare mir hier die Namen, es waren sechs. Bei Gelegenheit können wir ja mal über das Ergebnis sprechen.


    Aber das war nicht der Grund, warum ich meinen Computer so spät noch einmal eingeschaltet habe. Mir ist plötzlich bewusst geworden, dass Du eine ganz allgenmeine, wichtige Frage aufgeworfen hast. Eine Frage, die vielleicht auch andere Forianer interessiert:


    Woran erkennt man eigentlich, dass ein Lied ein bedeutendes Lied ist? Kann man das überhaupt an objektiven Merkmalen festmachen? Oder ist das eine Sache des ganz subjektiven Dafürhaltens?


    Ich vermute mal, wie ich Dich inzwischen kenne, dass Du zu letzterer Auffassung neigst.


    Ich hingegen, das dürftest Du auch ahnen, neige zu der Auffassung, dass es dafür sehr wohl Kriterien gibt.


    Und jetzt stelle ich mir vor, dass jede Menge Forianer sich an einem Gespräch über diese Frage beteiligen.


    Und so etwas kommt mir spät in der Nacht noch in den Sinn. Ich führe inzwischen ein Forianer-Leben!

  • Lieber Helmut Hofmann,


    Du hast es mal wieder glasklar erkannt - ich bin fest davon überzeugt, dass Kunstbetrachtungen im Prinzip eigentlich nur subjektiv sein sein können und vor allem nicht in Superlativen ausgedrückt werden sollten.


    Das schönste Schubertlied?
    Das schönste Bild?
    Die beste Sängerin / der beste Sänger?
    Die schönste Kirche?


    Objektiv lässt sich dagegen feststellen:



    René Kollo singt die schnellste "Winterreise" (65:14)
    Guernica hat die Maße 349 cm x 777 cm
    Der Bariton Michael Zumpe ist 1,80 m groß
    Ulm hat den höchsten Kirchturm


    An anderer Stelle hatte ich schon einmal einen Vergleich aus der Farbenlehre herangezogen - den Simultankontrast.
    Kurz dargestellt: Jede Farbe ist ein Produkt ihrer Umgebung (sie bleibt gleich und verändert sich doch)
    Genauso werden Kunstwerke oder künstlerische Leistungen bzw. Darbietungen (bei gleicher Substanz) unterschiedlich wahrgenommen.


    Eigentlich glaube ich, dass dies überhaupt das Kriterium für ein Kunstwerk ist, dass es unterschiedlich wahrnehmbar ist, aber das ist natürlich meine subjektive Meinung ...


    Allerdings bestreite ich keineswegs, dass man anhand von Text und Notenbild feststellen kann, dass Schuberts "Winterreise" dem schönen deutschen Lied Da, Da, Da (siehe YouTube, Du hast es sicher nicht in Deiner Sammlung) künstlerisch weit überlegen ist.


    Aber im Ernst: Wenn ihr´s nicht fühlt, ihr werdet´s nicht erjagen ...

  • Lieber hart,


    wir sind gar nicht so weit auseinander, wie Dein letzter Beitrag hier nahelegen könnte.


    In einem hast Du völlig recht: Kunstbetrachtung ist immer subjektiv.- Was sich in einem Hörer ereignet, wenn er ein Schubertlied hört, das ist von Individuum zu Individuum sehr verschieden. Es ist aber nicht absolut verschieden. Es gibt eine gewisse Bandbreite innerhalb derer die jeweils spezifische Form der Rezeption schwankt. Ich bitte zu bedenken: Niemand wird beim Hören des "Leiermann" aus der Winterreise die Assoziation "Jahrmarkt mit Würstchenbude und Stehgeiger" haben. Auf jeden Menschen, der dieses Lied aufmerksam hört, wird die tiefe Depression, die Schubert in diesem Lied gestaltet hat, eine Wirkung ausüben, die freilich individuell verschieden ausfällt, z.B im Grad der Betroffenheit.


    Wir könnten ja gar nicht, wenn wir beide die "Vier letzten Lieder" von Strauss gehört haben, anschließend darüber sprechen, gabe es im Erlebnis bei uns beiden nicht ein gewisses Maß der Übereinstimmung und der Deckungsgleichheit.


    Und nur darum geht es mir. Es geht mir nicht umd die Frage: Was ist das größte Schubertlied? Eine solche Frage ist, wie Du zu Recht feststellst, unsinnig. Es geht mir um die Frage: Was macht ein Schubertlied, das wir alle als ein bedeutendes einstufen, eben zu diesem, - zu einem bedeutenden.


    Ein Beispiel: Im gleichen Monat, nämlich im Juli 1815, hat Schubert u.a. die Lieder "Von Ida" (Text: Kosegarten) und "Erster Verlust" (Text: Goethe) geschrieben. Das erste ist eines der vielen Schubertlieder, die heute kaum ein Mensch kennt. "Der Morgen Blüht / Der Osten glüht...", - das ist ein hübsches, aber ein unbedeutendes Schubertlied. "Erster Verlust" hingegen gehört zu den bedeutenden Liedern Schuberts, die man auch heute noch hören kann, weil sie einem etwas zu sagen haben.


    Neben der Subjektivität der Rezeption gibt es das Phänomen "bedeutendes Kunstwerk". Der Aspekt "Bedeutsamkeit" unterliegt sicher einem zeitlichen Wandel. Auffällig ist doch aber, dass dieser zeitliche Wandel des Gesschmacks und des Urteilens bei bestimmten Kunstwerken keinerlei Wirkung zeigt. Ich lasse jetzt mal Rembrandt, Michelangelo, die Hammerklaviersonate, die Matthäuspassion usw. beiseite und nehme unsere Lieder.


    Du sagst es selbst: Die Winterreise ist ein bedeutenderes musikalisches Werk als "Da da da" (das ich, wie Du zu Recht vermutest, nicht kenne). Die Gründe dafür findet man in der Komposition. Sie sind objektiver Natur: Man kann sie sehen und benennen. Sie sind kein Produkt rein subjektiven Urteilens, nach dem Muster "O Klasse!"


    Ich glaube, dass man solche Fragen stellen darf und dass es auch eine Antwort darauf gibt, auch wenn diese immer unzureichend bleiben mag.


    Für die These der absoluten Subjektivität des Urteilens über Kunst gibt es keine hinreichende argumentative Grundlage.

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  • Du sagst es selbst: Die Winterreise ist ein bedeutenderes musikalisches Werk als "Da da da" (das ich, wie Du zu Recht vermutest, nicht kenne).


    Na, Vorsicht, Dada ist sehr bedeutend.
    ;)


    Ich möchte es einmal ganz banal ausdrücken: Die Romantiker komponieren tendenziell mehr die Bedeutung des Textes entlang, während das zuvor stärker eingeschränkt stattfand, um der Form des Textes besser gerecht zu werden.


    Die Formulierung mit dem "Gehäuse" macht mich nicht so glücklich. Es sei denn, man bezeichnet etwa auch die Form des Gedichtes als Gehäuse für die Bedeutung, die transportiert wird.


    Dass die "jungen Wilden" wie Schubert, die sich weniger um die Einheit von Textform und Strophenlied scherten, mitunter negativ beurteilt wurden, ist dann ja auch nachvollziehbar. Goethe deshalb als "besonders konservativ" zu bezeichnen, ist meines Erachtens übertrieben (war glaube ich ein anderer Thread). Goethe ist ja auch deutlich älter als Schubert, dem muss nicht jede Neuerung der Jugend zusagen.


    Tatsächlich ist dieses (aus dem Blickwinkel der Tradition) überdeutliche musikalische Illustrieren der Bedeutungen bei den Kompositionen, die ich am Wochenende gehört habe, meistens vorhanden - also bei Kreutzer, Marschner, Lortzing, Franz und Spohr auch. Die Ausdrucksintensität von Schubert und Schumann erreichen sie meistens nicht, wobei ja auch die Frage ist, ob sie das wollten. Gerade bei Spohr frage ich mich das.

  • Lieber kurzstueckmeister,


    ich weiß nicht, wie ich Deine Bemerkung nehmen soll, die sogar mit dem Warnruf "Vorsicht" eingeleitet wird. Ist die ernst gemeint? Das könnte sie nur sein, wenn Du damit den Dadaismus meintest. Den meinte aber hart nicht, auf den ich mich bezog. Da muss es einen Schlager geben mit dem Text "Da da da". Ob der Dadaismus eine bedeutende Gattung von Lyrik ist, drüber ließe sich trefflich streiten. Ist aber nicht der Ort dafür.


    Sehr hilfreich ist hier Dein Hinweis darauf, dass die Romantiker eher in Ausrichtung auf "die Bedeutung des Textes" komponieren. Ich habe das so verstanden, dass sie bei der Komposition eines Liedes nicht primär von der Sprache ausgehen, wie das bei Schubert der Fall ist, sondern vom poetischen Gehalt eines Gedichts, von seiner "Aussage" sozusagen. Man kann dies bei Schumanns op.39 zum Beispiel sehr schön nachweisen.


    Bei Kreutzer, Franz und den anderen Komponisten, die Du angeführt hast, ist es tatsächlich so, dass der Aspekt "Musikalische Illustration" eine große Rolle spielt. Aber da sind wir ja bei meinem Thema hier. Ausschlaggebend ist immer die Intention, mit der ein Komponist an ein Gedicht herangeht.


    Wenn man zum Beispiel Kreutzers Vertonung von Goethes "Nähe des Geliebten" neben das Lied von Schubert stellt, fällt das schon beim ersten Hören auf. Ich habe das ansatzweise schon in dem Thread "Schuberts Ausnahmerang" zu zeigen versucht. Aber den hast Du ja nicht gelesen. Ich habe übrigens dafür volles Verständnis, hast Du doch schließlich ein viel weiteres Feld im Forum zu bedienen. Es ist nur schade, weil man dann so vieles hier als bekannt voraussetzt und dann feststellt, dass man nicht verstanden wird, weil die gemeinsame Basis fehlt.


    Was Goethe betrifft, so ist es nicht nur das Alter, was ihn vor Schubert zurückschrecken lässt. Wenn ich im Zusammenhang mit Reichardt und Zelter den Begriff "Gehäuse" verwendet habe, so wollte ich damit die Funktion beschreiben , die die Musik für diese Komponisten - und auch für Goethe! - in bezug auf den lyrischen Text hat. Goethe wehrt sich dagegen, dass durch die Musik seinen Gedichten etwas hinzugefügt wird, was nach seiner Meinung in ihnen nicht enthalten ist. Er möchte sie sozusagen unversehrt durch die Musik präsentiert sehen. Jeglich Form von eigener Interpretation durch den Komponisten ist ihm zuwider.


    An Humboldt schrieb er am 14. März 1803: "Er (Zelter) trifft den Charakter eines solchen, in gleichen Strophen, wiederkehrenden Ganzen trefflich, so daß es in jedem einzelnen Teile wieder gefühlet wird, da wo andere, durch ein sogenanntes Durchkomponieren, den Eindruck des Ganzen durch vordringende Einzelheiten zerstören."


    Wichtig ist hier die Formulierung "vordringende Einzelheiten". Das ist genau das, was er Schubert vorhält. Diese "Einzelheiten" entspringen dem kompositorischen Ausdruckswillen des Komponisten, der mit dem Gedicht das ausdrücken will, was er darin liest. Und die drängen sich aus Goethes Sicht auch noch vor den lyrischen Text, wie er ihn gestaltet hat. Das meinte ich mit dem Begriff Interpretation, der Dir einmal anrüchig schien, wie ich mich erinnere.


    Der Begriff "Gehäuse" ist also völlig neutral gebraucht. Er enthält keinerlei Wertung, was die musikalische Qualität der Lieder betrifft. Er stammt in dieser Verwendung übrigens nicht von mir, sondern von Thr. Georgiades.


    Ich möchte versuchen, an einigen weiteren Beispiel zu zeigen, welche Folgen die Intention im Umgang mit dem lyrischen Text für die Struktur eines Liedes hat. Das ist der Sinn dieses Threads.

  • Ob der Dadaismus eine bedeutende Gattung von Lyrik ist, drüber ließe sich trefflich streiten.


    Ich fürchte, da hätten wir dann erst eine Definitionsdiskussion zum Wort Lyrik.
    Da ich kürzlich in einem dadaistischen Text die Wortfolge "da da da" gelesen habe, war das eine (mäßig sinnvolle) Assoziation von mir. Ich wollte den Thread damit nicht stören ...


    Ich habe das ansatzweise schon in dem Thread "Schuberts Ausnahmerang" zu zeigen versucht. Aber den hast Du ja nicht gelesen.


    Ich wollte das immerhin schon nachholen und habe den rekonstruierten Anfang gelesen.
    :)

    Der Begriff "Gehäuse" ist also völlig neutral gebraucht. Er enthält keinerlei Wertung, was die musikalische Qualität der Lieder betrifft. Er stammt in dieser Verwendung übrigens nicht von mir, sondern von Thr. Georgiades.


    Goethe wehrt sich dagegen, dass durch die Musik seinen Gedichten etwas hinzugefügt wird, was nach seiner Meinung in ihnen nicht enthalten ist.


    Ein "Gehäuse" für den Text wäre aber etwas, das dem Text hinzugefügt wird und auch vom Text getrennt bleibt, ohne Durchdringung.
    Spricht Georgiades so nur über die Vertonungen von Reichardt und Zelter oder auch über Älteres?


    Jedenfalls vielen Dank für Deine Anregungen, ich habe früher nicht so bewusst auf die Unterschiede unser Thema betreffend geachtet!

  • Gleich die Antwort, lieber kurzstueckmeister (damit es hier flott vorangeht),


    ja, Georgiades versteht den Begriff Gehäuse so. Er hat das aus einer vergleichenden Analyse von "Über allen Gipfeln" heraus entwickelt. Das kann man hier nicht wiedergeben, weil es eine höchst diffizile musikwissenschaftliche Untersuchung ist.


    Vielleicht aber dieses Zitat (sozusagen die Quintessenz der seitenlangen Ausführungen): ... (Das Ziel Zelters ist) "der musikalische Vortrag des Gedichts. Was hier geboten werden soll, ist Goethes Dichtung. Und Zelter schafft ihr lediglich ein musikalisches Gehäuse; Lediglich vortragen läßt er sie musikalisch, so wie es seit jeher üblich war, Lyrik vorzutragen und wie sich Goethe selbst es wünschte." (Schubert, Musik und Lyrik, Göttingen 1957, S.33)


    Ich möchte hinzufügen, dass Georgiades ausdrücklich darauf hinweist, dass man Zelters Vertonung von Wanderers Nachtlied mit Schuberts Lied nicht unter dem Aspekt Qualität vergleichen dürfe. Beide Kompositionen sind für ihn gleichwertige Lieder.


    Ich weise deshalb darauf hin, weil ich ebenfalls alles, was ich hier vergleichend schreibe, nicht als Wertung verstanden wissen möchte.


    Über die letzte Zeile Deines Beitrags habe ich mich übrigens sehr gefreut.

  • zitat hart:
    René Kollo singt die schnellste "Winterreise" (65:14)


    die mit Abstand schlechteste Aufnahme, kam viel zu spät. Gaumiger Ansatz,
    nichts Lyrisches in der Stimme mehr vorhanden, stimmliche Kraft reicht auch nicht mehr aus.
    Anschleifen hoher Töne, nein nein. Diese Winterreise hätte nicht freigegeben
    werden dürfen. Ich habe inzwischen 54, die mit Kollo habe ich zurückgegeben.
    Warum hat er sie nicht aufgenommen, als die Stimme noch intakt war. Bevor
    die schweren Wagner-Partien kamen. Ich weiß es nicht.


    LG, Bernward


    "Nicht weinen, dass es vorüber ist
    sondern lächeln, dass es gewesen ist"


    Waldemar Kmentt (1929-2015)


  • Ich kann leider immer noch nicht diese Zitatkästchen-Technik (will auch nicht). Deshalb muss ich tippen.


    Kurzstueckmeister wirft da einfach mal so locker ein Wort auf das Forum und fügt hinzu: "Wollte den Thread damit nicht stören".


    Er hat aber gestört!!


    Und zwar auf eine sehr wirksame Art. Das Wort war "Dadaismus". Für diejenigen, die nicht wissen, worum es da geht: In den zwanziger Jahren trat zum Beispiel ein Mann namens Hugo Ball, in einen merkwürdigen Karton-Mantel gehüllt, auf die Bühne und gab Laute dieser Art von sich: "Hrumdiglü, Gligli, Hrumsdiglü, Gagadarumdiglü ..." So etwas nannte sich Dadaismus und war damals der neueste Schrei in Sachen Lyrik.


    Und jetzt ist mir, kurzstueckmeister sei Dank (ehrlich gemeint!), etwas bewusst geworden. Kein einziges dadaistisches Poem ist je in ein Lied umgewandelt worden.


    Warum? Das ist an sich schon Musik. Lautmusik nämlich.


    Und was lernt der Mensch daraus, der sich mit dem Zusammenhang von Sprache und Musik im Lied beschäftigt?


    Lyrik ist nur dann in ein Lied zu verwandeln, wenn die Sprache eine semantische Botschaft hat. Wenn Worte wirklich etwas zu sagen haben, das der Komponist in sich aufnimmt und in Musik verwandeln kann.


    Reines Lautgestammel hat keine Botschaft an einen Musiker. Er kann darin nichts finden, aus dem er Musik machen kann. Schubert hätte nur den Kopf geschüttelt und das sogenannte "Gedicht" zurückgeschickt.


    Danke, kurzstueckmeister!

  • Das Gedicht ist die Initialzündung für die Komposition eines Liedes. Sio weit, so gut. Von da an aber wird´s schwierig. Wie der Komponist das Gedicht liest, entscheidet über die musikalische Struktur des Liedes. Das war im Falle von "Jägers Abendlied" deutlich geworden. Es gibt viele Beispiele, an denen man diesen Sachverhalt beobachten kann.


    Das Gedicht "TRAUM DURCH DIE DÄMMERUNG" von Julius Bierbaum wurde von Richard Strauss und van Max Reger vertont. Es sind zwei völlig verschiedene Lieder herausgekommen. Richard Strauss macht seine Komposition an der Überschrift fest. Das Wort "Traum" ist offensichtlich das Zentrum seiner Gedichtrezeption. Infolgessen stellt er seine Komposition auf die musikalische Schilderung der Empfindungen ab, die das lyrische Ich beim Gang "zu der schönsten Frau" in sich verspürt und setzt dabei die für ihn typischen Mittel der musikalischen Klangmalerei ein.


    Max Reger geht offensichtlich von der Szene aus, die Bierbaum schildert. Für ihn ist der Vorgang des Gehens der Angelpunkt der Komposition. Das zentrale Bild der "Wiesen im Dämmergrau" hat es ihm hörbar angetan, so dass er seine msuikalischen Mittel zur Schilderung der Szenerie einsetzt, in der der Gang zur Geliebten sich ereignet.


    Dasselbe Gedicht, in seiner sprachlichen Struktur unverändert, führt zu zwei Liedern, die verschiedener gar nicht sein können. Die Komponiste haben dieses Gedicht unterschiedlich gelesen.


    Die Frage, warum ein Komponist jeweils zu einem ganz bestimmten Gedicht greift, um es in ein Lied zu verwandeln, gehört zu den gänzlich rätselhaften Fragen. Manchmal, wie etwa im Falle Robert Schumanns, kann man einige halbwegs gesicherte Aussagen machen. Nahezu im Dunkeln hingegen tappt man bei Schubert. Fischer Dieskau bemerkt zu ihm: "Der literarische Wert besaß für Schubert überhaupt erst in zweiter Linie Relevanz ...".


    Auf den ersten Blick kommt es einem so vor, als habe Schubert quer durch den "lyrischen Gemüsegarten" komponiert. Das täuscht aber. Am vierten August 1828 schrieb er an Johann Gabriel Seidl, von dem er immerhin schon einige Gedichte verton hatte: "Geehrtester H. Gabriel! Beiliegend sende ich Ihnen diese Gedichte zurück, an welchen ich durchaus nichts Dichterisches noch für Musik Brauchbares entdecken konnte."


    Wie muss man dies lesen? In einem Gedicht, das von Schubert zur Grundlage für ein Lied gemacht werden kann, muss etwas "Dichterisches" sein, das dazu geeignet ist, in Musik verwandelt zu werden. Das "Dichterische" kann nur die spezifische Eigenart der lyrischen Sprache sein. Diese muss von der Art sein, dass Schubert sie in "Sprachmusik" verwandeln kann.


    Diese Briefstelle zeigt, dass Schubert beim Umgang mit Lyrik sehr wohl ausgewählt hat. Das dass das Bild vom "lyrischen Gemüsegarten" unzutreffend ist. Allerdings bleibt zutreffend, dass der Aspekt "literarische Qualität" tatsächlich für Schubert sekundär war. Anders ist das bei Schumann. Für diesen war das ein wichtiges Kriterium. Außerdem scheint bei ihm weniger der Aspekt "lyrische Sprache" bei der Auswahl im Vordergrund gestanden haben, als vielmehr der poetische Gehalt, von dem er sich angesprochen fühlte.


    Seiner Frau Clara gegenüber bekannte er zum Beispiel einmal, sein Opus 39 sei "das Romantischste", das er je gemacht habe. Bei Kerners Lyrik fand er sich offenbar in den schweren Depressionen, die ihn quälten, dichterisch angesprochen. Und Die Ängste, die ihn in seiner gerade geschlossenen Ehe hinsichtlich ihres Bestandes und der Kommunikation mit dem Ehepartner plagten, bewogen ihn mit großer Wahrscheinlichkeit zur Komposition der "Dichterliebe". Ein Gedicht hätte er vermutlich mit anderen Argumenten zurückgewiesen, als das Schubert tat.


    Bei Schubert stellt sich das Problem "Der Komponist und das Gedicht" deshalb so kompliziert dar, weil man nicht einfach sagen kann, er habe ausschließlich mit Blick auf die Sprache ausgewählt, wie der Brief an Seidl nahelegen könnte. Es gibt bei ihm auch den Faktor der persönlichen Betroffenheit, dem Angesprochensein durch den Gehalt eines Gedichts.


    Das ist zum Beispiel daran zu erkennen, dass bestimmte Themen in seinen Liedern wiederkehren. Zum Beispiel spielt das Thema Freundschaft eine große Rolle. Unübersehbar aber ist es bei dem Gedichten von Wilhelm Müller. Dass hier persönliche Betroffenheit eine große Rolle spielte, kann gar nicht bezweifelt werden.


    Gleichwohl gilt: Auch die Gedichte Wilhelm Müllers sind, unbeschadet der persönlichen Betroffenheit durch sie, von Schubert von der Sprache her komponiert.


  • Lieber Helmut,
    das ist ja schön, dass aus diesem nonsensialistischen Einwurf ein konstruktiver Nebenschauplatz in diesem Thread erwächst - es ist zwar ein Randthema, aber dadaistische Gedichte gibt es selbstverständlich, ob es dadaistische Lieder gibt, ist etwas unklarer, und die Frage mit dem Kunstlied lassen wir hier besser außen vor.


    Am schönsten demonstriert die Annäherung an die musikalische Disziplin im Bereich des Lautgedichtes die dadaistische "Ursonate" von Kurt Schwitters, in deren Notation sowohl "musiktheoretische" Gliederungsangaben als auch rudimentäre musikalische Ausführungsanweisungen integriert sind (relative Tonhöhenangaben im langsamen Satz). Hier versucht ein Dichter zu komponieren, mit seinen Mitteln, das Ergebnis ist unbedingt überzeugend, wenn auch völlig dilettantisch aus dem Blickwinkel des "Profimusikers" welcher Disziplin auch immer.


    Sprachloser Text im Sinne des Lautgedichtes, das seine Blüte ja im Dadaismus hatte, obwohl es schon zuvor gepflegt wurde, hat in die "seriöse" Komposition Eingang gefunden, die Komponisten "dichteten" dann ihre "Lautgedichte" selbst, oder eher, die Erfindung der musikalischen und Text-Parameter fand wahrscheinlich simultan statt. Mitunter wurden auch einzelne Wörter eingebaut - leider habe ich jetzt nicht im Kopf, ob bei Ligeti oder Berio.


    Die Frage ist nun, ob das noch mit "Sprache und Musik" zu tun hat - das oftmals schon: Balls "Jolifanto bambla" spielt mit sprachlichen und lautmalerischen Assoziationen (der "Jolifanto" kommt natürlich vom Elefanten, dem offenbar etwas aus dem Gesicht "bambelt"). Bei Schwitters wird die "Rakete" falsch betont, etc. Ich glaube, dass bei den Komponisten der 60er Jahre wie Berio und Ligeti diese semantischen Bezüge weniger vorhanden sind ( ... jaja, ich sollte, bevor ich hier Beiträge aus dem Ärmel schüttele, mich zumindest ein wenig informieren ... )


    Die dadaistische Gedichtproduktion beschränkt sich aber nicht auf das Lautgedicht, und was mir zum Thema zu gehören scheint, wäre Schwitters' "Onkel-Heini-Schlager", eine Schlagerparodie, von der ich nur den Text kenne ("Onkel Heini hat so krumme Beini" etc.) leider gibt es ja kaum Klangaufzeichnungen der Dada-Zeit, somit tappe ich im Dunkeln, wie dieser Schlager vorgetragen wurde. Mit Musik?


    Zuletzt zu dem Punkt, den Du angesprochen hast: Dem Mangel an Vertonungen von Profikomponisten, die dadaistische Texte vornehmen. Ich würde nicht ausschließen, dass es das gibt, ich kenne aber auch kein Beispiel. Im Falle eines Lautgedichtes wäre das tatsächlich ein Umgang mit halbmusikalischem Material, der Probleme der Behutsamkeit oder der Distanzfindung aufwerfen würde. Aber auch andere dadaistische Gedichte scheinen nicht gerne in professionelle singende Kehlen gelegt werden zu wollen, droht doch der Verlust des "Antikünstlerischen". Bernd Alois Zimmermann weist in seinem "Lingual" Requiem für einen jungen Dichter dementsprechend das Gedicht "An Anna Blume" von Schwitters einer Sprechstimme zu.

  • Zitat

    Die berühmte Frage nach der zeitlichen Priorität von Henne und Ei ist beim Kunstlied eindeutig zu beantworten. Es war immer erst der lyrische Text da, und dann kam die Musik.


    Zumindest beim geistlichen Lied stimmt dies nicht durchweg. Da konnten schon mal Strophen von einem anderen Dichter "nachgeliefert" werden. Es sei auch an Kontrafakturen erinnert.




    Irgendein Opernkomponist, der seine Texte selbst schrieb (ich weiß gerade nicht, wer, aber es sind ja nicht so viele), sagte mal, dass er manchmal erst die Töne komponiere und dann ein passenden Text hineinlege. Allerdings ist eine Oper kein Lied.




    Aber es ist natürlich richtig, dass eigentlich zur Idee eines Kunstliedes gehört, dass ein vorliegender Text vertont wird.


    Zitat

    Lyrik ist nur dann in ein Lied zu verwandeln, wenn die Sprache eine semantische Botschaft hat. Wenn Worte wirklich etwas zu sagen haben, das der Komponist in sich aufnimmt und in Musik verwandeln kann.


    Reines Lautgestammel hat keine Botschaft an einen Musiker. Er kann darin nichts finden, aus dem er Musik machen kann. Schubert hätte nur den Kopf geschüttelt und das sogenannte "Gedicht" zurückgeschickt.


    Bei John Cage finden wir allerdings durchaus Musik für Solostimme (ich will das nicht unbedingt Lied nennen) mit sinnfreiem Text.

  • Danke, lieber kurzstueckmeister und lieber Wolfram,


    eure Beiträge sind äußerst hilfreich! Ich freue mich darüber, sie hier lesen zu können.


    Das Schöne an diesem Tamino-Forum ist doch, dass einem plötzlich Aspekte zum Thema eines Threads aufleuchten, auf die man ohne die Mitwirkung der Taminoianer(innen) gar nicht gekommen wäre. Dass dieses Wortspiel mit dem Schlager Dadada und dem Dadaismus nur so aus Lust und Laune eingestreut war, musste ja nicht bedeuten, dass dies nicht einen Gedankenblitz auslösen könnte.


    Es ist gut, lieber kurzstueckmeister, dass Du auf Kurt Schwitters hingewiesen hast. Als ich meine Antwort schon geschrieben hatte, fiel mir eine halbe Stunde später ein, dass die Bezeichnung "Ursonate" ja ein schöner Beleg für meine Feststellung war, dass es sich beim Dadaismus ja schon an sich um eine Verbindung von Musik und Sprache in ihrer Urform, den Phonemen nämlich, handelt. Dabei habe ich die Ursonate von Schwitters sogar in einem Mitschnitt seines Auftritts in Frankfurt hier vor mir stehen, auf dem Regalbrett mit riesigen Tonbandspulen für meine uralte Revox. Die Ursonate von Schwitters selbst gesprochen und gesungen, - das ist ein Erlebnis.


    Warum es keine Lieder mit dadaistischer Lyrik gibt (ich kenne jedenfalls keine), das ergibt sich eigentlich aus der inneren Logik dadaistischer Poesie: Sie ist der zusätzlichen Musik nicht bedürftig.


    Etwas anderes ist, und da komme ich auf Deinen Beitrag, lieber Wolfram, dass Musiker heutzutage Sprache als Tonlement einsetzt, gleichgeordnet dem vom Instrument erzeugten Ton. Ein Musikwissenschaftler hat dieses Prinzip einmal "Suspendierung des deklamatorischen Prinzips" genannt. Das trifft den Punkt genau. John Cage, den Du erwähnst, komponiert auch nach diesem Prinzip.


    Dieter Schnebel hat seinen "Motetus I" so kommentiert: "Sprache wird ... selbst Musik". Dieser "Motetus I" ist, nach seinen Angaben "ein Stück in der Tradition mittelalterlicher Motetten", wobei Texte und Melodie kontrapunktisch gegeneinandergesetzt werden. Es wäre interessant darauf einmal näher einzugehen, würde aber den Rahmen dieses Threads sprengen.


    Dass beim geistlichen Lied die Sprache der Musik "nachgeliefert" werden kann, ist ein richtiger und interessanter Hinweis. Aber das ist wieder ein anderes Feld. Hier ist die Musik in ihrer Funktion ja eingeschränkt auf die Trägerschaft für die religiöse Botschaft. Es handelt sich also um eine rein dienende Funktion.

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