"Die Zeit ist ein sonderbar' Ding": "Der Rosenkavalier" in Bremen (9. Oktober 2010)


  • Rúni Brattaberg (Ochs), Sara Hershkowitz (Sophie [Premierenbesetzung]), Steffi Lehmann (Leitmetzerin), Nadja Stefanoff (Octavian)




    Barbara Buffy (Annina), Christian-Andreas Engelhardt (Valzacchi), Rúni Brattaberg (Ochs)




    George Stevens (Faninal), Sara Hershkowitz (Sophie [Premierenbesetzung])




    Rúni Brattaberg (Ochs), Christian-Andreas Engelhardt (Valzacchi), Chor



    Die Zeit ist ein sonderbar' Ding“: „Der Rosenkavalier“ in Bremen (9. Oktober 2010)
    Tobias Kratzers Bremer Deutung von Strauss' beliebtester Oper ist begeisternd, zum Nachdenken anregend, nachvollziehbar und vor allem nie langweilig. Die musikalische Seite unterstützt das hohe Niveau.


    Dass sie das noch erleben dürfen: Am Ende bleibt die überdimensionale Uhr stehen, und Octavian und Sophie flüchten sich in den Bereich, den soeben Mohammed (fabelhaft in all seinen Facetten, die er in der Inszenierung durchmacht: Samba Gabbi) mit Absperrband umgeben hat – sie haben sich der Zeit entzogen. Die Uhr zieht sich wie ein roter Faden durch die Inszenierung: Im ersten und zweiten Akt, die in einem Kaufhaus um 1910 bzw. 1950 spielen, hängt sie riesig mittig über einer Treppe. Im dritten ist sie eine Digitaluhr geworden, mit der sogar angezeigt wird, dass vom Eintreffen des Polizeikommissars bis zum Auftritt der Marschallin die ganze Nacht vergeht (eine gar nicht mal abwegige Idee). Die von Einfällen schier überbordende Inszenierung erzählt man am besten chronologisch.
    Vor dem ersten Akt gehen ein Mann und eine Frau, gekleidet in aufwändige Gewänder der Kaiserzeit, an einem Schaufenster mit ausgestellten Hüten vorbei. Der kleine Kasten gleitet auseinander und gibt den Blick auf das Bühnenbild (Rainer Sellmaier) frei: Ein Kaufhaus um 1910 (eher 1914, die Marschallin liest beim Lever Zeitung, Schlagzeile: „Attentat in Sarajewo“). An einer Umkleidekabine vorn links hängt ein Spiegel, die Marschallin sieht hinein und ihr Spiegelbild wird zu Octavian. Beim Lever fährt die schräge Rückwand zur Seite, man sieht Schmuckstände, der Tierhändler kommt in Safarikleidung, ein Zeitungsjunge schwirrt umher, der Sänger steigt die Treppe hinab, Kunden bevölkern die Gänge. Beim Zeit-Monolog der Marschallin steigen nackte Frauen verschiedenster Statur aus der Uhr und die Treppe hinab, und die Marschallin betrachtet sie. Eine fabelhafte Symbolisierung!
    Bevor der zweite Akt beginnt, sieht man Sophie in dem Kasten stehen, der nun mit einem Fernseher und einem Tisch eingerichtet und durch einen Vorhang vom Rest der Bühne getrennt ist. Sie schaut Werbespots („Persil“, „Overstolz vom Rhein“, „Hoover“), die Überreichung der Rose findet an einem Tisch statt, über dem „Dein Heim – deine Welt“ steht. Wenn der Kasten verschwindet, besteht das Bühnenbild aus einem runden Regal mit Konservendosen und Plakaten im Hintergrund („Männer mögen Dr.-Oetker-Pudding“, „Bosch-Küchenmaschinen“, „Persil“), die später nach oben gleiten und die bekannte Treppe zeigen, die nun mit Fernsehern voll gestellt ist. Statt Ochs mit dem Degen zu stechen, zerdeppert Octavian (in Motorradjacke!) eine Porzellanfigur. Auch am Ende dieses Aktes steht ein großartiger Einfall: Sein Leiblied tanzt Ochs mit Annina, die hier als Sensenmann auftritt, und erleidet dabei fast einen Herzanfall – ein Tanz mit dem Tod, dem gesellschaftlichen Exitus, den Ochs bald erleiden wird!
    Der dritte Akt spielt heute. Zunächst singt der Sänger (jetzt obdachlos) seine Arie zum Playback aus einem Radiorecorder, von Ochs und Leopold noch lächelnd beäugt, und Mohammed hängt „Alles-muss-raus“-Schilder auf. Wieder gleitet der Kasten auseinander, wir sehen ein schmuckloses Kaufhaus mit vier Säulen, in denen sich Umkleidekabinen befinden und besagter Digitaluhr. Im Hintergrund der Bühne liegen/stehen Schaufensterpuppen, das „mordsmäßig große“ Bett ist ein Sarg, in dem Ochs verständlicherweise nicht schlafen will. Zwischen ihm und Mariandel/Octavian läuft rein gar nichts, und als sich Ochs an einer der Puppen versuchen will, erwachen diese zum Leben („Da und da und da und da!“). Nachdem er sich wieder einigermaßen gefasst hat, spricht er „Leopold, wir gehen!“, doch im Gewühle der Menge (die hereinstürmt und den Laden plündert) trifft ihn der Schlag, und er bleibt tot liegen. Octavian und die Marschallin (die nun wirklich „die alte Frau“ geworden ist) legen Rosen nieder. In den letzten Takten fliegt ein Ball in den eingezäunten Bereich. Drei Kinder, zwei Jungen, ein Mädchen, laufen hinein, doch die Jungen lassen das Mädchen stehen. Aus einem Fenster oben grinst Valzacchi, der als Todesengel gekleidet ist: Es geht alles immer weiter...
    Unter der Leitung vom Markus Poschner spielten die Bremer Philharmoniker grundsolide, nicht mehr und nicht weniger. Nadja Stefanoff war ein wirklich hervorragender Octavian voll vokaler Brillanz, aber so großartig, wie sie in den Kritiken herüberkam, fand ich sie denn doch nicht. Der sympathische George Stevens veredelte den Faninal mit seinem dunklen Bariton und herrlich aufgedrehtem Spiel, und Hinako Yoshikawa als seine Tochter beeindruckte mit glasklarem Sopran und exzellenter Textverständlichkeit. Als Baron Ochs stand Rúni Brattaberg auf der Bühne. Er verfügt über einen gewaltigen Bass mit zwar manchmal geglucksten Höhen, aber dafür unfassbaren Tiefen. Man versteht, warum er in dieser Rolle schon Cover an der Met war, auch wenn er in einer Einheitslautstärke und fast ohne jeden Ausdruck singt. Doch darstellerisch macht er einiges wett. Von den exzellenten Sängern der Nebenrollen verdienen Randall Bills als Sänger, Barbara Buffy als Annina und Christian-Andreas Engelhardt besondere Erwähnung. Und endlich gibt es mal adelige Waisen, die wirklich schreien! Doch die beste Leistung des Abends brachte Carol Wilson als Marschallin mit faszinierender Textausdeutung und einer Präsenz, die nur mit dem englischen Wort „thrilling“ beschrieben werden kann.
    Die neue Bremer Deutung des „Rosenkavaliers“ hat das Zeug zum Klassiker, und man darf die Entwicklung des erst 30-jährigen Regisseurs gespannt verfolgen.


    THEATER AM GOETHEPLATZ, BREMEN
    Richard Strauss: Der Rosenkavalier. Premiere am 26. September, besuchte Vorstellung am 9. Oktober 2010. Solisten: Carol Wilson (Die Feldmarschallin Fürstin Werdenberg), Rúni Brattaberg (Der Baron Ochs auf Lerchenau), Nadja Stefanoff (Octavian), George Stevens (Faninal), Hinako Yoshikawa (Sophie), Steffi Lehmann (Leitmetzerin), Christian-Andreas Engelhardt (Valzacchi), Barbara Buffy (Annina), Loren Lang (Ein Polizeikommissar), Bert Coumans (Der Haushofmeister bei der Marschallin), Randall Bills (Der Haushofmeister bei Faninal, Ein Sänger), Christian Hübner (Ein Notar), Martina Parkes, Sirin Kilic, Astrid Kunert (Drei adelige Waisen), Anne-Kathrin Auch (Eine Modistin), Robert Lichtenberger (Ein Tierhändler), Sangmin Jeon, Can Tufan, Wolfgang von Borries, Allan Parkes (Vier Lakaien der Feldmarschallin), Achim Rikus, Zoltán Melkovics, Johannes Scheffler, Daniel Wynarski (Vier Kellner), Daniel Ratchev (Ein Hausknecht), Samba Gabbi (Mohammed), Christian Adam (Leopold). Inszenierung: Tobias Kratzer, Bühnenbild und Kostüme: Rainer Sellmaier, Licht: Christian Kemmetmüller, Chor und Kinderchor: Daniel Mayr, Dramaturgie: Hans-Georg Wegner. Musikalische Leitung: Markus Poschner.

  • Hört sich ja wirklich interessant an. Den Rosenkavalier habe ich bislang noch nie live gesehen und mich nur über Tonträgern daran erfreut. Das sollte ich mal ändern, vielleicht auch noch in Bremen. Danke für den tollen Bericht.

  • Wow, das klingt ja wirklich richtig spannend und mal nach einer richtigen großartigen Neudeutung. Erst zwei Deutungen habe ich gesehen, eine klassische mit einer umwerfenden Gabriela Fontana als zu Tränen rührenden Marschallin und einen bedrohlichen Krimi der immer noch hier in Hannover läuft. Aber das zwingt einen ja richtig nach Bremen. Danke für den Bericht
    Wenzeslaus :hello:

  • @alle denen das nicht gefällt: kommt doch im Juni nach München, da läuft (noch) die absolute Traum-Inszenierung des Rosenkavaliers, diesmal in sogar äusserst vielversprechender Besetzung.

  • Toller Bericht von Basti.


    Dass die Sänger gut waren freut mich für Bremen.
    Das ist auch das Wichtigste.


    Das Bühnenbild erinnert mich aber an Hollywood, grausam.


    LG, Bernward


    "Nicht weinen, dass es vorüber ist
    sondern lächeln, dass es gewesen ist"


    Waldemar Kmentt (1929-2015)


  • Die Handlung des Rosenkavalier erlaubt sicherlich eine moderne Deutung. Alles das, was passiert, könnte heute ebenso ablaufen.


    Aber ich finde, man nimmt den Personen die "Magie" - vor allen Dingen der Marschallin, sie muss doch absolut die über allen anderen erhabene , tonangebende Person sein, sonst stimmt doch alles nicht ! Ich habe vor einigen Jahren in Münster einen Rosenkavalier gesehen, der wirklich gut besetzt war. Dort musste im dritten Akt die Marschallin in einem hässlichen Büro-Hosenanzung in Rot erscheinen, sie wirkte so bieder und bürgerlich, niemand konnte glauben, dass sie die "Macht" hat, dem Spuk ein Ende zu setzen. Ich habe damals den Münsterschen GMD Will Humburg nicht verstehen können, dass er seine Frau - die Marschallin - so auf die Bühne gelassen hat.


    Alles was Hoffmansthal geschrieben hat und Strauss komponiert hat (im Rosenkavalier) ist absolut "künstlich", soll an Rokokko und Mozart erinnern, da fehlt bei einer modernen Fassung halt alles. Nicht umsonst läuft in München immer noch die alte Inszenierung von Otto Schenk aus dem Jahre 1972 - wenn auch immer mal wieder aufgefrischt - in den herrlichen Bühnenbildern von J. Rose. Immer wenn im zweiten Akt der Vorhang aufgeht, gibts Applaus !

  • Eine gute Deutung muss einerseits es schaffen nicht nur museal - und nichts anderes ist eine deutung aus dem jahr 1972- die Magie der handelnden Personen darzustellen und anderseits deutlich machen was der Inhalt der geschichte heute mit uns im hier und jetzt zu tun hat. Und die Geschichte des Rosenkavaliers ist doch so aktuell und zeitnah, das ich finde dass nur roter Samt und Kronleuchter, Rokokko und Mozart verstellen unseren Blick auf die Probleme der handelnden personen und es wird nur die bebilderte Abspielung eines Musikstückes.
    Und so etwas treibt mich aus dem Opernhaus!
    Wenzeslaus

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  • Alles was Hoffmansthal geschrieben hat und Strauss komponiert hat (im Rosenkavalier) ist absolut "künstlich", soll an Rokokko und Mozart erinnern, da fehlt bei einer modernen Fassung halt alles. Nicht umsonst läuft in München immer noch die alte Inszenierung von Otto Schenk aus dem Jahre 1972 - wenn auch immer mal wieder aufgefrischt - in den herrlichen Bühnenbildern von J. Rose. Immer wenn im zweiten Akt der Vorhang aufgeht, gibts Applaus !

    Leider ist diese schöne Inszenierung bald weg vom Fenster. Die Regietheaterriege scharrt schon mit den Hufen. Wieder ein trauriger Grund mehr, auch die Bayer. Staatsoper kaum mehr zu besuchen.


    wenzeslaus: Na dann freu dich, du fährst ja dementsprechend gerade eine Rekordernte ein und kannst Dir landauf und -ab solche Inszenierungen wie die Bremer reinziehen. Wohl bekomm's.

  • Naja, liebe Knusperhexe, ganz so pessimistisch sehe selbst ich das nicht. Die Rosenkavalier-Serie im Juni scheint ja erstmal eine aus Kostengründen abgesagte Neuproduktion zu ersetzten. Hoffe mal die Schenk-Inszenierung bleibt uns so noch eine Weile erhalten. ;)
    Und auch sonst gibts in München genug alte, wunderschöne Inszenierungen, die z.T. in Starbesezung immer wieder gespielt werden. Neben Hänsel und Bohème ist da noch eine herrliche Butterfly, sowie die berühmte Zauberflöte vom Everding, ein hübscher alter Barbiere und eine wunderschöne Carmen. Auch soll Ponnelles berühmte Cenerentola in Starbesetzung wiederkommen :jubel: . Und auch bei den Neuproduktion war hier nicht alles schlecht. Die neue Tosca war zumindest erträglich und mit unsrem Figaro oder Don Carlo kann ich sehr gut leben. München ist also immer noch eine Reise wert. :)