Franz Schubert: Liedinterpreten von vorgestern

  • Nachdem ich jetzt ein wenig Enthaltsamkeit geübt habe, weil ich mit der Restaurierung zerstörter Threads beschäftigt habe, melde ich mich wieder zurück. Und ich habe ein altes - neues Thema mitgebracht. Schubertlied - Interpreten von vorgestern.
    Hätte man dieses Thema nicht auch im Thread Franz Schubert - - - Gedanken zum Schubertlied und seinen Interpreten "Das Schubertlied und seine Interpreten" abhandeln können? Die Antwort ist: "Ja man hätte können"


    Aber es gab auch einige Gründe es nicht zu tun. Da wäre vor allem der andere Denkansatz.
    Während man sich im oben genannten Thread über Interpretationen und auch den Klang der Gesangsstimmen äusserte, also
    ein üblicher Aufnahmenvergleich - habe ich einerseits den Fokus dieses Threads auf Aufnahmen von gestern, bzw vorgestern - somit Schellackära - gelegt, andrerseits möchte ich den SPRACHLICHEN - nicht unbedingt STIMMLICHEN Unterschied alter Aufnahmen - herausgearbeitet sehen - eine Thematik, die eigentlich auch Helmut Hofmann interessieren könnte - obwohl ihm ansonst Stimmvergleiche wenig geben, wei sie die SPRACHMELODIE und deren unterschiedliche Ausprägung berücksichtigen soll.
    Wenn ich alte Aufnahmen von Schubertliedern höre, dann nehme ich eine ferne Welt wahr, soll heissen, die Schwerpunkte waren anders gesetzt. Die Sprache war eine andere, die Theathralik unterschiedlich. Ob "schöner" oder "weniger schön" gesungen interessiert - zumindest von den Intentionen dieses Threads her - nur am Rande.
    Viele der hier angesprochenen Aufnahmen sind heute an die 60-80 Jahre alt - liegen also Schubert zeitlich viel nähert, als das was heute aufgenommen wird. Manche der alten Aufnahmen wirken auf mich ein wenig maniriert, andere wieder bedenkenlos heruntergesungen, ich stelle mir nun die Frage, wie Schuberts Lieder zu Schuberts Zeiten geklungen haben mögen, bzw welcher VORTRAG - (nicht Gesang) den Texten näher steht, der heutige - oder jener der 20er, 30er oder 40er Jahre des 20. Jahrhunderts.



    Es gibt viele Möglichkeiten Schubertlieder in historischen Aufnahmen zu hören, eine der preiswertesten stelle ich hier unten vor:



    Die schöne Müllerin; Winterreise; 113 Einzellieder
    Künstler: Aksel Schiotz, Lotte Lehmann, Hans Hotter, Gerhard Hüsch, Maria Ivogün, Jussi Björling, Ria Ginster, Heinrich Rehkemper, Franz Bölker, Tiana Lemnitz, Germaine Lubin, Friedrich Schorr, Esliabeth Schumann, Gerard Souzay, Lotte Schöne, Maria Olszewska, Herbert Janssen, Marta Fuchs, Elisabeth Schwarzkopf, Dusolina Giannini, Margaret Ritchie, Charles Panzera, Georges Thill, Sigrid Onegin, Alexander Kipnis, Elisabeth Rethberg, Julia Culp, Sigrid Onegin, Irmgard Seefried, Karl Erb, Heinrich Schlusnus, Sebastian Peschko, Franz Rupp, Hans Udo Müller, Michael Raucheisen, Paul Ulanowsky, Gerald Moore
    Label: Doc , ADD/m, 1916-1945


    Spezialisten werden aber vermutlich auf Veröffentlichungen der Fa der Fa Preiser oder Naxos zurückgreifen...




    mfg aus Wien



    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Ich sehe mich angesprochen, lieber Alfred, und gleich mit der Anmerkung versehen, dass ich kein großer Freund von "Stimmvergleichen" sei. Das ist richtig, aber das heißt nicht, dass die Frage der gesanglichen Interpretation eines Liedes für mich kein wichtiges Thema wäre.


    Mein etwas distanziertes Verhältnis zu diesem Aspekt des Umgangs mit dem Lied hat sich einfach daraus ergeben, dass er sehr häufig zu stark in den Vordergrund tritt, - und zwar auf Kosten des Liedes selbst.


    Ich werde aber, eben weil ich mich angesprochen fühle, mir die Interpretationen der "Winterreise" einmal vornehmen, die in der von Dir angezeigten CD-Kassette zu finden sind. Die "Winterreise" deshalb, weil ich mich im Rahmen des zugehörigen Threads eben gerade wieder einmal mit ihr beschäftige.


    Damit das alles aber nicht so allgemein bleibt, was ich von mir gebe, konzentriere ich mich auf das Lied "Frühlingstraum". Das ist, wie ich denke, eines der Lieder aus der Winterreise, bei dem der Sänger ganz besonders gefordert ist.

  • Und damit das Ganze nicht zu einseitig wird, bringe ich hier zwei Schubertlieder in einer historischen Aufnahme ein, die im Konzertsaal kaum angeboten werden.



    "Mein" Sänger ist der Tenor Karl Erb 1877-1958 (von dem Jens Malte-Fischer sagt: "Sein Timbre war von seltener Reizlosigkeit"), der jedoch auch von Dietrich Fischer-Dieskau bewundert wird ("Noch nach der Vollendung seines 70. Lebensjahres stand er auf dem Podium oder machte Aufnahmen, deren Ausdrucksreichtum zu bewundern bleibt").


    Eine Aufnahme aus dem Jahre 1934 Litanei (D 343) und eine Aufnahme von 1937 Die Liebe hat gelogen (D 751) finde ich ganz vorzüglich gesungen.
    Und wenn´s unbedingt die Winterreise sein muss - Karl Erb hat auch "Das Wirtshaus" (D 911) interpretiert.(Aufnahme von 1939)


    Selbstverständlich muss man auch berücksichtigen, dass die Sänger jener Zeit in einem gänzlich anderen Umfeld, in einer ganz anderen Welt sangen und praktisch kaum Vergleichsmöglichkeiten mit Interpretationen ihrer Vorgänger hatten.


    Einen Liedtext stelle ich hier unten ein / "Litanei" wird - je nach Interpretation - in unterschiedlicher Strophenzahl gesungen.


    Die Liebe hat gelogen (Platen)


    Die Liebe hat gelogen,
    Die Sorge lastet schwer,
    Betrogen, ach! betrogen
    Hat alles mich umher!


    Es fließen heiße Tropfen
    Die Wange stets herab,
    Lass ab, mein Herz, zu klopfen,
    Du armes Herz, lass ab!


    Die Liebe hat gelogen,
    Die Sorge lastet schwer,
    Betrogen, ach! betrogen
    Hat alles mich umher!

  • Das trifft zu, lieber hart:


    Die Liedinterpreten sangen damals "in einem anderen Umfeld", wie Du sagst. Ich würde es erweitern und sagen: Sie standen in einer anderen Tradition, - einer, die noch sehr von der Opernbühne geprägt war. Von dieser Tradition mussten sie sich erst einmal emanzipieren.


    Eine andere Bemerkung von Dir verweist mich auf das Problem einer solchen Fragestellung, wie sie diesem Thread zugrundeliegt: Du sagst: Ich finde das "ganz vorzüglich gesungen".


    Was willst Du damit sagen?


    Das soll keine Frage sein, in der ein Vorwurf steckt. Ich stoße in dieser Feststellung, die sicher aus voller Überzeugung kommt, auf eine Grundfrage:


    Wie soll man das einem anderen gegenüber begründen?


    Man müsste im Grunde selbst Sänger sein, um eine solche Begründung leisten zu können. Und da haben wir das Problem!

  • Ich habe die Interpretationen von Hans Hotter (M. Raucheisen) und Gerhard Hüsch (Udo Müller) miteinander verglichen. Anschließend habe ich, um die Eigenart dieses Schubertgesangs der dreißiger und vierziger Jahre zu erfassen, mir die Interpretation von Matthias Goerne (A. Brendel) angehört und bin danach wieder zu den beiden anderen zurückgekehrt.


    Wenn man das Ergebnis auf einen Nenner bringen soll, dann kann man feststellen:


    Das Lied wurde damals stärker von einem Sich-Einfühlen in die Situation des Protagonisten und der daraus resultierenden Haltung gesungen, während man heute in der Interpretation ganz bewusst von Schuberts Musiksprache ausgeht und infolgedessen stärker auf angemessene gesangliche Binnendifferenzierung achtet.


    HANS HOTTER: Das Lied wird in einem ungewöhnlich langsamen Tempo gesungen. Schubert gibt "Etwas bewegt" vor. Mir scheint, dass Hotter es zu langsam singt. Ich vermute, dass er es aus der Haltung des Sich-Einfühlens in die Situation des Protagnisten tut. Diese Vermutung bestätigt sich spätestens am Ende seiner Interpretation. Auffallend ist, dass die Dynamik-Unterschiede, die in Schuberts Faktur angelegt sind, von Hotter weniger stark ausgeschöpft werden, als man das heute tut. Die zweite und die fünfte Strophe sollen "schnell" gesungen werden, deutlich von "Etwas bewegt" und "Langsam" abgesetzt. Hotter tut das auch, aber er hält sich zurück. Die ganze Interpretation wirkt im vergleich zu einer modernen recht verhalten und zurückgenommen. An der Artikulation ist freilich nichts auzusetzen, und an keiner Stelle lässt sich feststellen, das der Notentext nicht sorgfältig beachtet wäre.


    Wenn man die Interpretation der Schlussverse hört ("Wann grünt ihr Blätter am Fenster? ..."), dann wird deutlich, aus welcher Haltung heraus gesungen wird: Die Stimme wird nicht nur deutlich leiser, es wird sogar mehr und mehr die Substanz aus ihr herausgenommen. Bei "Arm" bekommt sie sogar einen leicht weinerlichen Ton.


    Hotter singt aus einer starken Identikation mit dem Protagonisten heraus. Er überträgt die daraus abgeleitete sängerische Haltung auf das ganze Lied. Die Folge ist, dass die sängerische Binnendifferenzierung weniger stark erfolgt, als dies vom Notentext her möglich wäre. Dort aber, wo vom Text her diese Grundhaltung deutlich angesprochen wird, also vor allem in der letzten Strophe, kommt sehr viel Gefühlsausdruck in den Gesang.


    GERHARD HÜSCH: Er wählt ein deutlich flotteres Tempo. Von Anfang an hat man den Eindruck einer gewissen Flüchtigkeit der Interpretation. Der Grad an Identifikation mit dem Protagonisten, wie er bei Hotter zu beobachten ist, ist hier nicht gegeben. Das hat Folgen: Überall dort, wo vom Text her gefühlvolle Interpretation gefordert wird, arbeitet Hüsch mit einem Pathos, das aufgesetzt wirkt. Ganz deutlich zu hören ist das bei der letzten Strophe: "Die Augen schließ ich wieder..." singt er mit einer Gefühligkeit, die man ihm nicht abnimmt, weil er sich das ganze Lied über nicht wirklich mit dem lyrischen Ich des Liedes identifiziert hat. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang das viel zu starke Diminuendo am Schluss. Es wirkt aufgesetzt, nicht überzeugend.


    Meine Vermutung ist: Gerhard Hüsch singt das Lied noch sehr stark aus der gestischen Haltung der Opernbühne heraus. Man will der Musik dort, wo der Text es verlangt, Pathos und angemessenen Gefühlsausdruck verleihen. Hans Hotter hat sich von dieser sängerischen Grundhaltung deutlich weiter abgelöst und emanzipiert. Er singt mit stärkerer Orientierung am Notentext und gerät dadurch weniger leicht in Gefahr, mit aufgesetztem Pathos zu arbeiten. Die Art, wie er die letzte Strophe singt und seine Stimme am Ende beinahe erlöschen lässt, wirkt jedenfalls höchst eindrucksvoll.

  • Zitat von Helmut Hofmann:
    Wie soll man das einem anderen gegenüber begründen?

    Lieber Helmut Hofmann,
    Du fragst: „wie soll man das einem andern gegenüber begründen?“
    Da muss ich dann wohl doch etwas mehr dazu schreiben ...
    Man ist ja schließlich selbst Sänger (ja, ja), denn im Prinzip kann jeder Mensch singen – auf welcher Qualitätsstufe auch immer…
    Von dieser Warte aus lässt sich also durchaus hören und einschätzen, dass ein Sänger, der sein Fach gelernt hat, natürlich viel mehr kann als der gelegentlich singende Laie.
    Wenn man nun schon viele Sänger gehört hat, bilden sich Bewertungsmaßstäbe heraus, die - zugegeben - zum Großteil auch subjektiv sind; aber auch eine Menge objektiver Kriterien wie Höhensicherheit und ähnliches beinhalten.


    Karl Erb gilt als so genannte „Naturstimme“. Interessant ist, dass Erb seine Stimme von jedem fremden Zugriff schützen wollte. Er sang am Hoftheater in Stuttgart an dreißig Abenden ohne jede Gesangsausbildung zu haben. So etwas war in der Geschichte des Operngesangs bisher noch nie da gewesen.
    Sein „Entdecker“ Baron von Putlitz riet Erb dringend zur Stimmschulung, aber Karl Erb überwarf sich mit seinem Gesangslehrer – sogar heftig!
    Ich kenne natürlich auch die Einwände gegen Erb – Dialektfärbung usw., aber die Stimme klingt natürlich und passt vor allem zum schlichten Schubertlied.
    Heutzutage haben wir – das Kunstlied betreffend – eine ganze Sängergeneration, die sich an Dietrich Fischer-Dieskau orientieren konnte.


    Wir bewegen uns hier in den 1930er Jahren, Amazon und jpc waren noch nicht am Markt und Karl Erb hatte nicht die Möglichkeit sich mal ein paar Scheiben zu bestellen, um nachzuhören wie die Kollegen das so machen ...


    Wer sich für Karl Erb interessiert - es gibt ein kleines Büchlein (209 Seiten) der Autorin Maria Müller-Gögler
    Karl Erb - Das Leben eines Sängers

  • Lieber hart,


    Du scheinst Karl Erb als Lied-Sänger sehr hochzuschätzen. Ich habe mir deshalb diese CD 6 aus der Kassette etwas genauer angehört. Auch auf die Gefahr hin, dass Du mir das verübelst: Ich finde keinen Zugang zu dieser Art von Liedinterpretation. Sie scheint mir im vollgültigen Sinne des Wortes historisch zu sein.


    Eines meiner Probleme ist das Timbre dieser Stimme. Sie klingt metallisch hart und oft wie gepresst. Nun kann man sagen, das ist eine Frage des Geschmacks. Es kommt aber hinzu, dass Erb sie auch irgendwie ungelenk führt. Ich weiß keine rechtes Wort dafür, aber immer wieder meine ich, er ginge eine wenig unbeholfen mit seiner Stimme um. Die Charakterisierung seiner Stimme als "von seltener Reizlosigkeit" scheint mir jedenfalls den Kern zu treffen.


    Das Lied LITANEI, das Du erwähnt hast, habe ich mir mehrmals angehört. Da bestätigt sich das, was ich eben sagte.


    Er bemüht sich zwar um das Herausarbeiten der melodischen Bögen, aber wenn er einen gesungen hat, legt er eine Pause ein und setzt neu an. Das meinte ich mit dem Wort "unbeholfen".


    Beispiel: Das Wort "Seelen" spricht er ganz kurz aus, und dann kommt eine abrupte Pause, die da gar nicht hinpasst. Kein anderer Sänger singt diesen Vers so. Man versucht, beim Übergang zum zweiten Vers den Fluss der Melodie zu erhalten und möglichst viel Legato zu singen. Das ist beim Thema dieses Liedes und dem ruhigen Strömen der Musik, das Schubert wollte, ja auch angebracht. Richtiggehend gepresst wirkt die Höhenlage bei "Aus der Welt hinüberschieden". Durchgehend gilt: Das versübergreifende Strömen der Melodik, das ich von allen anderen Interpretationen kenne, ist bei Erb kaum zu hören.


    Mir fehlt bei Erb jedenfalls die Geschmeidigkeit und Flexibilität einer tenoralen Stimme, wie sich sie von Fritz Wunderlich oder von Chr. Prégardien kenne. Den Aspekt Wärme des Timbres lasse ich jetzt mal außen vor. Was diese beiden Liedinterpreten aber wesentlich besser können, das ist Legatogesang. Wenn ich auch nichts vom Singen verstehe, - so viel kann ich hören.


    Nichts für ungut. Ich hätte das nicht geschrieben, wenn ich nicht wirklich Probleme mit dem Lied-Sänger Karl Erb hätte.

  • Lieber Erb-Kritiker,


    Als mich vor einigen Jahren die für das Karl Erb-Archiv in Ravensburg verantwortliche Dame empfing, sagte sie: „Ah, Sie sind also dieser Karl Erb Fan?“
    Nein, sagte ich, als Fan bezeichne ich mich eigentlich nicht – das sind auch sprachliche Unterschiede …
    Wahrscheinlich liegst Du richtig, es ist eine Sache des „Geschmacks“. Aber was Du als „irgendwie ungelenk“ bezeichnest, ist vielleicht gerade das was mich reizt …
    Auch in der Malerei finde ich oft die flüchtige Skizze weit reizvoller und interessanter als das perfekt ausgeführte Meisterwerk.
    Wunderlich und Prégardien wurden in eine andere Welt hineingeboren, hatten eine fundierte Hochschulausbildung (die müssen anders singen) und ich habe ja auch an diesen meine helle Freude! Als ich ein junger Mann war, hatten Karl Erb und auch Heinrich Schlusnus einen ganz anderen Stellenwert, aber das war eben eine ganz andere Zeit.
    Die Threadadministration möchte ohnehin, dass das „Stimmliche“ hier nicht so sehr in den Vordergrund tritt, also nehme ich mich etwas zurück, damit dem Sprachlichen mehr Raum gegeben werden kann.

  • Lieber hart,


    warum so förmlich? Du sprichst mich als "Erb-Kritiker" an. Erstens bin ich das nicht, und zweitens klingt das für mich so, als hätte ich Dir, - was ich ja insgeheim fürchtete - doch auf den Fuß getreten. Täte mir leid!


    Aber zurück zum Thema. Ich weiß natürlich, dass Karl Erb allgemein als "überragender Lied- und Oratorieninterpret" gilt (so mein Musiklexikon), und ich werde mich allein schon deshalb hüten, mich hier als "Kritiker" aufzuspielen. Mein Problem ist ein ganz anderes.


    Kann man, anders als im Lied selbst, heute im Liedgesang von einem "Fortschritt" sprechen? Wenn ja? worin besteht er? Und ferner: Welchen Wert haben für uns dann die "alten Interpreten" der Generation Karl Erb?


    Ist deren Leistung im Liedgesang nur noch von historischem Wert oder haben sie uns heute noch etwas zu sagen? Auf dieses Problem bin ich beim Hören der CD mit Erb viel stärker gestoßen als beispielsweise bei Hans Hotter.


    Ich gebe ein Beispiel:


    Wanderers Nachtlied singt Erb mit wunderbar verhaltener Stimme und sein Gesang strömt die Ruhe aus, die Schubert in diesem Lied hören lassen wollte. Aber er arbeitet bei seiner Interpretation mit leichten Portamenti. Die sind heute zu Recht im Liedgesang verpönt, und das nicht nur aus modischen Gründen. Bei dem Wort "balde" (..."ruhest du auch") verschleppt der das Tempo massiv und legt ein lange Pause ein. Das ist vom Notentext her nicht gedeckt. Er macht das, weil er meint, vom Wort her singen zu müssen, also vom semantischen Gehalt des "balde".


    Die Frage ist:


    Wird man dem Lied gerecht, wenn man sehr stark vom Wort her interpretiert und sich dann über den Notentext hinwegsetzt? Anrührend ist das ohne Frage. Man meint, der Sänger rezitiere das Gedicht und lege die Schubertsche Melodie dabei unter.


    Ich sage es noch einmal: Ich bin kein Erb-Kritiker. Ich frage mich, ob man "Wanderers Nachtlied" so singen sollte. Diese Frage drängt sich mir auf, wiel ich das Lied noch nie so gesungen gehört und mit höchstem Interesse gelauscht habe.

  • Zitat

    "Mein" Sänger ist der Tenor Karl Erb 1877-1958 (von dem Jens Malte-Fischer sagt: "Sein Timbre war von seltener Reizlosigkeit"),


    An dieser Stelle kann man sehen, wie "Kritikerpäpste" Karrieren zerstören könnten, wenn sie nur früh genug geboren waären - was im vorliegenden Fall ja glücklicherweise nicht der Fall war.
    Ich beziehe mich hier ausdrücklich auf das Timbre, welches mich- als ich vor etwa 30 Jahren eine Preiser Aufnahme mit Schubert.Liedern, aufgenommen in den mittleren dreißiger Jahren des 20. Jahrhundert eher durch Zufall erwarb (nein eigenltich war es kein Zufall -aber dies an anderer Stelle) äusserst beeindruckte. Egal wie man zu Erbs Timbe steht, ich wage die Behauptung, daß diese Stimme - wer sie einmal gehört hört - dem Hörer unvergesslich bleiben wird. Das muß auch das zeitgenössische Publikum so gesehen (gehört) haben, denn es hat Erbs Karriere und Ruhm nie geschadet, daß er Autodidakt war.


    .


    Nicht zu Leugnen ist ein gewisser gekünstelter Vortrag, wobei ich meine, daß der Schönheit der Sprache vor dem Ausdrck des Inhalts der Vorzug gegeben wurde. Auch ist nicht zu leugnen, daß der Vortrag derm Geschmack der Zeit entsprach.
    Helmut Hofmann wird über Vortrag im Sinner der Textausdeutung sicher mehr sagen könne als ich - im Vergleich mit Zeitgenossen und Sängern neuerer Zeit,
    Nein - ich habe kein Problem wenn jemand "meine" Sänger gering schätzt....
    BEi ERb fällt mir ein, daß ich damls meinte, Gesangstimmen dieser Klasse (wobei hier auch die Unverwechselbasrkeit gemeint war) machen den Erwerb von historischen Aufnahmen vertretbar....


    mfg aus Wien


    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



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  • ...................womit, lieber Alfred, Du allerdings alles auf den Aspekt Stimme abgestellt hast. Ich meine, - mit Deinem letzten Satz.


    Darüber ist nicht zu streiten. Eine Stimme kann für sich sprechen. Und diese Sprache kann überwältigend sein.

  • Lieber Helmut Hofmann,


    "Kritiker" ist ja kein Schimpfwort ...
    Eindeutig haben wir heute (gemeint ist seit Dietrich Fischer-Dieskau) einen "Fortschritt" im Liedgesang - und wie!


    Hier "um die Ecke" hat Karl Benz 1886 das Auto erfunden. Das war eine elende Kiste, wenn man das mit der aktuellen S-Klasse vergleicht ...
    Einem alten Fachwerkhaus wird man keinen Vorwurf machen, dass es krumme Balken hat ...
    Friedrich der Große war ein toleranter und fortschrittlicher Herrscher - zu seiner Zeit ...


    Nur einige Beispiele zum Wert des Gewesenen, im Vergleich mit der heutigen Situation.


    Ein Karl Erb hatte ja nicht diese Fülle an Informationen, die heute ein studierender Sänger hat, wenn er sich mit einem Lied oder gar einem Zyklus befasst. Immer wenn ich Erb singen höre fallen mir die Worte aus dem Beethoven-Zyklus ein:


    Und du singst, was ich gesungen,
    Was mir aus der vollen Brust
    Ohne Kunstgepräng erklungen,
    Nur der Sehnsucht sich bewußt:


    "Ohne Kunstgepräng" - das ist es wohl, was mich berührt, wenn ich Erbs Liedinterpretationen höre.


    Übrigens ist es recht amüsant zu lesen, dass Karl Erb - damals 70 Jahre alt - den 23-jährigen Dietrich Fischer-Dieskau mit den Worten einlud: "Kommen Sie zu mir, damit Sie lernen, wie man Schubert singt."

  • Ja, lieber hart, - allmählich begreife ich die Achtung - oder vielleicht gar Bewunderung - die Du Karl Erb entgegenbringst. Diese Charakterisierung "ohne Kunstgepräng" trifft wohl haargenau seine Art des Liedgesangs.


    Manchmal kommt es mir vor, als läge - gemessen an der intellektuellen Durchdringung der Lieder bei einem Fischer-Dieskau - bei Karl Erb so etwas wie Naivität vor. Ich meine mit diesem Begriff etwas Positives: In diesem Fall ein wenig reflektiertes, sozusagen unmittelbares Singen aus den Noten und dem Geist des Liedes heraus.


    Aufgefallen ist mir das besonders bei dem Lied "Das Wirtshaus" aus der Winterreise. Wenn er singt: "Hab ich bei mir gedacht", hört man richtig, wie er mit sich selbst spricht. Die Frage "Sind den in diesem Hause...?" wird als Frage an den Friedhof artikuliert - nicht etwa als in sich hinein gerichtete Frage, wie Goerne oder Fischer-Dieskau das etwa singen - , und das "Du treuer Wanderstab" ist hörbar ein Appell an seinen Stock, ihn nun weiterhin in seinem mühsamen Wandern zu stützen.


    Ja, das ist wirklich "ohne Kunstgepräng". Und ich würde hinfügen: Es ist ein Liedgesang, der auf erfrischende Weise frei von gedankenschwerer Reflexion ist.

  • Liebe Altliedhörer,
    nachdem ich Alfreds "Anweisung"
    den SPRACHLICHEN - nicht unbedingt STIMMLICHEN Unterschied alter Aufnahmen - herausgearbeitet sehen ...


    zig Male gelesen habe, ist mir klar geworden, dass hier in etwa die Quadratur des Kreises gefordert wird ... zumindest bei den Schubert-Liedern sehe ich da kaum einen Ansatz, zumindest soweit das meine Aufnahmen hergeben. Es ist eindeutig die stimmliche Behandlung der Wörter, die die Interpretation ganz wesentlich verändert.


    Weil hier kürzlich erst besprochen, habe ich "Jägers Abendlied" D 368 vergleichend mit zwei Tenören gehört:


    Peter Anders / Michael Raucheisen (Aufnahme 1945)
    Christoph Prégardien / Andreas Staier (Aufnahme 1995)


    Das ist zwar keine uralte Vergleichsaufnahme, aber es ist eindeutig aus der Schellackzeit. Was fällt auf? Natürlich die Wortveränderungen durch die Stimme. Heutzutage singen alle Sänger dieses Lied weit verhaltener als dies Peter Anders tut.


    Vergleicht man die von mir oben angeführten Aufnahmen (die übrigens bezüglich der Länge, beide mit 2:58 angegeben werden), dann ist eindeutig, dass Peter Anders gleich zu Beginn herzeigt, was er so drauf hat (war ja später auch ein guter Florestan), da wird gleich herzhaft gesungen - und das verändert logischerweise das Wort entscheidend.


    Ganz anders nun Prégardiens Vortrag, er schleicht sich richtiggehend an, alles ist lyrischer, verhalten - die Worte verschmelzen geradezu mit der Musik.


    Bei anderen Komponisten stellt sich die Sache dann aber mitunter so dar: (ich weiß, laut Vorgabe müsste ich bei Schubert bleiben, aber als Vergleich gestatte ich es mir einfach mal).


    Nehmen wir einmal den großen Bassisten Josef Greindl in einem Stück von Carl Loewe: "Der Teufel" op. 129 (Aufnahme 1943)
    Das Lied ist 5:27 lang, so dass man einiges hören kann ...
    Was fällt auf? Die starke, oft sogar rollende Betonung des "r" - ich glaube, dass dies auch mal bei Sprechtexten "Mode" war, bin mir aber nicht ganz sicher.
    Wenn man nun als Vergleich Greindls "Winterreise" hört, entfällt dieser "Störfaktor", wobei wir nun wieder bei Schubert sind ...


  • Die Alten kamen nach meiner Beobachtung mit ihren Interpretationen viel stärker vom Wort her. Das mag auch an der Nachwirkung von Wagner liegen, daran, wie in der Cosima-Zeit dessen Werke regelrecht zelebriert wurden. Buchstabe für Buchstabe. Erb, der in diese Zeit fällt, war ein gebildeter Mann und kannte "seinen Goethe". Und das hört man auch. Es beeindruckt mich. Ich will und kann es nicht verhehlen. Sein Interpretationsspektrum umfasst nicht nur die Musik. Es schließt die literarische Vorlage mit ein. Schließlich geht es ja um Lieder und nicht um Sonaten. Inzwischen können wir "Wanderers Nachtlied" mit Erb auch bei YouTube nachlören, was 2010, als dieser Thread von Alfred gestartet wurde, vielleicht noch nicht möglich war:



    https://www.youtube.com/watch?v=qh2ziAwpL0Y


    Gern höre ich Lieder mit jungen Sängern, die sich dem Genre auffällig oft zuwenden. Zufall? Sie suchen wohl nach den Werten, die in Lieder bewahrt und behandelt werden. Zumindest äußern sie das in Texten der Booklets. Sie scheuen sich nicht, ihre intimen Gefühle zu zeigen, über Sehnsüchte, Trauer, Unglück und Verlassensängste zu reden. Sie singen in der Regel sehr gut und sehr genau. Oft hapert es aber am Text. Was man da nicht alles hört.

    Es grüßt Rüdiger als Rheingold1876


    "Was mir vorschwebte, waren Schallplatten, an deren hohem Standard öffentliche Aufführungen und zukünftige Künstler gemessen würden." Walter Legge (1906-1979), britischer Musikproduzent

  • Schön, lieber Rheingold, dass Du diesen alten Thread wieder aufgemacht und in die Erinnerung zurückgerufen hast (hast mich damit, ohne darum wissen zu können, in das Forum zurückgeholt).
    Ich habe mich sofort, Deinen Link nutzend, in die Erb-Aufnahme von „Wanderers Nachtlied“ noch einmal eingehört und danach alles gelesen, was hier zum Thema des Threads geschrieben wurde. (Dabei stellte sich die – mir inzwischen abhanden gekommene – Überzeugung ein, dass solch ein Diskurs etwas durchaus Sinnvolles und für externe Leser potentiell Gewinnbringendes ist, - und eben deshalb bin ich ja wieder zurück).

    Aber dieses Kursive in Klammer wollte ich hier eigentlich gar nicht vorbringen. Etwas anderes ist mir aufgefallen:
    Ich habe einen bestimmten Aspekt der damaligen gesanglichen Liedinterpretation nicht hinreichend gewürdigt. Es ist deren eminente Stimmen-Orientiertheit. Die Erb-Interpretation lässt das sehr deutlich vernehmen, dieses Wert-Legen auf gebundene stimmliche Kantabilität unter sorgfältiger Handhabung und Nutzung aller entsprechenden Ausdrucksmittel.
    Auf diese Weise wird das Besondere der Schubertschen Liedmusik vernehmlich: Der Zauber ihrer Melodik.


    Freilich muss man auch einen Preis dafür bezahlen: Den damit einhergehenden Einsatz von Portamenti und Legato-Bögen. Das wirkt – auf mich jedenfalls – ein wenig antiquiert.
    Die ungewöhnlich lange Dehnung, sogar mit nachfolgender Pause, die Erb auf das Wort „balde“ legt, stört mich nach wie vor ganz erheblich. Sie ist – aus meiner Sicht – in jeglicher Weise unangebracht: Vom Notentext her und von der darin sich niederschlagenden kompositorischen Aussage-Absicht Schuberts.


    Goethe hat zwar dieses Wort „balde“ entgegen seiner adverbialen Funktion nicht an den Anfang des letzten Verses gestellt, sondern, durch Komma abgetrennt, ans Ende des zweitletzten und es auf diese Weise in eine herausgehobene Position gebracht, und Schubert reagiert darauf in der Weise, dass er die melodische Linie und den Klaviersatz an dieser Stelle mit einer Fermate versieht. Aber er lässt keine Pause für die Singstimme nachfolgen, um zu vermeiden, dass diesem „aber“ ein übermäßiger liedmusikalischer Akzent verliehen wird. Es soll vielmehr ein kurzes Innehalten nach dem vorangehenden zweimaligen „Warte nur“ sein, dies in dem Sinne, dass sich die melodische Linie öffnet für die nachfolgenden, die zentrale Aussage des Liedes konstituierenden Worte „Ruhest du auch“.


    Aber ich will das nicht überstrapazieren. Denn Du hast ja recht, und ich stimme Dir darin voll und ganz zu: Es lohnt und kann zum Erlebnis werden, diese Aufnahme zu hören!

  • Erb, der in diese Zeit fällt, war ein gebildeter Mann und kannte "seinen Goethe". Und das hört man auch.


    Lieber Rheingold,
    Als ich einmal im Archiv der Stadt Ravensburg war, empfing mich die Dame dort mit den Worten: »Ach, Sie sind der Karl Erb Fan ...« Ich meinte dazu, dass »Fan« vielleicht nicht der ganz passende Ausdruck sei ...
    Damit möchte ich nur andeuten, dass ich das Leben von Karl Erb recht gut kenne und darüber auch in Deinem Thread »Der Musiker Gräber« (Beitrag 198) einiges geschrieben habe. Dass Erb in seinem Leben Zeit für umfassende literarische Bildung gehabt hat, konnte ich allerdings nicht herausfinden ...


    Die ungewöhnlich lange Dehnung, sogar mit nachfolgender Pause, die Erb auf das Wort „balde“ legt, stört mich nach wie vor ganz erheblich.


    Lieber Helmut,
    Das darf Dich auch stören, aber das versteht man eben unter Interpretation - wie trostlos sähe es aus, wenn alle absolut »richtig« sängen. Interpretationsunterschiede treten mitunter in der Raucheisen-Edition ganz krass zutage, da stellten sich gestandene Opernsänger eben mal hin und sangen die Lieder so wie sie es für richtig hielten, ich wollte diese Sammlung nicht missen.


    Und Professor Dr. Jens Malte Fischer, der auch selbst Gesang studierte, meinte zu Erb: »Sein Timbre war von seltener Reizlosigkeit ... « und weiter ... »Die Mängel des Timbres wurden auch keineswegs durch Raffinement der Interpretation wettgemacht. Erbs Singen ist von einschläfernder Gleichmäßigkeit ...«
    Für mich völlig unverständlich, aber wie man sieht, hört eben jeder etwas anderes ...

  • Zit.: "wie trostlos sähe es aus, wenn alle absolut »richtig« sängen."


    Da spricht der großer Kenner des Kunstliedes und der Vielfalt seiner Interpretationen aus Dir, lieber hart. Und wie anders könnte man, als Dir darin aus vollem Herzen zuzustimmen.
    Deine Verwunderung und Deine Bedenken, das Urteil von Jens Malte Fischer Karl Erb betreffend, teile ich voll und ganz.
    Wir hatten übrigens vor langer Zeit, im Jahre 2011 nämlich, schon einmal ein ausführliches und - wie ich finde - höchst erfreuliches und ergiebiges Gespräch darüber. Du wirst Dich erinnern.
    War schön, damals!


    Man kann das hier nachlesen (ich mache wieder mal ein bisschen Reklame für Alfreds "Tamino-Kunstliedforum")


    http://tamino-klassikforum.at/…age=Thread&threadID=13811


    und speziell u.a. hier:


    http://tamino-klassikforum.at/…light=Karl+Erb#post399945


    http://tamino-klassikforum.at/…light=Karl+Erb#post400054



  • In der vom Forenbetreiber im ersten Beitrag gezeigten 10 CD-Box gibt sich wirklich die Crème de la Créme der Liedersänger der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ein Stelldichein.


    Die Kassette ist bei Amazon auch heute noch zu einem lächerlichen Preis erhältlich, allerdings mit einem anderen Cover:

    Der Inhalt ist jedenfalls identisch. Neu gibt es die 10 CD-Kassette z.Zt. für € 6,79, gebraucht ab 57 Cent (!), jeweils + Versandspesen.
    Besonders wertvoll scheinen mir die enthaltenen Ausgaben der WINTERREISE zu sein, die sowohl von Hans Hotter mit Michael Raucheisen (1942) als auch von Gerhard Hüsch mit Hans Udo Müller (1933) geboten wird.
    Unerreicht nach jeder Richtung halte ich aber DIE SCHÖNE MÜLLERIN mit dem dänischen Tenor Aksel Schiötz, begleitet von Gerald Moore, aus dem Jahr 1945 zu sein. Das ist wahrhaft "Kunst, die Kunst verbirgt", was uns dieser Sänger hier bietet. "Der Seelenzauber dieser Stimme lag in ihrer lyrischen Leuchtkraft", schrieb seinerzeit die FAZ in einer Besprechung der alten Aufnahme. Und Gerald Moore, der wahrlich fast ein halbes Jahrhundert alle bedeutenden Liedinterpreten begleitet hat, nannte die Interpretation von Schiötz "die erfüllteste, die ich jemals gehört habe".


    Bemerken möchte ich noch, dass sowohl Heinrich Schlusnus als auch Karl Erb jeweils eine ganze CD gewidmet ist. Dem Urteil von Jens Malte Fischer über Karl Erb kann ich mich überhaupt nicht anschließen, so wenig wie der wenig schmeichelhaften Einschätzung von Fi-Di durch Jürgen Kesting.


    Noch ein Wort zu Lotte Lehmann: So sehr ich diese wunderbare Sängerin (auch als Liedinterpretin) schätze, als Interpretin der "Müllerin" scheint sie mir fehl am Platz, so großartig sie auch singt. Für mich ist dieser Zyklus ganz einfach für Frauenstimmen ungeeignet. Doch das mag Ansichtssache sein.


    LG, Nemorino

    Die Welt ist ein ungeheurer Friedhof gestorbener Träume (Robert Schumann).


  • Mein "Brockhaus" für die Beschäftigung mit der Entwicklung des Liedgesangs von Schubert von den Anfängen bis in die Gegenwart ist die oben abgebildete Sammlung, die ursprünglich bei der EMI herausgekommen und von dieser auch editiert worden ist. Die Vorgängerausgabe in zwei Teilen war nicht ganz so umfangreich. Davor gab es schon diverse Veröffentlichung auf Langspielplatten. Einschränkend muss angemerkt werden, dass vornehmlich Sänger berücksichtigt wurden, die für die EMI und alle ihre Vorgänger und Töchter aufgenommen haben. Die Sammlung ist streng chronologisch angelegt, was die Entwicklungen leichter zu erkennen gibt. Das erste Lied - Ave Maria (Ellens Gesang III) D 839 wurde 1898 in London eingespielt, gesungen von Edith Clegg, die eine Altistin gewesen ist. Sie singt nur den ersten Vers, was der begrenzten Kapazität des Tonträgers geschuldet war. Die Aufnahme kann inzwischen auch bei YouTube gehört werden:



    Es braucht viel Phantasie und Ausdauer, um dabei zu bleiben. Auffällig ist das starke Vibrato, das auch andere Interpretationen aus der Frühzeit prägt. Es ist gewiss sehr gewöhnungsbedürftig. Ich habe aber dennoch etwas dafür übrig, weil dadurch in dem ruhigen sehr verinnerlichten Gesang eine gewisse Erregung und Unruhe aufkommt. So furchtbar altmodisch finde ich es deshalb gar nicht.

    Es grüßt Rüdiger als Rheingold1876


    "Was mir vorschwebte, waren Schallplatten, an deren hohem Standard öffentliche Aufführungen und zukünftige Künstler gemessen würden." Walter Legge (1906-1979), britischer Musikproduzent

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  • In den vorangegangenen Beiträgen von Helmut, hart und nemorino fand ich viele Anregungen. So stelle ich mir Tamino vor. :) Helmut schreibt: "Ich habe einen bestimmten Aspekt der damaligen gesanglichen Liedinterpretation nicht hinreichend gewürdigt. Es ist deren eminente Stimmen-Orientiertheit. Die Erb-Interpretation lässt das sehr deutlich vernehmen, dieses Wert-Legen auf gebundene stimmliche Kantabilität unter sorgfältiger Handhabung und Nutzung aller entsprechenden Ausdrucksmittel. Auf diese Weise wird das Besondere der Schubertschen Liedmusik vernehmlich: Der Zauber ihrer Melodik." Ist denn diese Stimmen-Orientiertheit nicht auch darauf zurückzuführen, dass die Liedsänger, die durch Tonaufnahmen überliefert sind, nicht allesamt von der Oper kamen? Nur die können wir ja in unsere Betrachtungen einschließen. Deren Vorgänger sind nur aus Beschreibungen von Zeitgenossen nachzuvollziehen. Der Wiener Hofopernsänger Gustav Walter gilt als Begründer des klassischen Liederabends. Auch er kam von der Oper her. Bei YouTube ist er als Siebzigjähriger mit dem Schubert-Lied "Am Meer" von 1904 zu hören:



    https://www.youtube.com/watch?v=NgIpoEtBGV0


    Da ist es wieder, was auch bei Erb auffällt! Dass sich nun in dessen Lebenszeugnissen - wie uns hart erklärt - keine Anhaltspunkte für die von mir vermutete klassische Bildung finden, die ich in einen Zusammenhang mit der Interpretation seines "Wanderers Nachtlied" nach Goethe bringen wollte, hatte ich so nicht erwartet. Ich meinte mich an eine Dokumentation zu erinnern, aus der es anders hervorging. Nun weiß ich es besser. Danke. Zumindest aber vermittelt mir sein Vertrag den Eindruck, dass er, Erb, genau wusste, was es mit der literarischen Vorlage auf sich hat. Oder war es mehr so wie bei Martha Mödl, als sie befragt wurde, warum sie dies oder das so und nicht anders singe, sinngemäß antwortete: "Es kommt halt aus mir heraus."


    Mit nemorino stimme ich überein, die "Müllerin" lieber von Männern zu hören. Sie ist - wie auch ich finde - ein "Männer-Zyklus", und sie behandelt "Männer-Gefühle". Damit sind wir aber bei der schon an anderer Stelle aufgeworfenen Frage, ob der Sänger oder die Sängerin als Betroffene oder als Interpreten von Betroffenheit agieren sollten.

    Es grüßt Rüdiger als Rheingold1876


    "Was mir vorschwebte, waren Schallplatten, an deren hohem Standard öffentliche Aufführungen und zukünftige Künstler gemessen würden." Walter Legge (1906-1979), britischer Musikproduzent

  • Damit sind wir aber bei der schon an anderer Stelle aufgeworfenen Frage, ob der Sänger oder die Sängerin als Betroffene oder als Interpreten von Betroffenheit agieren sollten.


    Hallo,
    es gibt besondere Arten von Betroffenheit, die nur eine/ein tatsächlich Betroffene/r zum gültigen Ausdruck bringen kann - wenn die eigene Erfahrung fehlt, kann nur als Interpret/in von Betroffenheit fungieren.


    Viele Grüße
    zweiterbass

    Wer die Musik sich erkiest, hat ein himmlisch Gut bekommen (gewonnen)... Eduard Mörike/Hugo Distler