Emotion und Subjektivität erst ab Beethoven?!

  • Liebe Taminoianerinnen und Taminoianer,


    im Thread über Beethovens 5. Sinfonie c-moll hub eine off-topic-Diskussion an über die Frage, ob "die Musik" (was immer das sein mag) erst ab Beethoven, inbes. ab dessen 5. Sinfonie, so richtig emotional und subjektiv wurde, wohingegen sie vorher eher objektiv-sachlich geprägt gewesen sei. Die aus meiner Sicht wichtigsten Zitate:


    Novecento:

    Zitat

    Desweiteren markiert gerade Beethoven und grade auch seine 5. Symphonie einen entscheidenden Schritt der Musik in Richtung Emotionalität und Subjektivität, durch die sich die Kompositionen im Laufe der Romantik mehr und mehr in ihrem Ausdruck von klaren, mathematischen Strukturen, wie sie im Barock noch offenkundig wahrnehmbar war. Natürlich mag man einwenden, dass immer noch dieselben musiktheoretischen Grundlagen modifiziert angewendet werden, aber ihr Stellenwert lässt eben zugunsten des Ausdrucks nach.


    Wolfram:

    Zitat

    Ich meine nicht, dass die Musik erst ab Beethovens 5. einen entscheidenden Schritt in Richtung Emotionalität und Subjektivität gegangen ist. Ich könnte jetzt die hochemotionalen Violinsonaten eines Corelli oder Biber nennen, die Affektenlehre des Barock (hochemotional!), die venezianische Oper der Barock, die Madrigale von Gesualdo usw. usw.


    Nicht die Musik ist es, die mit Beethovens 5. emotionaler und/oder subjektiver geworden ist. Die Emotionalität und Subjektivität von Beethovens 5. steht uns lediglich näher als die Emotionalität und Subjektivität des es-moll-Präludiums im WK I (J. S. Bach). WIR sind es, die auf diese Musik emotionaler reagieren (und erst recht auf Bruckner, Wagner, Mahler, ... ), weil sie uns näher steht. Das ist aber eine Aussage über uns und unsere Antennen, es ist keine Aussage über die emotionalen Qualitäten der Musik.


    Novecento:

    Zitat

    Hallo Wolfram,
    das ist sicher richtig. Dieses veränderte Bewusstsein von Emotion ist freilich wohl auch der Prägung durch die (Musik-)geschichte geschuldet.
    Dennoch bin ich aber der Ansicht, dass die Musik bis hin zur Frühklassik mehr aus einem Regelkanon heraus entstand und auch für uns verständlich ist, wohingegen die Werke der Romantik sich viel mehr (flüchtigen) Empfindungen hingeben.


    Johannes Roehl:

    Zitat

    Weder ist ein Bruckner-Satz unbedingt komplexer als einer von Beethoven oder als ein Bachscher Eingangschor o.ä. noch "emotionaler". Bei Musik vor Monteverdi wird es für den modernen Hörer manchmal etwas schwer, die Emotionen zu finden. Zum Teil ist das aber sicher einfach nur Gewöhnung.


    Mit der angeblichen Strenge des Barock und der "Freiheit" der Romantik habe ich noch mehr Schwierigkeiten. Der Barock begann als eine Revolution gegen strenge, regelgebundene Polyphonie und auch wenn die nicht verschwunden ist, so gab es durchweg "freie" Formen wie "Fantasie" oder "Toccata". Beethovens 5. (besonders der Kopfsatz) ist sicher außerordentlich "streng" im Sinne von konsequent durchgearbeitet, der Unterschied zu einer Fuge oder Chaconne liegt sicher nicht darin. Es gibt vermutlich in fast allen Stilen zu fast allen Zeiten eine Balance zwischen "frei" und "streng". Wenn es nur um simples Regelbefolgen ginge, wäre Komponieren kein kreativer Prozess. Und der Unterschied zwischen improvisatorischem, freien Fantasieren und niedergeschriebener Komposition ist ab etwa Beethoven ja viel deutlicher als früher.


    Was meint Ihr? Wann ging es so richtig los mit Emotionaliät in der Musik? Oder war von Anfang an (sagen wir, ab der Gregorianik) alles da?

  • Nur nochmal vorab, es werden in den Zitaten mindestens drei Gegensatzpaare angesprochen, oft "überkreuz" oder so als ob es sich um zwei "Blöcke", die etwa den Spalten unten entsprechen, handele:


    emotional - ? distanziert? neutral? nüchtern?
    subjektiv - objektiv
    frei - streng, regelgebunden


    was mit subjektiv-objektiv hier gemeint ist, verstehe ich nicht genau. (Subjektiv ist, wenn mir Vanilleeis besser schmeckt als Zitroneneins, objektiv, dass Speiseis aus Sahne, Zucker, Aromastoff usw. besteht). Aber die beiden anderen Gegensätze sind erstmal unabhängig voneinander.


    viele Grüße


    JR

    Struck by the sounds before the sun,
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    The morning breeze like a bugle blew
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    (Bob Dylan)

  • Zitat

    Nur nochmal vorab, es werden in den Zitaten mindestens drei Gegensatzpaare angesprochen, oft "überkreuz" oder so als ob es sich um zwei "Blöcke", die etwa den Spalten unten entsprechen, handele:


    emotional - ? distanziert? neutral? nüchtern?
    subjektiv - objektiv
    frei - streng, regelgebunden


    Ja, wichtig ist die Begriffe nicht zu durchmischen, wie hängen sie zusammen?
    Es trifft sicher zu, daß viele Hörer den Eindruck haben, Beethovens Musik hebe sich von vorangegangener durch stärkere "Subjektivität" und "Emotionalität" ab. Woran liegt das? Sicher gibt es auch vorher viele Beispiele von höchster Emotion in der Musik. Der Unterschied ist, daß die musikalische Sprache Beethovens direkter ist; musikalischer Ausdruck wird deutlich weniger stilisiert als noch im Barock; die Musik zeichnet recht ungebremst emotionale Ausbrüche nach und lässt den Hörer diese unmittelbar mit durchleben. Dadurch entsteht dieser Eindruck im Hörer - zum Einen: da ist nicht mehr allein stilisierte Kunst, sondern die Musik nimmt sozusagen selbst die Gestalt emotionaler Ausbrüche an - und zum anderen entsteht durch ersteres bedingt der Eindruck: hier spricht durch die Musik ein "Subjekt" zu mir und teilt mir etwas mit. Das dritte Gegensatzpaar

    Zitat


    frei - streng, regelgebunden

    betrifft dann die kompositorischen Mittel, mit denen dieser Eindruck hervorgerufen wird: Ausdruck wird weniger stark in vorgegebene Form eingebettet, als vielmehr Form jederzeit zugunsten des Ausdrucks durchbrochen werden kann. Diese Entwicklung schreitet im 19. Jhdt. weiter voran, aber mit Beethoven nahm sie sicher ihren Ausgang.


    Nächtliche Grüße aus Freiburg
    Byron

    non confundar in aeternum


  • Ja, wichtig ist die Begriffe nicht zu durchmischen, wie hängen sie zusammen?
    Es trifft sicher zu, daß viele Hörer den Eindruck haben, Beethovens Musik hebe sich von vorangegangener durch stärkere "Subjektivität" und "Emotionalität" ab. Woran liegt das? Sicher gibt es auch vorher viele Beispiele von höchster Emotion in der Musik. Der Unterschied ist, daß die musikalische Sprache Beethovens direkter ist; musikalischer Ausdruck wird deutlich weniger stilisiert als noch im Barock; die Musik zeichnet recht ungebremst emotionale Ausbrüche nach und lässt den Hörer diese unmittelbar mit durchleben.


    Nun liegen zwischen (Spät-)Barock und Beethoven ja fast zwei Generationen von Musikern. Aber noch mehr finde ich diese Opposition problematisch, weil eben "Stilisierung" v.s "ungebremste Emotionalität" als Gegensatz immer wieder auftaucht. Etwa bei der Auseinandersetzung eines wesentlichen Barockbegründers wie Monteverdi mit den Vertretern der Renaissance-Polyphonie. Es ist m.E. kein Spezifikum des Übergangs Barock-Klassik oder Klassik-Romantik...


    Zitat


    Dadurch entsteht dieser Eindruck im Hörer - zum Einen: da ist nicht mehr allein stilisierte Kunst, sondern die Musik nimmt sozusagen selbst die Gestalt emotionaler Ausbrüche an - und zum anderen entsteht durch ersteres bedingt der Eindruck: hier spricht durch die Musik ein "Subjekt" zu mir und teilt mir etwas mit. Das dritte Gegensatzpaar

    betrifft dann die kompositorischen Mittel, mit denen dieser Eindruck hervorgerufen wird: Ausdruck wird weniger stark in vorgegebene Form eingebettet, als vielmehr Form jederzeit zugunsten des Ausdrucks durchbrochen werden kann. Diese Entwicklung schreitet im 19. Jhdt. weiter voran, aber mit Beethoven nahm sie sicher ihren Ausgang.


    Inwiefern wird in Beethovens 5. Sinf. eine Form zugunstens des Ausdrucks durchbrochen? Die wesentliche "formale" Neuerung, ist wohl der Übergang Scherzo-Finale. Aber wie die gesamte Sinfonie zeigt, führt dies zu einem viel engeren musikalischen (und emotionalen) Zusammenhang des Werks als er bei Mozart oder Haydn gewöhnlich bestanden hat.
    Wenn man Form nicht wie Gußform versteht, was Mozart und besonders Haydn schon überhaupt nicht gerecht würde, sondern als so etwas wie den schlüssigen Zusammenhalt, der die Einheit eines Werkes stiftet, dann ist Beethoven eben oft einer der formstrengsten Komponisten überhaupt. (Selbst wenn man etwa im Kopfsatz der 5. "Form" als Lehrbuchsonatenform, wie sie erst später kodifiziert wurde, versteht, ist der Satz ein Musterbeispiel; sofern man die Coda als gleichberechtigten Teil annimmt, ist alles superregulär.)


    viele Grüße


    JR

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  • @ Johannes

    Aber noch mehr finde ich diese Opposition problematisch, weil eben "Stilisierung" v.s "ungebremste Emotionalität" als Gegensatz immer wieder auftaucht. Etwa bei der Auseinandersetzung eines wesentlichen Barockbegründers wie Monteverdi mit den Vertretern der Renaissance-Polyphonie. Es ist m.E. kein Spezifikum des Übergangs Barock-Klassik oder Klassik-Romantik...


    Das finde ich kein Gegenargument: die Entwicklung zu mehr Expression ging über Jahrhunderte bis sie sich Anfang des 20. Jahrhunderts umkehrte. Zu bestimmten Wendepunkten wie bei Beethoven aber auch Monteverdi tritt die Entwicklung stoßweise in Erscheinung.


    Ansonsten sind Deine Einwände aber verdammt gut - da muß ich erstmal drüber nachdenken.


    Gruß aus Freiburg
    Byron

    non confundar in aeternum

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  • @ Johannes


    Das finde ich kein Gegenargument: die Entwicklung zu mehr Expression ging über Jahrhunderte bis sie sich Anfang des 20. Jahrhunderts umkehrte. Zu bestimmten Wendepunkten wie bei Beethoven aber auch Monteverdi tritt die Entwicklung stoßweise in Erscheinung.


    Ich weiß nicht. Natürlich ändern sich die expressiven Mittel und Konventionen, aber ich glaube kaum, dass man so eine geradlinige Entwicklung feststellen kann.
    Ebenso könnte man sagen, dass das Pendel mal in diese, mal in die andere Richtung ausschlägt. (Und am Beginn des 20. Jhds. wird es ja nur in einer Strömung umgekehrt, im "Expressionismus" dagegen auf die Spitze getrieben.)
    Man kann das sicher auch durch tendenziöse Auswahl von Komponisten oder Musikstücken schief erscheinen lassen. Was wir heute "emotional" finden, ist eben auch durch die Musik besonders zwischen Beethoven und Mahler viel stärker geprägt als durch vorhergehende Epochen. Aber würden tatsächlich die meisten Hörer heute Monteverdi oder Bach weniger emotional finden als Haydn oder Mozart? Brahms dürfte kaum als "expressiver" als Schumann wahrgenommen werden, Saint Saens sicher als weniger emotional als Berlioz usw.


    Jedenfalls ist unabhängig davon sicher sinnvoll, "frei-streng" unabhängig davon zu behandeln. Es ist zwar sicher richtig, dass emotionaler Ausdruck oft als Argument dafür genommen wird, Regeln lockerer zu handhaben oder abzuwandeln. (So ähnlich, vermutlich etwas differenzierter, argumentierte meiner Erinnerung nach Monteverdi: der Einsatz expressiver Dissonanzen darf sich nicht nur nach theoretischen Regeln richten, sondern eben auch nach der Affektdarstellung.) Aber einige Werke z.B. von Beethoven (und sicher auch andere) wären ein Beleg für seinerzeit unerhörten Ausdruck in letztlich sehr strengen Formen. Und ebenso gibt es natürlich freie, aber emotional eher neutrale Musik usw.


    viele Grüße


    JR

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  • Natürlich ändern sich die expressiven Mittel und Konventionen, aber ich glaube kaum, dass man so eine geradlinige Entwicklung feststellen kann.
    Ebenso könnte man sagen, dass das Pendel mal in diese, mal in die andere Richtung ausschlägt.


    Obwohl eine solche Entwicklung nie geradlinig verläuft, sondern in Wellen, meine ich doch, daß über mehrere Jahrhunderte eine große Linie erkennbar bleibt.


    Zitat

    Und am Beginn des 20. Jhds. wird es ja nur in einer Strömung umgekehrt, im "Expressionismus" dagegen auf die Spitze getrieben.


    Da möchte ich widersprechen: Auch wenn sich die Musik da eine Zeitlang in zwei Hauptlinien teilt, gelangen beide in die gleiche Richtung. Auf der einen Seite ist der Neoklassizismus Strawinskys (und anderen natürlich) eine bewußte Abwendung vom Primat der Expression; auf der anderen Seite geht Schönberg den Weg nach Tristan weiter bis in die Übersteigerung des Ausdrucks und in die freie Atonalität. Damit beginnt für ihn die Suche nach neuer formaler Gestaltung jenseits von Expression, und diese Suche führt zur Zwölftontechnik und zur Benutzung barocker Formmodelle (Serenade op. 24, Klaviersuite op. 25, Septett-Suite op. 29). Die neue Musik nach 1950 wendet sich mit dem Serialismus zunächst völlig von jedwedem Ausdruck ab. (Auch wenn diese Entwicklung natürlich nicht von allen mitvollzogen wurde). Die strenge Form wird hier zu einem Hilfsmittel um nicht in gewohnte Klischees zu verfallen und dann nach und nach neue Ausdrucksmöglichkeiten jenseits von persönlicher Emotion zu finden.


    Aber zurück zu Beethoven: Tatsächlich macht seine unglaubliche gestalterische Durchdringung aller Elemente der Komposition seine Größe aus. Ich habe heute darüber nachgedacht und nochmal einiges von Beethoven daraufhin angehört. Ich zitiere mich selbst:

    Zitat

    Ausdruck wird weniger stark in vorgegebene Form eingebettet, als vielmehr Form jederzeit zugunsten des Ausdrucks durchbrochen werden kann.

    Vielleicht hätte ich nicht "durchbrochen" sagen sollen und man beachte das "weniger stark" und das "kann". Beethoven durchbricht die Formen nicht unbedingt, sondern er beherrscht sie. Natürlich ist der erste Satz der Fünften in "Sonatenhauptsatzform". Die springt aber niemandem ins Gesicht, wie dies bei Haydn geschieht. Bei Haydn ist die Form jederzeit erkennbar und überschaubar. Haydn setzt Form und Konventionen ständig spielerisch ein, häufig macht das spielerische Entäuschen einer Erwartung den besonderen Witz aus. Die Grundform des später Sonatenhauptsatz genannten Gebildes ist bei ihm doch noch: man komponiert einen Themenblock, wiederholt ihn einmal, dann variiert man ein bißchen und schweift kurz etwas ab, um dann den ersten Block nochmals zu wiederholen.


    Beethoven erfüllt zwar bekannte Formmodelle, stellt sie aber völlig in den Dienst des Ausdrucks. Bei Haydn ist eine Überleitung eine Frage der Form, bei Beethoven wird daraus je nach Bedarf eine Steigerung, die zu einem gewaltigen Durchbruch führt. Um auf den ersten Satz der Fünften zurückzukommen: die Sonatenhauptsatzform ist da, wird aber völlig von der motivisch-thematischen Arbeit überwuchert. Durchführung und Coda (also in der Ausgestaltung sehr freie Formteile) sind bedeutend ausgedehnt und haben die Exposition (die also in ihrer direkten Wiederholung und nochmaligen Wiederholung als Reprise nach kurzer Durchführung, bei einer Haydn-Sinfonie den Hauptteil der Musik ausmachte) in ihrer Gewichtung weit zurückgedrängt. Der ganz Satz erscheint, ganz anders als bei Haydn, als eine große Entwicklung, die nicht zum Ausgangspunkt zurückkehrt. Ganz anders wieder bei der Pastorale: hier erscheint die ständige Variation, als ein großer Fluss, ein Durchbruch zu neuem findet nicht statt: Natur eben. Dramatik kommt erst durch das Gewitter ins Spiel, aber am Ende singt sich die Musik wieder hymnisch aus, der ewige Kreislauf der Natur. Das ist es: Beethoven gewichtet die Formteile so wie er's braucht, oder weist ihnen jeweils die Funktion zu, die sie in den Dienst der Dramaturgie stellt.
    Wenn er den Satz als Entwicklung erscheinen lassen will, bringt er eine variierte Reprise und eine ausgedehnte Coda. Diese Dienstbarmachung des Gegebenen macht wohl zum Teil Beethovens Stärke aus.


    Gruß aus Freiburg
    Byron

    non confundar in aeternum

  • Geht es im letzten Beitrag um freiere kontra strengere Form?
    Um 1770 ist die Form eher freier, das strengere Modell verfestigt sich so in den 1780ern und ab Beethoven wird es zu einem stärker entwicklungsbetonten Modell umgewandelt, das dann bis Mahler sich immer mehr durchsetzt.
    Vor 1770 ist die Form noch freier, fast jede romantische Sinfonie ist formstrenger als eine normale vorklassische Sinfonie um 1750.
    Und nach 1920 ist die Form in der Regel sehr frei.
    Beethovens Sinfonien sind also vergleichsweise formstreng.
    Ich werde vielleicht einmal eine Reihe von Sinfonien um 1750 und solche um 1930 nennen, damit man besser vergleichen kann.

  • Das Thema ist ja furchtbar weit gefasst (meines Erachtens so weit, dass man keine brauchbare Antwort wird finden können).
    So wie die Sinfonie eine Entwickung bezüglich Verbindlichkeit von Formmodellen und unterschiedlichen Ausprägungen derselben hat, so ist ja auch die Fuge nicht = Bach. Bachs Fugen sind strenger als die von Böhm/Fischer etc - also in der Generation zuvor.
    Als formell freieren Gegenpol zu den Sinfonien gibt es die sinfonischen Dichtungen. Gerade da scheint es mir mit der Beurteilung von Formstrenge schwieriger zu sein. Gibt es da erkennbare Tendenzen von Pugnani (Werther) bis Strauss und weiter? (Den Werther habe ich zwar schon auf CD aber noch nicht gehört.)
    Außerdem - wie soll man Formstrenge mit Strenge in anderer Hinsicht vergleichen? Barocke Musik für Streicher ist ja gar nicht formstreng, da folgen kürzere Abschnitte aufeinander, die manchmal imitatorisch gestaltet sind, manchmal nicht, "Form" im engeren Sinne gibt es da nicht. Inwiefern ist aber die Musik von Castello, Uccellini, Lengrenzi etc. streng?
    ?(
    Die Frage nach frei und streng wird man global gar nicht sinnvoll behandeln können.


  • Die Frage nach frei und streng wird man global gar nicht sinnvoll behandeln können.


    Das sehe ich ähnlich. Man kann allerdings schauen, was seinerzeit als überraschende oder zu kritisierende Freiheit wahrgenommen wurde. Dazu kommt überdies, dass es "Strenge" auf unterschiedlichen Ebenen gibt. Die bisher genannten Beispiele betrafen weitgehend die "Großform" (wie Sonatenhauptsatz). Monteverdi contra Artusi betrifft aber die Satztechnik, d.h. welche Dissonanzen und Auflösung sind erlaubt, notwendig usw., also eine "tiefere" oder kleinteiligere Ebene.
    Ich habe zu allem Überfluss noch einen eher abstrakten Begriff von Strenge, nämlich der einem einzelnen Satz eigene Grad von konsequenter Organisation hereingebracht, der sicher noch schlechter vergleichbar ist ;)
    Wenn Beethoven über die fugierten Sätze in op.106 und 133 schreibt "con alcune licenze" bzw. "tantot libre, tantot recherchee" vermutet man, dass er sich gegen der Vorwurf wehren wollte, aus Unfähigkeit gegen schulmäßige Kontrapunktregeln verstoßen zu haben. Aber verglichen mit einer "Fantasie" sind die Sätze natürlich sehr "streng", wenngleich in der Großform vielleicht lockerer als viele Sonatensätze. Die Großform einer Fuge ist ja auch bei Bach nicht festgelegt: wieviele Themen, Durchführungen, Zwischenspiele usw.
    Allerdings war der ursprüngliche Anlaß des threads wohl noch mehr "Subjektivität und Emotion" und ich meinte von Anfang an, dass man das nicht immer sofort mit "frei-streng" zusammenbringen sollte. Wobei "emotional" nicht unbedingt klarer ist als "streng" :D


    viele Grüße


    JR

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  • Zumindest, was Emotion betrifft, vermissen ich einen Namen (vor Beethoven), der nur kurz von Johannes genannt wurde: Mozart. Seine vielen wunderbaren langsamen Sätze in den Klavierkonzerten und -sonaten, seine Opern (z.B. Zauberflöte, Don Giovanni), sein Requiem, und und und.. erscheinen mir höchst emotional.
    Und, gibt es etwas Emotionaleres als das "Halleluja" aus dem "Messias" von Georg Friedrich Händel?


    Liebe Grüße


    Willi :)

    1. "Das Notwendigste, das Härteste und die Hauptsache in der Musik ist das Tempo". (Wolfgang Amadeus Mozart).
    2. "Es gibt nur ein Tempo, und das ist das richtige". (Wilhelm Furtwängler).

  • Das Thema ist ja furchtbar weit gefasst (meines Erachtens so weit, dass man keine brauchbare Antwort wird finden können).
    So wie die Sinfonie eine Entwickung bezüglich Verbindlichkeit von Formmodellen und unterschiedlichen Ausprägungen derselben hat, so ist ja auch die Fuge nicht = Bach. Bachs Fugen sind strenger als die von Böhm/Fischer etc - also in der Generation zuvor.
    Als formell freieren Gegenpol zu den Sinfonien gibt es die sinfonischen Dichtungen. Gerade da scheint es mir mit der Beurteilung von Formstrenge schwieriger zu sein. Gibt es da erkennbare Tendenzen von Pugnani (Werther) bis Strauss und weiter? (Den Werther habe ich zwar schon auf CD aber noch nicht gehört.)
    Außerdem - wie soll man Formstrenge mit Strenge in anderer Hinsicht vergleichen? Barocke Musik für Streicher ist ja gar nicht formstreng, da folgen kürzere Abschnitte aufeinander, die manchmal imitatorisch gestaltet sind, manchmal nicht, "Form" im engeren Sinne gibt es da nicht. Inwiefern ist aber die Musik von Castello, Uccellini, Lengrenzi etc. streng?
    ?(
    Die Frage nach frei und streng wird man global gar nicht sinnvoll behandeln können.

    Thema verfehlt ?( Es ist nicht "furchtbar weit gefasst", sondern der Thread-Titel heißt "Emotion und Subjektivität erst ab Beethoven?!"

    Zumindest, was Emotion betrifft, vermissen ich einen Namen (vor Beethoven), der nur kurz von Johannes genannt wurde: Mozart. Seine vielen wunderbaren langsamen Sätze in den Klavierkonzerten und -sonaten, seine Opern (z.B. Zauberflöte, Don Giovanni), sein Requiem, und und und.. erscheinen mir höchst emotional.

    Richtig! Die Formulierung "...erst ab Beethoven" ist sicher zu eng gefasst. Aber von ganz vielen Hörern wird doch wohl bei Beethoven ein deutlicher Sprung wahrgenommen, das war der Grund, weshalb Wolfram diesen Thread eröffnet hat. Warum empfinden so viele Menschen, daß in Beethovens Musik plötzlich so viel mehr ein Subjekt zu sprechen scheint? Emotionalität gab es sicher vorher, deshalb habe ich ja in meinen Beiträgen deutlich gemacht, daß es eher darum geht ob mit Beethoven eine Entwicklung zu "Emotion und Subjektivität" einen neuen Schub bekommen hat. Wenn viele das jedenfalls so wahrnehmen muß man sich fragen, wodurch dieser Eindruck hervorgerufen wird. Und da war mein Ansatz, zu sagen, in Beethovens Musik wird der Ausdruck von Emotion viel unmittelbarer und weniger stilisiert, als das vorher der Fall war. Und Beethoven schafft das, (das war mir durch die Ausführungen von J.R. klarer geworden) nicht indem er sich der Form entledigt, sondern indem er ihre Möglichkeiten je nach Bedarf nützt; die Formmodelle erfüllt er zwar, aber durch neue Gewichtung von Durchführung und Coda und durch seine motivisch-thematische Arbeit, entsteht beim Hören eher der Eindruck einer fortlaufenden Entwicklung. Durch diese Gestaltungsmöglichkeiten schuf Beethoven jede seiner Sinfonien (sagen wir ab der dritten) mit sehr individuellem Charakter. Bei Mozart oder Haydn kann man das, mit Ausnahme weniger Werke, wohl kaum behaupten. So entsteht für viele Hörer dieser Eindruck, Beethovens Musik sei "subjektiver" (weil individueller) und "emotionaler" (weil der Ausdruck die Form überwuchert).


    Gruß aus Freiburg
    Byron

    non confundar in aeternum

  • Emotionalität gab es sicher vorher, deshalb habe ich ja in meinen Beiträgen deutlich gemacht, daß es eher darum geht ob mit Beethoven eine Entwicklung zu "Emotion und Subjektivität" einen neuen Schub bekommen hat. Wenn viele das jedenfalls so wahrnehmen muß man sich fragen, wodurch dieser Eindruck hervorgerufen wird. Und da war mein Ansatz, zu sagen, in Beethovens Musik wird der Ausdruck von Emotion viel unmittelbarer und weniger stilisiert, als das vorher der Fall war.


    OK - mir ist allerdings noch unklar, wieso Beethoven weniger stilisiert ist als Dowland.
    Nun schwenkst Du aber vom Ausdruck zur Form:

    Und Beethoven schafft das, (das war mir durch die Ausführungen von J.R. klarer geworden) nicht indem er sich der Form entledigt, sondern indem er ihre Möglichkeiten je nach Bedarf nützt; die Formmodelle erfüllt er zwar, aber durch neue Gewichtung von Durchführung und Coda und durch seine motivisch-thematische Arbeit, entsteht beim Hören eher der Eindruck einer fortlaufenden Entwicklung. Durch diese Gestaltungsmöglichkeiten schuf Beethoven jede seiner Sinfonien (sagen wir ab der dritten) mit sehr individuellem Charakter. Bei Mozart oder Haydn kann man das, mit Ausnahme weniger Werke, wohl kaum behaupten. So entsteht für viele Hörer dieser Eindruck, Beethovens Musik sei "subjektiver" (weil individueller) und "emotionaler" (weil der Ausdruck die Form überwuchert).


    Ich glaube nicht, dass es die formellen Aspekte sind, die dem Hörer Beethoven emotionaler erscheinen lassen. Ebenso emotional wird die eine oder andere sinfonische Dichtung empfunden werden, die sich nicht dadurch auszeichnet, dass strenge Formkonzepte individuell gedehnt werden.


    Bleibt der Eindruck einer fortlaufenden Entwicklung als möglicher Auslöser für die Wahrnehmung des Klassikfreundes, dass es nun mit der subjektiven Emotion losginge. Darüber muss ich noch nachdenken.
    :hello:


  • Na ja, der Zusammenhang zwischen Ausdruck und Form ist der: wenn Beethoven seine Sinfonien individueller (subjektiver) gestalten will und gleichzeitig den Ausdruck unmittelbarer in die Musik bringen will, muß er ja von vorgegebenen Wegen abweichen. In einer Haydn-Sinfonie geht doch immer brav alles Abschnitt für Abschnitt, Haydn macht eine Stärke daraus, und manchmal macht er sich einen Spaß daraus die Hörerwartung zu enttäuschen (das geht aber nur, weil er sie überhaupt so stark aufbaut). Aber eine Musik, die so sehr das Gefühl hervorruft Grenzen zu sprengen, wie Beethovens, wäre nach Haydns Strickmuster nicht möglich. (Auch bei Mozart ist das nur marginal anders). Also muß Beethoven entweder Formen durchbrechen (was er so nicht tut) oder die Form in den Dienst des Ausdrucks stellen, soweit das geht, und die Formteile anders gewichten wo es nötig wird.

    Ebenso emotional wird die eine oder andere sinfonische Dichtung empfunden werden, die sich nicht dadurch auszeichnet, dass strenge Formkonzepte individuell gedehnt werden.

    Wenn die sinfonische Dichtung sehr frei in der Form ist, wäre individueller Ausdruck ja noch leichter möglich. Interessanterweise verbergen sich in sehr vielen sinfonischen Dichtungen auch bei Liszt versteckte Sonatenhauptsatzformen, oder teilweise wird in einem großen Satz, der Formverlauf einer kompletten Sinfonie mit vier Sätzen verborgen. Diese beiden Pole zwischen Form und individueller Gestaltung hat die Musik wohl immer, und große Komponisten zeichnen sich dadurch aus, daß sie es geschafft haben innerhalb formaler Strenge, eine individuelle Gestaltung zu erreichen. Nur die Gewichtung hat sich verschoben.


    Gruß aus Freiburg
    Byron

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  • Na ja, der Zusammenhang zwischen Ausdruck und Form ist der: wenn Beethoven seine Sinfonien individueller (subjektiver) gestalten will und gleichzeitig den Ausdruck unmittelbarer in die Musik bringen will, muß er ja von vorgegebenen Wegen abweichen. In einer Haydn-Sinfonie geht doch immer brav alles Abschnitt für Abschnitt, Haydn macht eine Stärke daraus, und manchmal macht er sich einen Spaß daraus die Hörerwartung zu enttäuschen (das geht aber nur, weil er sie überhaupt so stark aufbaut). Aber eine Musik, die so sehr das Gefühl hervorruft Grenzen zu sprengen, wie Beethovens, wäre nach Haydns Strickmuster nicht möglich.


    Beim Sturm- und Drang-Haydn würde ich nicht formulieren, dass alles "brav Abschnitt für Abschnitt" geht und gerade dort habe ich auch den Eindruck, dass manche meiner Beschreibungen, die ich hier im Haydn-Projekt abgeliefert habe, etwas verkehrt sind, da auch ich vom Enttäuschen von Hörerwartungen schrieb, was aber insofern nicht richtig ist, als damals die Form noch nicht so fix war wie dann bei Beethoven. Die Form ist doch beim 70er-Jahre-Haydn sehr flexibel. Und in den 1780ern liefert CPE Bach noch Sinfonien, die nicht dem hochklassischen Formideal entsprechen, die aber auch durch eine Emotionalität gekennzeichnet sind, die quasi alles niederreißt.


    Warum erscheint nun dem "normalen Klassikhörer" Beethovens Sinfonik emotionaler als die von CPE Bach? Ist es nicht doch nur Gewöhnung?


    Andererseit gebe ich gerne zu, dass jeder Epoche eine andere Art von Empfindungs-Erweckung zueigen ist. Wenn ich unglücklich verliebt bin, spiele ich keine romantische Klaviermusik, die ertrage ich dann nämlich nicht. Diese Art der Sentimentalität ist eine andere als die des Barock und greift mich offenbar (zumindest beim spielen) unmittelbarer an. Dafür ist die Moderne in der Lage, Emotionalität im Zusammenhang mit Grauen und Katastrophe auszudrücken, wie sonst keine Epoche, da wirkt dann eine romantische Katastrophe lächerlich harmlos daneben. Und die Gefühle, die die Vokalpolyphonie der Renaissance erwecken kann, findet man sonst auch nirgends. Ich würde der Romantik also eher eine führende Rolle in der Sentimentalität als in der Emotionalität einräumen und "mit Beethoven geht das los" - um beim Thema zu bleiben. Viele Hörer suchen genau das in der klassischen Musik und halten dann alles andere für belanglos. Ich glaube aber, dass das mit Form gar nichts zu tun hat. Die Sentimentalität vermittelt sich binnen weniger Takte. Und wie sich der Komponist zum Formgerüst verhält, dürfte ziemlich irrelevant für den "naiven Hörer" sein, ebenso wie die Frage, ob Schönberg im Streichtrio konsequent zwölftönig ist oder nicht.

  • Zitat

    Richtig! Die Formulierung "...erst ab Beethoven" ist sicher zu eng gefasst. Aber von ganz vielen Hörern wird doch wohl bei Beethoven ein deutlicher Sprung wahrgenommen, das war der Grund, weshalb Wolfram diesen Thread eröffnet hat. Warum empfinden so viele Menschen, daß in Beethovens Musik plötzlich so viel mehr ein Subjekt zu sprechen scheint? Emotionalität gab es sicher vorher, deshalb habe ich ja in meinen Beiträgen deutlich gemacht, daß es eher darum geht ob mit Beethoven eine Entwicklung zu "Emotion und Subjektivität" einen neuen Schub bekommen hat. Wenn viele das jedenfalls so wahrnehmen muß man sich fragen, wodurch dieser Eindruck hervorgerufen wird.


    Ja. Der Eindruck vieler Hörer ist schon erklärungsbedürftig. Allerdings glaube ich, dass er zu einem sehr großen Teil auf Gewöhnung und vielleicht sogar unbewußte Prägung zurückgeht bzw. umgekehrt auf recht oberflächlicher Bekanntschaft mit älterer Musik beruht. Jedenfalls wenn es so stark formuliert wird wie in den ganz oben zitierten Passagen.


    Zitat


    Und da war mein Ansatz, zu sagen, in Beethovens Musik wird der Ausdruck von Emotion viel unmittelbarer und weniger stilisiert, als das vorher der Fall war. Und Beethoven schafft das, (das war mir durch die Ausführungen von J.R. klarer geworden) nicht indem er sich der Form entledigt, sondern indem er ihre Möglichkeiten je nach Bedarf nützt; die Formmodelle erfüllt er zwar, aber durch neue Gewichtung von Durchführung und Coda und durch seine motivisch-thematische Arbeit, entsteht beim Hören eher der Eindruck einer fortlaufenden Entwicklung. Durch diese Gestaltungsmöglichkeiten schuf Beethoven jede seiner Sinfonien (sagen wir ab der dritten) mit sehr individuellem Charakter. Bei Mozart oder Haydn kann man das, mit Ausnahme weniger Werke, wohl kaum behaupten. So entsteht für viele Hörer dieser Eindruck, Beethovens Musik sei "subjektiver" (weil individueller) und "emotionaler" (weil der Ausdruck die Form überwuchert).


    Jetzt kommt wieder ein neuer Aspekt hinein, nämlich der der Originalität und der Individualität des Einzelwerks. Obwohl gerade Haydns Originalität kaum zu überschätzen ist, ist wohl richtig, dass das bei Beethoven ein neues Niveau erreicht.
    (Zu Haydn verweise ich auf die teils detaillierten Diskussionen in den threads zu den einzelnen Sinfonien. Dass hier etwas brav abgearbeitet wird, ist keine gute Beschreibung.)
    Mein Punkt weiter oben war nicht zuletzt, dass die Sonatenform sich eben als so flexibel erweist, dass sie Beethovens Verfahren "aushält" (Das ist immer noch eine problematische Formulierung; ich sehe Form/Inhalt nicht als Gegensatz oder Spannung. Allgemein gesehen, ist die Form eben so flexibel, dass sowohl eine 5. Sinf. wie auch eine Pastorale möglich sind und am Einzelwerk selber hängen Form und Inhalt zu eng zusammen, um sie zu trennen.)


    Ich würde das nicht überschätzen, aber ein historisch wohl recht gut belegter Wandel im Verhältnis Musik-Emotionen findet um die Mitte des 18. Jhds. statt. Während im Barock der Künstler so etwas wie der Magier ist, der die dargestellten Affekte in den Hörern evoziert, dabei selbst aber Distanz wahren kann, schreibt CPE Bach irgendwo ausdrücklich, dass nicht rühren könne, wer selbst nicht gerühret sei. Der Interpret (und das war ja beim Solovortrag meistens noch der Komponist) muss selbst die Emotionen fühlen, die in der Musik liegen und die der Hörer erfahren soll.


    Allerdings sagt das ja über die Musik selbst nicht so viel aus. Es gibt eben auch eine entsprechende Rezeptionshaltung. Wenn die Oma bei den Caprifischern in Tränen ausbricht, heißt das schon, dass in dem Lied tiefe Emotionen eindrücklich dargestellt würden? :D


    Die historische Entwicklung sehe ich, wie gesagt, eher dialektisch. Wir können heute vielleicht nachvollziehen, dass die Empfindsamkeit/Frühklassik "natürlicher" sein wollte, als der Hochbarock. Aber kaum emotionaler, oder? (Man findet gewiß Stücke von CPE Bach, die das belegen könnten. Aber eben auch sehr viele von ihm, die uns heute keineswegs ausdrucksvoller erscheinen als viele Barockstücke.) Es liegt vielleicht aber noch mehr daran, dass unklar ist, was man mit "emotional" meint. Mozart gilt vielen als heiterer, wenig emotionaler Komponist schlechthin. Ich halte das für falsch, aber es ist nicht unerklärlich, dass viele Hörer so empfinden.


    viele Grüße


    JR

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • Mozart gilt vielen als heiterer, wenig emotionaler Komponist schlechthin. Ich halte das für falsch, aber es ist nicht unerklärlich, dass viele Hörer so empfinden.


    viele Grüße


    JR


    Hallo,


    dieser Meinung schließe ich mich voll an - und darf dabei auf meinen 2. Beitrag im Thread "Mozarts Unterhaltungsmusik" verweisen.


    Viele Grüße
    zweiterbass

    Wer die Musik sich erkiest, hat ein himmlisch Gut bekommen (gewonnen)... Eduard Mörike/Hugo Distler

  • Beim Sturm- und Drang-Haydn würde ich nicht formulieren, dass alles "brav Abschnitt für Abschnitt" geht und gerade dort habe ich auch den Eindruck, dass manche meiner Beschreibungen, die ich hier im Haydn-Projekt abgeliefert habe, etwas verkehrt sind, da auch ich vom Enttäuschen von Hörerwartungen schrieb, was aber insofern nicht richtig ist, als damals die Form noch nicht so fix war wie dann bei Beethoven.


    Ich finde daß "damals die Form noch nicht so fix war...", ist zu "formalistisch" gedacht. Dazu kommt man nämlich nur, weil man denkt: bei Haydn war die Sonatenhauptsatzform (die anderen Satzformen wie Variationensatz oder Menuett nenne ich nicht, weil sie eh so simpel sind) noch nicht formuliert und als solche benannt. Trotzdem ist sein Vorläufermodell ja höchst klar und simpel, ich habe das oben schonmal so formuliert: ich komponiere einen "Block", wiederhole ihn, schweife dann variierend kurz ab und wiederhole den Block nochmal. Das ist auch in den Sturm und Drang Sinfonien so, die ich wirklich sehr mag (wenn ich Haydn höre, tue ich das eben aus anderen Gründen als bei Beethoven), und wo man wirklich manchmal denkt: wow, jetzt geht aber die Post ab, aber ehe man sich versieht, verläuft schon wieder alles in geregelten Bahnen, wenn Beethoven überhaupt erst richtig losgelegt hätte. Was wirklich formal freier ist, ist die Großform der Sinfonie, da sind bei Haydn besonders noch bei den frühen und mittleren Sinfonien, außer der ursprünglichen Dreisätzigkeit auch mal fünf oder sechs Sätze möglich, oder die Reihenfolge ist einfach vertauscht, wie ein langsamer Variationensatz zu Beginn, gefolgt von einem Allegro. Die Satzreihenfolge und Viersätzigkeit verfestigt sich als Modell beim späten Haydn und wird von Beethoven im Wesentlichen beibehalten. Aber die Reihenfolge ändert wenig am Charakter der Musik. Im 19. Jhdt. wendet man das dann benannte und damit fixierte Formmodell der Sinfonie, und speziell der Sonatenhauptsatzform, zwar bewußt an, aber gleichzeitig geht man damit freier um als Haydn, wie ich am Beisoiel Beethoven ausgeführt habe. Die Folgerung "die Form ist bei Haydn noch nicht eindeutig definiert, deshalb ist sie freier als später, nachdem sie zum festen Model erhoben wurde" ist, meine ich, ein Fehlschluß, der an der Realität der Kompositionspraxis vorbeigeht.

    Jetzt kommt wieder ein neuer Aspekt hinein, nämlich der der Originalität und der Individualität des Einzelwerks. Obwohl gerade Haydns Originalität kaum zu überschätzen ist, ist wohl richtig, dass das bei Beethoven ein neues Niveau erreicht.

    Daß das ein neuer Aspekt wäre, habe ich nicht so gesehen, denn zum Thema gehört ja "Subjektivität". Da Musik nicht subjektiv oder objektiv sein kann, habe ich es so interpretiert, daß von Subjektivität" gesprochen wird, weil viele Hörer den Eindruck haben, als spräche durch die Musik ein Subjekt zu ihnen, das hatte ich oben ausgeführt. Also empfindet man daß das Individuum Beethoven hier etwas sagen möchte, und dieser Eindruck entsteht wahrscheinlich auch durch die individuellere Gestaltung. Auf diesem Wege habe ich diesen Begriff ins Spiel gebracht.


    Es ging in den letzten Beiträgen oft um den Begriff "emotionaler", da müssten wir mal klären, was wir damit meinen (speziell in dieser komperativen Form). Ich habe Beethovens Musik eher als unmittelbarer im Ausdruck zu beschreiben versucht, und nur gesagt, daß dadurch für manche dieser Eindruck entsteht: das ist "emotionaler". Mehrfach wurde schon angesprochen, ob dieser Eindruck nicht daher rührt, daß uns Beethovens Emotionalität näher ist. Ich meine, daß zunächst zwar die gewohnte Hörerfahrung dafür eine Rolle spielt, daß man diese Ausgangsposition aber überwinden kann, indem man neue Hörerfahrung macht. Und da habe ich doch im Laufe meines Hörerlebens die erstaunlichsten Erfahrungen gemacht, wie sehr das Gehirn lernen kann, bisher unzugängliche Musik immer mehr und deutlicher wahrzunehmen. Ich bin kein Anhänger der These man könne die Musik fremder Kulturen niemals wirklich "verstehen", wenn man nicht aus dieser Kultur kommt - und alte Musik ist für uns ja auch im Prinzip aus einer anderen Kultur stammend. Alles lässt sich durch Hörerfahrung "erarbeiten", das habe ich besonders auch bei Neuer Musik immer wieder festgestellt. Und so empfinde auch ich bei Dowland oder Purcell, bei Bach oder Mozart tiefe Emotion. Aber ganz sicher wird keine Hörerfahrung etwas daran ändern, daß ich diese Emotion viel feiner und subtiler dargestellt finde als im 19. Jhdt. (Und ob man das nun Emotion oder Sentimentalität nennt ist ein gradueller oder vielleicht einfach wertender Unterschied.) Deshalb hat es auch viel länger gedauert, bis mich diese feinere Ausdrucksweise auch angesprochen hat.


    Hier möchte ich noch einen neuen Aspekt ins Spiel bringen: Die Plakativität der Beethovenschen Sinfonien. (Klingt jetzt böse ;) - ich schwöre aber: ich liebe diese Werke). Aber ganz sicher ist Beethoven auch einer der ersten Komponisten, der sich, speziell mit seinen Sinfonien, an ein größeres Publikum wendet und sozusagen versucht massenwirksam zu sein. Da sieht man auch einen deutlichen Unterschied zwischen den Sinfonien und Konzerten auf der einen, und Kammermusik und Klaviermusik auf der anderen Seite. Letztere wendet sich eher an Kenner und gebildete Dilettanten. Nur in den Sinfonien und Konzerten verwendet Beethoven so prägnante plakative Motive und Themen. Seine Kunst ist auch hier wieder, trotzdem dem Anspruch des Kenners gerecht zu werden. Auch das ist wieder nur deutlicher bei Beethoven, das Prinzip gab es schon vorher, man denke an Händels Oratorien, oder mir fällt auch wage eine Stelle im Briefwechsel zwischen Mozart und seinem Vater ein, wo es darum geht, daß Mozart ein Klavierkonzert so macht, daß es dem Esel gefällt, aber auch noch dem Kenner etwas bietet (nur ganz wage aus dem Kopf zitiert).
    Vielleicht ist das also auch noch ein Grund für den Eindruck "mehr Emotion": in Beethovens Sinfonien tritt sie plakativer zutage und packt uns deshalb leichter?


    Gruß aus Freiburg
    Byron

    non confundar in aeternum

  • Trotzdem ist sein Vorläufermodell ja höchst klar und simpel, ich habe das oben schonmal so formuliert: ich komponiere einen "Block", wiederhole ihn, schweife dann variierend kurz ab und wiederhole den Block nochmal. Das ist auch in den Sturm und Drang Sinfonien so, die ich wirklich sehr mag


    Damit habe ich doch ziemliche Probleme. Mag sein, dass das jetzt als i-Tüpfel-Reiterei erscheint, aber ich schreibe mal, was mich an dieser Charkterisierung stört:
    1) Block suggeriert etwas in sich Geschlossenes, Homogenes eben Blockhaftes. Das trifft auf einen vor- und frühklassischen ersten Teil eines Sonatenhauptsatzes nicht zu.
    2) "kurz variierend abschweifen" - hm - es gibt da ja diverse Möglichkeiten, vom tatsächlichen Abschweifen im Sinne von: etwas ganz anderes Bringen - bis zu richtig durchführender Tätigkeit. Das Problem ist wieder Dein "Block"-Terminus, der suggeriert, dass das Abschweifen etwas ganz anderes ist, als das "im-Block-Verharren" - tatsächlich kann durchaus im ersten Teil des Sonatenhauptsatzes durchführungsartig gearbeitet werden oder der "Durchführungsteil" kann gar nicht besonders anders als der erste Teil gestaltet sein.
    3) "wiederhole den Block nochmal" ist natürlich auch zu vereinfacht, unverändert wird das ja nie wiederholt und oft auch nur sehr teilweise.


    Das "Vorgängermodell" ist eigentlich noch unklarer und nicht simpel, weil gar nicht wirklich definiert. Um 1750 muss gar kein abschweifender Teil sein, auch kein Seitensatz (den Du gar nicht angeführt hast, obwohl er für den Haydn der 1770er genauso wichtiger Modellbestandteil ist wie die Durchführung).


    Es ist schon lohnend und spannend, frühklassische Sonatenhauptsätze formell anzuschauen - und nicht nur das grobe Gerüst wiederzuerkennen. Man kann das durchaus als "Experimentieren mit der Form" bezeichnen, viel habe ich nicht analysiert, aber z.B. Monn und Haydn machen alles mögliche andere als ein "Schema-F" befolgen.


    Eine simple Großform kann man ja auch bei Beethoven und Brahms benennen (Exposition-Durchführung-Reprise-Coda) aber damit hat man noch nicht so viel erkannt.


    ... und mit den Emotionen hat das irgendwie gar nichts zu tun, oder?

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  • 1) Block suggeriert etwas in sich Geschlossenes, Homogenes eben Blockhaftes. Das trifft auf einen vor- und frühklassischen ersten Teil eines Sonatenhauptsatzes nicht zu.


    Nein, ich wollte nur einen neutraleren Begriff statt "Exposition" verwenden. Homogen muß ein Block nicht sein, geschlossen schon, aber hier natürlich nicht im Sinne struktureller Geschlossenheit, sondern als "Setzung", von der der weitere Satzverlauf den Ausgang nimmt.



    2) "kurz variierend abschweifen" - hm - es gibt da ja diverse Möglichkeiten, vom tatsächlichen Abschweifen im Sinne von: etwas ganz anderes Bringen - bis zu richtig durchführender Tätigkeit. Das Problem ist wieder Dein "Block"-Terminus, der suggeriert, dass das Abschweifen etwas ganz anderes ist, als das "im-Block-Verharren" - tatsächlich kann durchaus im ersten Teil des Sonatenhauptsatzes durchführungsartig gearbeitet werden oder der "Durchführungsteil" kann gar nicht besonders anders als der erste Teil gestaltet sein.


    Ich meine, daß Du hier nicht genau genug gelesen hast. Ich schreibe ja extra variierend abschweifen. Variation ist die Veränderung von etwas Gegebenem, ich denke Dein Einwand erübrigt sich.


    Um 1750 muss gar kein abschweifender Teil sein, auch kein Seitensatz (den Du gar nicht angeführt hast, obwohl er für den Haydn der 1770er genauso wichtiger Modellbestandteil ist wie die Durchführung).

    Den Einwand verstehe ich nun gar nicht, der Seitensatz ist doch Bestandteil der Exposition, die ich als Block bezeichnet hatte. Und die Sätze, die Du meinst, in denen gar kein abschweifender Teil ist, entsprechen einfach der alten Ouvertüren Form, (A-B-A-B, wobei A langsam und B schnell ist) wie oft in den frühen dreisätzigen Sinfonien, auch bei Mozart.


    Gruß aus Freiburg
    Byron

    non confundar in aeternum

  • ... und mit den Emotionen hat das irgendwie gar nichts zu tun, oder?

    Und welche Relation ich zwischen Form und Ausdruck sehe oder nicht sehe, habe ich doch wirklich schon mehrfach oben ausgeführt.

    non confundar in aeternum

  • . Trotzdem ist sein Vorläufermodell ja höchst klar und simpel, ich habe das oben schonmal so formuliert: ich komponiere einen "Block", wiederhole ihn, schweife dann variierend kurz ab und wiederhole den Block nochmal.


    Wenn man das so grob beschreibt, dann passt es auch auf Beethoven. ;) Um klar zu kriegen, ob und was sich verändert hat, muss man schon etwas mehr ins Detail gehen, was in den "Blöcken" passiert und dann wird die grobe Beschreibung einfach falsch. Sie zeigt z.B. nicht, wie viele "Durchführungs" oder "Coda"-Elemente viele Haydnsche Reprisen haben (es wid hier viel weniger als bei Mozart oder Schubert und sogar Beethoven ein "Block" einfach wiederholt), wie unterschiedlich die einzelnen Sinfonien sein können usw. Ich halte tatsächlich wenig davon, das hier so pauschal abzuhandeln. Da müsste man dann anhand der threads zu den Haydn-Sinfonien ins Detail gehen.


    Zitat


    Das ist auch in den Sturm und Drang Sinfonien so, die ich wirklich sehr mag (wenn ich Haydn höre, tue ich das eben aus anderen Gründen als bei Beethoven), und wo man wirklich manchmal denkt: wow, jetzt geht aber die Post ab, aber ehe man sich versieht, verläuft schon wieder alles in geregelten Bahnen, wenn Beethoven überhaupt erst richtig losgelegt hätte.


    Was Du hier ansprichst, ist lediglich, dass Haydns Sinfonien fast immer kürzer und knapper sind als die Beethovens. Es passiert allerdings eben auch oft sehr viel auf sehr engem Raum. Gerade die Reprisen sind häufig sehr viel weniger "regulär" als bei Mozart und Beethoven.


    Zitat


    Was wirklich formal freier ist, ist die Großform der Sinfonie, da sind bei Haydn besonders noch bei den frühen und mittleren Sinfonien, außer der ursprünglichen Dreisätzigkeit auch mal fünf oder sechs Sätze möglich, oder die Reihenfolge ist einfach vertauscht, wie ein langsamer Variationensatz zu Beginn, gefolgt von einem Allegro.


    Das betrifft nun wirklich nur sehr wenige, ziemlich frühe Sinfonien. Es gibt nur eine mit 6 Sätzen, Nr. 60, die auf einer Schauspielmusik basiert. Die letzte der wenigen dreisätzigen ist #26 aus den späten 1760ern und die letzte der in einer Art Kirchensonatenform mit langsamem ersten Satz ist #49 etwa aus derselben Zeit. Es ging mir (und ich vermute dem KSM ebenfalls) schon um die Sonatenhauptsätze, nicht um die Anzahl der Sätze oder die Position des Menuetts.


    Zitat


    Die Folgerung "die Form ist bei Haydn noch nicht eindeutig definiert, deshalb ist sie freier als später, nachdem sie zum festen Model erhoben wurde" ist, meine ich, ein Fehlschluß, der an der Realität der Kompositionspraxis vorbeigeht.


    Da hast Du vielleicht falsch verstanden, was gemeint war.
    Es ist allerdings auch nicht leicht klar zu formulieren. Mein (und ich vermute KSMs) Punkt ist: Die Kodifizierung der Sonatenform wie man sie im Lehrbuch findet, passt auf Haydn oft nicht. Es gibt einige feste Regeln, aber in Hinsichten, in denen z.B. der frühe Schubert schematisch vorgeht, ist Haydn sehr viel freier. (Er ist diesbezüglich m.E. auch freier als Mozart und oft sogar als Beethoven.) Natürlich, da hast Du recht, ist das keine bewusste Freiheit von einem starren Schema. Weil es das Schema eben so gar nicht gibt.


    Ein Musterbeispiel ist das sogenannte "zweite Thema". Es gibt bei Haydn immer die Etablierung der Dominante (oder in manchen Fällen einer anderen Kontrasttonart), aber die muss keinesfalls durch ein melodisch prägnantes Thema abgesetzt sein. Das kann der Fall sein, häufig kommt aber das erste Thema in der Dominante oder eine Variante davon. Allerdings taucht nicht selten als "Schlussgruppe" dann doch noch ein prägnantes Thema auf. Es scheint fehlgeleitet, das als "Ausnahme" gegenüber einem Modell, wie wir es bei Mozart, Beethoven und später kennen, zu beschreiben. Sondern der Rahmen war eben entsprechend weitgesteckt. Nichtsdestoweniger war dieses Vorgehen, was mitunter zur Monothematik führt, durchaus bemerkenswert. (Wenn ich recht erinnere, lobt ein Rezensent der Pariser Sinfonien, dass Haydn ein Thema ausreiche, um einen ganzen Satz zu gestalten)


    Zitat


    Es ging in den letzten Beiträgen oft um den Begriff "emotionaler", da müssten wir mal klären, was wir damit meinen (speziell in dieser komperativen Form). Ich habe Beethovens Musik eher als unmittelbarer im Ausdruck zu beschreiben versucht, und nur gesagt, daß dadurch für manche dieser Eindruck entsteht: das ist "emotionaler". Mehrfach wurde schon angesprochen, ob dieser Eindruck nicht daher rührt, daß uns Beethovens Emotionalität näher ist. Ich meine, daß zunächst zwar die gewohnte Hörerfahrung dafür eine Rolle spielt, daß man diese Ausgangsposition aber überwinden kann, indem man neue Hörerfahrung macht.


    Ja sicher. Sonst hätten wir mit Renaissancemusik ja noch mehr Schwierigkeiten.


    Zitat


    Und so empfinde auch ich bei Dowland oder Purcell, bei Bach oder Mozart tiefe Emotion. Aber ganz sicher wird keine Hörerfahrung etwas daran ändern, daß ich diese Emotion viel feiner und subtiler dargestellt finde als im 19. Jhdt.


    Dowland und Purcell sind für mich nicht so leicht mit klassischer oder romantischer Orchestermusik zu vergleichen. Trivialerweise hat letzere einen ganz anderen impact. Aber Didos "When I am laid in earth" ist m.E. ebenso offensichtlich emotional wie irgendein Lied von Schubert oder Beethoven und wirkt auf fast jeden modernen Hörer entsprechend. Ich verstehe wirklich nicht, inwiefern das "subtiler" (i.S.v. weniger offenbar emotional) sein soll. (Es ist aber vielleicht ein tendenziöses Beispiel.)


    viele Grüße


    JR

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  • Den Einwand verstehe ich nun gar nicht, der Seitensatz ist doch Bestandteil der Exposition, die ich als Block bezeichnet hatte. Und die Sätze, die Du meinst, in denen gar kein abschweifender Teil ist, entsprechen einfach der alten Ouvertüren Form, (A-B-A-B, wobei A langsam und B schnell ist) wie oft in den frühen dreisätzigen Sinfonien, auch bei Mozart.


    Nein, ich spreche nicht von Sätzen mit mehreren Tempi sondern von solchen, die keinen Seitensatz oder keine Durchführung haben, dennoch aber zweiteilig sind wobei der erste Teil von Tonika zu Dominante moduliert und der zweite umgekehrt.


    Der Einwand mit dem Seitensatz betraf natürlich Deine grobe Vereinfachung. Wenn man bei der Betrachtung von Haydns Arbeit am Sonatenhauptsatz den Seitensatz ganz vergisst, dann hat man zu grob gerastert.


    Meine Einwände erübrigen sich übrigens in meinen Augen gar nicht. Ich zweifle aber, ob es sinnvoll ist, jetzt und hier das Modell der Sonatenhauptsätze um 1770 auszubreiten. Grundsätzlich sollte man als neutralen Begriff "Abschnitt" eher als "Block" nehmen. Und anstatt "variierend abschweifen" kann man nur feststellen, dass es für den "Durchführungsteil" keinen festen Aufbau gibt aber eine Reihe von Methoden, die gerne angewandt werden. Deshalb ist ja das "variierend abschweifen" nicht ganz richtig. Oder es stimmt auch für beethovensche Durchführungen.
    ;)

  • Zitat

    Byron Hier möchte ich noch einen neuen Aspekt ins Spiel bringen: Die Plakativität der Beethovenschen Sinfonien. (Klingt jetzt böse ;) - ich schwöre aber: ich liebe diese Werke). Aber ganz sicher ist Beethoven auch einer der ersten Komponisten, der sich, speziell mit seinen Sinfonien, an ein größeres Publikum wendet und sozusagen versucht massenwirksam zu sein.


    Es ist sicher etwas dran, dass Beethovens Stil oft lapidare, mitunter plakativen Züge aufweist. Aber man muss natürlich aufpassen, dass "massenwirksam" 1808 was anderes bedeutet als 2010. (Selbst damals waren Opernstücke wie von Rossini oder Webers "Jungfernkranz" in ganz anderer Dimension massentauglich wie Beethovens Sinfonien.) Und wenn man sich die Rezeption der Sinfonien ansieht, so stießen sie oft anfangs auf ähnliches Unverständnis wie andere seiner Werke. Es ist ja auch kein Wunder. Ein so langer und komplexer Satz wie der Kopfsatz der Eroica ist auch in seiner Kammermusik die absolute Ausnahme.


    Wie Du selbst andeutest, sehe ich hier auch eher einen graduellen Unterschied. Die Londoner Sinfonien und vieles vom späten Mozart richten sich ebenfalls an ein breiteres Publikum als die Streichquartette. In mancher Hinsicht werden die Unterschiede zwischen "Hausmusik" und öffentlicher Musik bei Beethoven eher aufgeweicht. Als Beispiel werden oft konzertante Sonaten wie Waldstein, Kreutzer, aber auch schon op.2,3 angeführ


    Es werden oft ja auch die Anleihen bei franz. Revolutions- und Marschmusik (besonders z.B. Finali der 5. und 7.) genannt. Die tragen sicher auch zum wuchtigen und mitreißenden Eindruck der Musik bei, keine Frage. Nur ist jedoch "packend und mitreißend" für mich wieder ein bißchen anders als "emotional"...
    Es mag zusammenhängen, aber ein in meinen Ohren extrem mitreißendes Stück wie den Rakoczy-Marsch aus Berlioz' Faust finde ich emotional eher "neutral". Oder nehmen wir das Finale von Beethovens 7. Es gibt kaum etwas mitreißenderes, in einem geradezu physischen Sinne (Weber hielt angeblich Beethoven nachdem er die 7. gehört hatte, für irrenhausreif). Aber (und ich gebe gern zu hier nicht recht ausdrücken zu können, was mir vorschwebt), ist das emotional wie "When I am laid in earth"? Wird Freude oder Jubel ausgedrückt? Ist es dazu nicht zu dramatisch?


    viele Grüße


    JR

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  • Oder nehmen wir das Finale von Beethovens 7. Es gibt kaum etwas mitreißenderes, in einem geradezu physischen Sinne (Weber hielt angeblich Beethoven nachdem er die 7. gehört hatte, für irrenhausreif). Aber (und ich gebe gern zu hier nicht recht ausdrücken zu können, was mir vorschwebt), ist das emotional wie "When I am laid in earth"? Wird Freude oder Jubel ausgedrückt? Ist es dazu nicht zu dramatisch?


    Das Problem sehe ich schon auch. Im eigentlichen Sinne ist ja jede Gemütsregung, egal ob Freudentaumel oder Trauer eine Emotion. Logisch gesehen würde ich das so definieren. Aber wenn etwas als "emotional" bezeichnet wird, werden die meisten geneigt sein eher Gefühle wie Trauer, Sehnsucht, Rührung damit zu verbinden. In diesem Sinne wäre ich auch geneigt Didos Trauergesang als emotionaler zu bezeichnen als eine Musik, die Freudentaumel ausdrückt. Wie wir das begrifflich besser fassen könnten, weiß ich nicht. Irgendwas steckt aber dahinter. Vielleicht ein wenig abseitig, aber: man verbindet ja Gefühlswahrnehmungen bei den meisten Menschen eher mit der rechten Hirnhälfte (natürlich ganz grob vereinfacht, aber es gibt ja Anhaltspunkte in diese Richtung). Ich habe mal gelesen, daß Menschen mit Läsionen der rechten Hirnhälfte, wo also die linke stärker das Regiment übernimmt, sich oft ganz gut fühlen, während im umgekehrten Fall, wenn nach Hirnverletzungen die rechte dominiert, meistens depressive Verstimmungen auftreten. "Gefühlsbetontheit" ist für uns also vielleicht untrennbar mit der Betonung negativer(?), dunkler(?) Gefühle verbunden?

    Wenn ich unglücklich verliebt bin, spiele ich keine romantische Klaviermusik, die ertrage ich dann nämlich nicht. Diese Art der Sentimentalität ist eine andere als die des Barock und greift mich offenbar (zumindest beim spielen) unmittelbarer an.

    Genau! Obwohl viele Musik der Romantik zu meiner liebsten gehört, kann sie mich in einer entsprechenden Gefühlslage "runterziehen", wohingegen Klaviermusik von Bach oder auch Neue Musik, die ja meist ein klares Wahrnehmen (linke Hirnhälfte) erfordert, mich aufbauen kann.
    Aber für Beethoven trifft das wenig zu; wenn wir bei ihm über Emotion reden verstehe ich darunter genauso die Qual des Ringens, wie die überschwengliche Freude des Durchbruchs. Sentimental kann man ihn nicht gerade nennen.


    Man entschuldige meine unausgereiften Ausführungen zum Thema Hirnhälften, das ist so eine Idee am Rande, über die ich keine Klarheit habe, aber ich finde die Frage interessant.


    Grüße aus Freiburg
    Byron

    non confundar in aeternum

  • Zumindest, was Emotion betrifft, vermissen ich einen Namen (vor Beethoven), der nur kurz von Johannes genannt wurde: Mozart. Seine vielen wunderbaren langsamen Sätze in den Klavierkonzerten und -sonaten, seine Opern (z.B. Zauberflöte, Don Giovanni), sein Requiem, und und und.. erscheinen mir höchst emotional.
    Und, gibt es etwas Emotionaleres als das "Halleluja" aus dem "Messias" von Georg Friedrich Händel?


    Liebe Grüße


    Willi :)



    Sehe ich in Bezug auf Händel ganz genauso. Ich würde noch gern Albinoni und Bach einschließen, die mit den großen, ausdrucksstarken Musikbögen des langen Atems (nicht langatmig !!! ganz im Gegenteil) viel mehr Emotion auslösen als so manche Sonate von Beethoven, die sich anhört, wie ein Eisschollenfeld aussieht, das mit einem anderen zusammengerumpelt ist.

  • viel mehr Emotion auslösen als so manche Sonate von Beethoven, die sich anhört, wie ein Eisschollenfeld aussieht, das mit einem anderen zusammengerumpelt ist.



    Die Idee hatten anscheinend auch schon andere... :D


    (bin momentan internetmäßig etwas eingeschränkt, daher ernsthafte Antworten irgendwann später)


    JR

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  • Hallo,
    ich möchte den Versuch wagen (ob es mir gelingt?), zur Klärung beizutragen, in dem ich eine Struktur aufzuzeigen versuche.

    Das Problem sehe ich schon auch. Im eigentlichen Sinne ist ja jede Gemütsregung, egal ob Freudentaumel oder Trauer eine Emotion. Logisch gesehen würde ich das so definieren. Aber wenn etwas als "emotional" bezeichnet wird, werden die meisten geneigt sein eher Gefühle wie Trauer, Sehnsucht, Rührung damit zu verbinden. In diesem Sinne wäre ich auch geneigt Didos Trauergesang als emotionaler zu bezeichnen als eine Musik, die Freudentaumel ausdrückt. Wie wir das begrifflich besser fassen könnten, weiß ich nicht. Irgendwas steckt aber dahinter.


    Was ist emotional (und dabei möchte ich mich auf die Wirkung heutiger Hörer beschränken, nur sie sind in etwa nachvollziehbar):
    Alles vom Gefühl - und nicht vom Verstand - Ausgehende und zwar von "zu Tode betrübt über traurig, erschrocken, aufgewühlt, wütend, gleichgültig, freudig erregt bis himmelhoch jauchzend". Dabei ist zu beachten, dass z. B. sentimental, hysterisch u. ä. (ab-)wertende Bemerkungen über Gefühlsregungen sind, also keine Gefühle als solche.


    Andererseit gebe ich gerne zu, dass jeder Epoche eine andere Art von Empfindungs-Erweckung zueigen ist. Wenn ich unglücklich verliebt bin, spiele ich keine romantische Klaviermusik, die ertrage ich dann nämlich nicht. Diese Art der Sentimentalität ist eine andere als die des Barock und greift mich offenbar (zumindest beim spielen) unmittelbarer an. Dafür ist die Moderne in der Lage, Emotionalität im Zusammenhang mit Grauen und Katastrophe auszudrücken, wie sonst keine Epoche,


    Chaos, Grauen, Katastrophen sind keine Gefühle, sie können Gefühle hervorrufen und zwar unterschiedlich in Abhängigkeit vom Lebenshintergrund des Fühlenden - ein Sohn, der seinen Vater im Krieg verloren hat wird bei einer "Kriegmusik" (was darunter zu verstehen sein wird, weiter unten) andere Gefühle entwickeln, als ein Panzerfahrer. Und die "Modernen" versuchen, ein vom Individuum losgelöstes, die Menschlichkeit allgemein betreffendes Gefühl musikalisch auszudrücken - ob es sich dabei nicht doch nur um eine musikalische Beschreibung des Vorganges handelt, der die Gefühle auslösen soll?


    Die recht ausführliche Diskussion über Form usw. (hier verzichte ich auf einzelne Zitate) geht insofern m. E. am Thema vorbei, da hier der analysierende Verstand gefragt ist, und das hat ja - s. o. - mit Gefühl Nichts zu tun. Und mit welchen musikalischen Mitteln dies erreicht wird, ist zwar sehr interessant dies zu untersuchen, hat aber mit Gefühl auch Nichts zu tun.


    Einen großen Trennungsstrich möchte ich ziehen zwischen textgebundener Musik und Programmmusik einerseits und absoluter Musik andererseits.


    Bei textgebundener Musik ist für die Emotionen beim Hörer zu beachten ob eine fortlaufend gleich bleibende Gefühlswahrnehmung zwischen Texter, Komponist und Hörer vorhanden ist. Ob Schubert z. B. bei seiner Vertonung vom "Leiermann" genau das empfunden hat und damit in Musik ausgedrückt hat, was Eichendorff in seinem Gedicht ausdrücken wollte und der Hörer des Schubertliedes die Gefühle von Eichendorff und Schubert gefühlsmäßig nachvollziehen kann oder aber fühlt, dass die Schubert'sche Vertonung z. B. seinem Gefühl des Eichendorff'schen Textes nicht entspricht und er damit ein ganz anderes Gefühl (fühlt sich nicht "so" angesprochen) entwickelt.
    Dass ein Hörer beim "Halleluja" u. U. ein himmelhoch jauchzendes Gefühl entwickelt, liegt am Text und ob der Komponist es verstanden hat, dieses Textgefühl mit Musik rüberzubringen, besser noch zu überhöhen um beim Hörer eben dieses "himmelhoch…" zu erzeugen, wozu nur (=meine Meinung) Musik in der Lage ist. Opern, kirchliche Werke usw. gehören auch dazu - dabei gibt es m. E. Teile, die zwar im Zusammenhang mit dem Text stehen, aber ein solches Eigenleben entwickeln, dass sie sehr nahe bei absoluter Musik stehen.


    Ähnliches gilt für die Programmmusik z. B.: Beethovens 6. ist da gewiss anders zu sehen, als seine 8. In der "Pastorale" will Beethoven seine außermusikalischen Empfindungen ausdrücken und beim Hörer wecken, bei unterschiedlichen Erlebnissen anlässlich (s)eines "Landausflugs" (mit welchen musikalischen Mitteln das Beethoven erreicht ist untersuchenswert, mit welchen Gefühlen bei seinen Hörern ist aber individuell sehr unterschiedlich). In der 8. wird das Metronom "zitiert". Die Moldau ist noch mal eine ganz andere Programmmusik, sie will außermusikalische Zustände/Abläufe mit Musik verdeutlichen/untermalen.
    Und es ist bei sehr vielen Werken zu fragen ob es sich tatsächlich um absolute Musik handelt oder nicht doch außermusikalische Ereignisse (nicht zu verwechseln mit Anlässen) verarbeitet oder dargestellt werden sollen. Dabei gibt es bestimmt Grenzfälle, für mich z. B. "Harold in Italien" obwohl so überschrieben, aber…


    Und allein bei absoluter Musik, wie z. B. bei der 7. von Beethoven, ist es die Frage, welche Gefühle beim Hörer entstehen (und auch wieder mit welchen musikalischen Mitteln), wenn in der Musik keine außermusikalischen Empfindungen/Zustände verarbeitet sind. Und dabei ist nur bei den "Mitteln" die Entstehungszeit eine Frage.



    Und die nun so getroffene Unterscheidung/Struktur hat m. E. zur Folge, dass zumindest die Frage der Emotionalität für mich entstehungszeitunabhängig ist. Was die Subjektivität betrifft, ist zweifellos die Zeit ein großer Faktor. Hätte irgendein früherer Komponist es wagen können, die "Hexenverbrennungen" musikalisch zu thematisieren (heute wäre es möglich, aber nicht mehr interessant) - Orff konnte die "Bernauerin" schreiben. Ab wann gibt es Musik mit einer kritischen Einstellung zum Thema Krieg usw.?


    Vielleicht ein wenig abseitig, aber: man verbindet ja Gefühlswahrnehmungen bei den meisten Menschen eher mit der rechten Hirnhälfte (natürlich ganz grob vereinfacht, aber es gibt ja Anhaltspunkte in diese Richtung). Ich habe mal gelesen, daß Menschen mit Läsionen der rechten Hirnhälfte, wo also die linke stärker das Regiment übernimmt, sich oft ganz gut fühlen, während im umgekehrten Fall, wenn nach Hirnverletzungen die rechte dominiert, meistens depressive Verstimmungen auftreten. "Gefühlsbetontheit" ist für uns also vielleicht untrennbar mit der Betonung negativer(?), dunkler(?) Gefühle verbunden?


    Hierzu möchte ich aus dem Thread "Morten Lauridsen" zitieren; nachdem hier mit dieser Forensoftware ein Zitat über Forumsgrenzen nicht möglich ist, habe ich diverse meiner Beiträge in Word erstellt/abgespeichert und kopiere nun teilweise hier ein:

    Musik spricht zuerst auf emotionaler Ebene an und hier an 1. Stelle sind neuro-biologische Vorgänge am Walten, dann kommen die Hörgewohnheiten und Erfahrungen des Hörers ins Spiel. Ich schweife hier vom Thema Lauridsen etwas ab und beziehe mich auf eine lebhafte Diskussion über Nano aus dem Jahr 2008 bis Anfang 2010, angestoßen von Thomas.


    Atonale Musik und deren Komponisten stellen die dem Menschen eigene Konstruktion des Ohres und die daraus resultierende Verarbeitung der tonalen Eindrücke im Gehirn auf den Kopf. Konsonanz, Dissonanz und deren Auflösung sind der Bauplan, darauf ist Emotion eingestellt. Atonale Musik bringt die äußerst komplizierten, und nur z. T. erforschten Vorgänge in der Verarbeitung der tonalen Höreindrücke im neuro-biologischen System völlig aus dem Gleichgewicht. Dazu kommt: Musik, besser die Abfolge von nicht verbalen Höreindrücken, war vor der Sprache da - nicht umgekehrt - deshalb auch kann Musik Sprache besser verständlich machen (Verweis auf meinen Beitrag zu Hugo Distler). Zu diesem Fragenkomplex kann ich das "rororo Taschenbuch Musikpsychologie" ISBN
    978 3 499 55661 8 empfehlen, aus dem ich "frei" zitiert habe.
    Was will/wollen atonale Musik, sinnlose Sprachfetzen vermitteln, wie in einen Dialog mit dem Hörer treten, was will der Komponist dem Hörer mitteilen, wie das in der Evolution angelegte "Anspringen" der Emotion erreichen?


    Nach soviel Theorie, möchte ich nun an einigen wenigen Beispielen erläutern, wie ich o. G. bei mir realisiere, bzw. sich bei mir (ohne mein Zutun!) umsetzt



    Absolute Musik:
    Der Anfang des 4. Satzes der Saint-Saens'schen Orgelsinfonie ist für mich eine regelrechte "Gänsehautstelle", ähnliches bei Canto Ostinato von Simeon ten Holt, allerdings nicht sofort, sondern nach 10/20 Min., auch so bei Schuberts Unvollendeter, dem 6. Brandenburgischen oder dem 3. - 6.Satz aus der Haffner-Serenade; das ist pure Emotion, nicht erklärbar und auch nicht erklärungsbedürftig.
    Ich höre sehr gerne die Goldbergvariationen und kann mich dabei an Bachs Kunst (da regiert der Verstand!) erfreuen, ähnlich Chopins Klaviermusik oder die sinf. Tänze von Grieg.


    Textgebundene Musik:
    Monteverdis "Lauda Jerusalem aus der Marienvesper", das "Ave Maria" von Morten Lauridsen, "An Sylvia" oder "Der Doppelgänger" von Schubert, "Lied vom Winde" aus dem Mörike-Chorliederbuch von Distler - das sind alles für mich "Gänsehautstellen", weil ich empfinde, dass Text und Musik eine kongeniale Verbindung eingehen (und deswegen spielt da der Verstand mit rein!).


    Programmmusik:
    "Peer Gynt-Suiten" bzw. Schauspielmusik, Brittens "Orchesterführer", die "Scheherazade" oder "Peter und der Wolf" - alles keine "Gänsehautstellen", aber eine überzeugende Darstellung/Transformation außermusikalischer Vorgänge in Musik (noch mehr Verstand wie vor!)


    Ich würde mich freuen, wenn ich mit der theoretisch aufgezeigten Struktur ein klein wenig zur Klärung/Differenzierung beitragen kann.


    Herzliche Grüße
    zweiterbass


    Nachsatz: Manchmal frage ich mich ob es nicht hilfreich sein könnte, wenn Moderatoren in ihrer Eigenschaft als Nichtmoderatoren aufgrund ihrer umfangreichen Kenntnisse/Überblick über das Forum (die/den ich als Neuling seit Juni d. J. nicht haben kann) - das kann natürlich auch auf langjährige Forianer zutreffen - im gerade von ihm beantwortenden Thread Querverweise zu anderen Foren/Threads geben? Ich für mich fände das von Nutzen, weil ich dann u. U. auf (Ähnlichkeiten in) Musik aufmerksam werde, der ich bislang keine oder wenig Aufmerksamkeit gewidmet habe.

    Wer die Musik sich erkiest, hat ein himmlisch Gut bekommen (gewonnen)... Eduard Mörike/Hugo Distler

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