Interpreten in der Nische - Freiwilliges Exil oder Notlösung ?

  • Liebe Taminoianer Vor kurzem hat in einem anderen Thread ein Forianer die Beauptung aufgestellt, daß Künstler, welche sogenannte Nischenrepertoire zur Aufführung brächten, bzw solches auf Tonträger einspielten, dieses vermutlich nicht aus freien Stücken täten, sondern - so sich die Gelegenheit ergäbe - lieber unter einem weltberühmten Dirigenten mit einem Weltspitzenorchester bekannte Werke für ein Major-Label einspielen würden. Hhhhmm Stimmt das wirklich ? Ich glaube das kann man nicht so einfach beantworten. Manchen dieser Interpreten sind Werke des Nischenrepertoires derart ans Herz gewachesen, daß sie eine breitere Öffentlichkeit mit ihnen bekannt machen möchte. Oder aber sie scheuen jenen übertriebenen Rummel, welcher die Arbeit für ein Major-Label in der Regel mit sich bringt. Es gibt etliche Beispiele von Künstlern, die sich entweder auf Nischenrepertoire verlegten, obwohl sie allem Anschein nach auch Mainstream konkurrenzfähig interpretieren könnten. Andere wieder bleiben bei ihrem Stammlabel, weil sie die persönlichere Beziehung schätzen und desen Vorteil nicht aufgeben möchten... mfg aus Wien Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Es gibt die unterschiedlichsten Gründe, weshalb einem Interpreten ein bestimmtes Repertoire tief ans Herz gewachsen ist. Es können Werke sein, die für ihn geschrieben wurden. Oder die er vielleicht sogar selbst geschrieben hat. Beispiele: Boris Tschaikowsky mit seinem eigenen Klavierkonzert

    oder Yefim Bronfman mit dem für ihn komponierten Klavierkonzert von Esa-Pekka Salonen

    In aller Regel möchte ein junger Interpret aber vor allem eins: den Durchbruch schaffen, das Publikum erreichen. Das bewerkstelligt man am besten mit Repertoire, das bereits durchgesetzt ist. Also möchte man in aller Regel dieses Repertoire aufnehmen. Um sich dann, wenn der Durchbruch geschafft ist, gern auch in Nischen des Repertoires weiterzuentwickeln.


    Aber ich stimme Dir gern zu, Alfred: das war jetzt nur in Kladde gesprochen und so einfach ist das alles nicht. Eine Emmanuelle Haim ist solch eine Vollblut-Barockmusikerin, dass sie nie auf die Idee käme, etwas anderes zu dirigieren, nur um dem Publikum zu gefallen. Schubert und Brahms kann sie machen, wenn sie das Kernrepertoire des Barock durchdirigiert und dann einfach mal Lust auf etwas anderes hat. Genauso wie einem Johannes Kalitzke das zeitgenössische Repertoire so sehr am Herzen liegt, das er sich wohlfühlen dürfte in dieser Nische (ich habe ihn 1996 als Dirigent von Schnittkes "Life with an idiot" in der Semperoper Dresden mit Werner Hollweg erlebt. Das war großartig! Umso beschämender, dass sich vielleicht gerade mal 180 Leute im Opernsaal verloren. Hätte er den "Fidelio" gegeben, wäre der Laden rammelvoll gewesen).


    Meine Bemerkung aus dem anderen Thread, auf die Du Dich beziehst, war auf Marc-André Hamelin gemünzt. Ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass er - mit seinen jegliches Vorstellungsvermögen sprengenden pianistischen Möglichkeiten - so vollkommen glücklich damit war, immer nur für Alkan, Kapustin, Ornstein und Roslawetz sowie für "Raritäten der Klaviermusik"-Programme in Husum gebucht zu werden. Müsste er nicht auch Lust haben, mal die "Sinfonischen Variationen" von Franck zu machen oder wenigstens "Les Dijinns" desselben Komponisten? Wird er vom Markt nicht doch zu sehr auf dieses - höchst verdienstvolle - Ersteinspielen vergessener Werke reduziert? Sollte er nicht mal "die Sau rauslassen dürfen" und mit seinem offenbar vorhandenen feeling für Jazz das Gershwin-Klavierkonzert sowie die "Rhapsody in Blue" aufnehmen? Oder einfach mal zwei Mozart-Klavierkonzerte? Ich wäre jedenfalls gespannt darauf.

  • So alt ist Hamelin nun ja wieder nicht, wollen wir hoffen, dass er weiterhin ein breites Repertoire beackern kann.
    Ich glaube in vielen Fällen nicht daran, dass man einfach so eine Nische wählt. Im Falle von Hamelin, die sich hochvirtuoser, oder Aimard und anderer, die sich größtenteils zeitgenössischer Musik verschrieben haben, ist es so, dass ungeachtet der exorbitanten technischen Fähigkeiten dieser Musiker die Stücke sehr zeitaufwendig in der Vorbereitung und Einstudierung sind. Sie sind einfach saumäßig schwer. Ich meine gelesen zu haben, dass Hamelin, als er gefragt wurde, ob er dieses Riesenwerk von Sorabji (oder so was derart) irgendwann einspielen würde, abgelehnt hat, weil er meinte, dass das zu viel Zeit und Mühe kosten würde (vermutlich in Relation zum musikalischen Wert).


    Ein Mozart-Konzert kann jeder Konservatoriumsstudent vom Blatt spielen, das ist dann zwar noch keine gute Interpretation, aber daran kann man ja noch arbeiten.


    Bei älterer Musik gibt es ggf. technische Schwierigkeiten mit den alten Instrumenten oder mit der Rekonstruktion von Spielweisen, dem Verständnis von Notationen, insbesondere kommt aber nicht selten musikwissenschaftliche Arbeit hinzu. Die Sachen müssen in Archiven aufgesucht, Aufführungsmaterialien oft von Hand vorbereitet werden usw.
    Von HIP-Gegnern wurde ja nicht selten behauptet, dass zweitklassige Musiker sich hier ein Biotop gesucht hätten. Das scheint mir eine ziemlich böswillige Unterstellung, die sich anhand der entsprechenden Biographien meist widerlegen lässt.


    Es gibt ja noch mehr Alternativen zu einer typischen Solistenkarriere: Liedbegleiter, Klavierduo, Kammermusik z.B.


    Ich halte es für unwahrscheinlich, dass Musiker solche Alternativen ohne reifliche Überlegung und entsprechende Neigung einschlagen.


    Je nach Größe der Nische muss ein Interpret darüberhinaus den Mainstream ebenfalls bedienen. Heute kann von Plattenaufnahmen eh kaum einer leben, schon gar nicht in einer Nische. Ich glaube kaum, dass Konzertprogramme eines Pianisten, die hauptsächlich Clementi, Hummel und Field anbieten erfolgreich sein werden. Vielleicht kann man sich mit entsprechenden Platten einen gewissen Namen bei Experten machen. Aber im Recital wird man neben den genannten eben auch Mozart, Beethoven, Chopin spielen müssen. Der Nischenbediener muss also vermutlich auch ein breiteres Repertoire einstudieren, nämlich die Standardwerke ohnehin und die Nische zusätzlich.


    viele Grüße


    JR

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • Ich glaube, dass Komponisten, die auch andere moderne Musik dirigieren (als die eigene), in diesem Thread etwas deplaziert sind. Kalitzke würde ich wie Furrer oder Pintscher als dirigierende Komponisten ansehen. Ob die auch gerne Beethoven dirigieren würden, weiß ich nicht.

  • Ich glaube, dass Komponisten, die auch andere moderne Musik dirigieren (als die eigene), in diesem Thread etwas deplaziert sind. Kalitzke würde ich wie Furrer oder Pintscher als dirigierende Komponisten ansehen. Ob die auch gerne Beethoven dirigieren würden, weiß ich nicht.


    Okay, dann habe ich Kalitzke als Beispiel für einen Spezialisten der zeitgenössischen Musik falsch gewählt. Dann nehmen wir statt dessen Susanna Mälkki, die Leiterin des Ensemble intercontemporain. Wenn man sich nach CDs von ihr umsieht, findet man ausschließlich Zeitgenössisches bzw. klassische Moderne. Die beiden Konzerterlebnisse, die ich mit ihr hatte (einmal mit dem Ensemble intercontemporain, einmal mit den Berliner Philharmonikern), waren ebenfalls dem 20. Jahrhundert gewidmet (Messiaen, Webern). Ihr Beispiel zeigt aber auch, dass man allein mit diesem Repertoire letztlich nicht "weiterkommt". Ausweislich der englischsprachigen Wikipedia-Seite
    http://en.wikipedia.org/wiki/Susanna_M%C3%A4lkki
    war sie am 21. August 2010 Gastdirigentin des Boston Symphony Orchestra. Ihr Programm: das Mendelssohn-Konzert für Violine, Klavier und Orchester sowie Beethovens 4. Sinfonie.

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  • Eigenartigerweise denke ich bei "Nischenrepertoire" eher nicht an Zeitgenössisches.
    Ich assoziierte damit die sogenannten "Kleinmeister" des 18. und 19 Jahrhunderts, die aber doch schon eine gewisse "Berühmtheit" erlangt haben, also dem breiteren Klassikpublikum zumindest dem Namen nach bekannt sind. Abel, Benda, Graun, Rosetti, Dussek, Pleyel, Ries, Hummel, Spohr. Wer sich beispielsweise vorzugsweis den Klaviersonaten von Carl Maria von Weber und ähnlichen Programmen zuwendet., der wird vermutlich niemals weltberühmt.
    Ein Dirigent, der viele Jahre Nischenrepertoire für Koch/Schwann eingespielt hat, war beispielsweise Müller-Brühl. Als Naxos ihn für dieses Segment engagieren wollte, lehnte er ab. Er habe sein Leben lang mehr oder weniger undedankt zweitklassiges Repertoire dirigiert - und er werde von nun an nur noch Werke von Dirigenten erster Wahl dirigieren: Bach, Haydn, Mozart, Beethoven....
    Matthias Bamert war - zumindest für mich - durch seine Serie mit Musik von Mozart Zeitgenossen - eine Art von Berühmtheit. Nun ist die Serie offenbar eingestellt und Bamert hat sich - wie man so schön sagt - "anderen Aufgaben zugewandt"....
    Irgendwo habe ich dann noch gelesen was er jetzt aufnimmt - aber ich habe es inzwischen wieder Vergessen - der selektive Ruhm ist inzwischen scheinbar verblasst....


    mit freundlichen Grüßen aus Wien
    Alfred Schmidt

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Bamert hat bei Chandos während und nach der "Contemporaries of Mozart"-Reihe anderes Repertoire eingespielt, allerdings auch alles eher Nischen aus Spätromantik und Moderne: Parry, Korngold, Dohnanyi, Dopper, Hol, Frank Martin, Stokowskis Bach-Bearbeitungen (u.a.), Roberto Gerhard und bei Wergo auch einiges an zeitgenössischer Musik.


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    Man findet gebraucht noch recht günstig eine CD des BBC-Magazins mit der "Jenaer Sinfonie" von F. Witt, die eigentlich auch in die Contemporaries-Serie gepasst hätte (gekoppelt mit Mozarts Nr. 34, die "richtige" Kopplung wäre allerdings Haydns Nr. 97)

    Struck by the sounds before the sun,
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