Ist Kultur nur ein Potemkin'sches Dorf?

  • Liebe Musikfreunde!


    Genau an dem Tag, als der neuerliche Dioxin-Skandal publik wurde, war in meiner Zeitung das folgende Wort von Voltaire als Tagesspruch zu lesen:

    Ich möchte die Schritte kennen,
    mit denen die Menschheit
    von der Barbarei zur Kultur überging.


    Und dieses Zitat stand direkt neben dem Dioxin-Fünfspalter. Zufall oder redaktioneller Einfluß? Das weiß ich natürlich nicht, ist aber in jedem Fall drastisch-sarkastisch, denn die Frage, ob wir tatsächlich den bewußten Schritt gemacht haben, darf man stellen und bei entsprechender geistiger Einstellung auch negativ beantworten.


    Der amerikanische Philosoph Will Durant hat postuliert, daß alle Kultur zwar durch soziale Ordnung begünstigt wird (und dabei schöpferische Tätigkeiten auslöst). Aber er meint, daß Kultur nur durch Seßhaftigkeit und angelegtem Nahrungsvorrat gefördert wird. So ist dann die Kathedrale und das Kapitol, das Museum, der Konzertsaal und die Oper, die Bibliothek und die Universität nur Fassade, dahinter aber steht - der Schlachthof.


    Und was da so alles an Dreck herauskommt, läßt eine weitere Frage aufkommen: Ist es noch angebracht, über Interpretationsansätze von Musik zu diskutieren, wenn Geldgier der Unternehmer und die Geiz-ist Geil-Einstellung der Verbraucher der eigenen Vergiftung Vorschub leistet? Können und dürfen wir noch Musik genießen, wenn wir im Alltag immer mehr in die Bredouille kommen?


    ?(:(;(:evil:

    .


    MUSIKWANDERER

  • Oh - Was hätte das für ein Thread werden können !!
    Zur richtigen Zeit und am richtigen Platz ! Eine EINZIGE Antwort - von der richtigen Person - und hier wäre (vielleicht) ein Hexenkessel entstanden - Ob das gut oder schlecht fürs Forum und seine Reputation gewesen wäre - ich wage das nicht einzuschätzen...
    Auch ich habe erst heute diesen Threadstart gelesen. Ich bin sicher nicht die ideale Person, welche diesem Thread Aufschwung verleiht- aber ich will es wenigstens versuchen...


    So ist dann die Kathedrale und das Kapitol, das Museum, der Konzertsaal und die Oper, die Bibliothek und die Universität nur Fassade, dahinter aber steht - der Schlachthof.


    Aber das ist doch allgemein bekannt - das ist in allen Bereich des Lebens so. Kultur ist Fassade.
    Die Frage ist lediglich wozu sie dient. Soll sie bestehende Machtstruikturen aufrechterhalten, bzw festigen ?
    Soll sie das Ego der Reichen, Schönen, Intellektuellen und finanziell erfolgreichen streicheln ?



    [jpc]Ist es noch angebracht, über Interpretationsansätze von Musik zu diskutieren, wenn Geldgier der Unternehmer und die Geiz-ist Geil-Einstellung der Verbraucher der eigenen Vergiftung Vorschub leistet? Können und dürfen wir noch Musik genießen, wenn wir im Alltag immer mehr in die Bredouille kommen?[/jpc]


    Ja wir können, dürfen - und vermutlich MÜSSEN wir Musik sogar geniessen - einfach um dieses teilweise unerträgliche Leben zu ertragen - und den Gedanken an dessen (meist ekelerregendes) Ende.
    Und soeben ist mir - während ich das schreibe - ein Satz eingefallen, den man mir dereinst nicht nur zuschreiben wird - er ist von mir: "Kultur ist die unverzichtbare Schminke des Elends und menschlicher Unvollkommenheit"


    Kultur ist mit Sicherheit ein Potemkinsches Dorf. Aber was vermag ein Potemkinsches Dorf nicht alles zu erreichen........


    mit freundlichen Grüßen aus Wien


    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Ist es noch angebracht, über Interpretationsansätze von Musik zu diskutieren, wenn Geldgier der Unternehmer und die Geiz-ist Geil-Einstellung der Verbraucher der eigenen Vergiftung Vorschub leistet? Können und dürfen wir noch Musik genießen, wenn wir im Alltag immer mehr in die Bredouille kommen?


    Darfst Du glücklich sein, solange auch nur ein einziges Kind auf Erden hungrig schlafen gehen muss?

  • Es gab immer die Liebe in den Zeiten der Cholera.


    Tatsächlich ist ja das Hören, Sehen, Spüren der herannahenden Apokalypse nichts Zeitgeistiges, sondern etwas, das manchen oder gar vielen Leuten schon vor über tausend Jahren zu eigen war. Mit dem Weltuntergang wurde schon zur ersten Jahrtausendwende gerechnet, und vermutlich wohl schon zu Anbeginn der Zeiten, in denen der Mensch lernte zu denken und sich Sorgen zu machen.


    Zudem ist mir nicht ganz klar, inwieweit das "immer mehr in die Bredouille kommen" tatsächlich stattfindet. Wir werden rasant schneller älter als früher, bleiben länger gesund, haben weniger Mühen (wenn auch mehr Streß), die - zumindest die deutsche - Umwelt ist im Vergleich zu vor 50 Jahren wieder sauberer geworden, unsere Autos könnten nur noch 3 Liter Benzin auf 100 km verbrauchen, 20% des Stroms wird aus erneuerbaren Energien gewonnen, etc.


    Und weltweit scheint es ähnlich zu sein, man sehe sich einmal den 4 Minuten langen Film des Statistiker Rosling an, der zeigt, wie es in den letzten 200 Jahren auf der Welt vorangegangen ist -


    "http://www.schockwellenreiter.de/blog/2011/01/24/200-jahre-200-lander-4-minuten-und-120-000-zahlen/" -


    da bleibt zunächst einmal für überbordenden Pessimismus wenig Raum.


    Daß es im Detail nicht stimmt, war auch schon immer mal so, die Eurokrise z.B. wird auf lange Sicht nichts als eine Fußnote in der Geschichte sein, die Erde wird mehr als 9 Milliarden Menschen ernähren können, wenn wir Algen in den Ozeanen züchten, die Polkappen werden schmelzen, aber so what ??, das ist auch immer mal wieder passiert.


    Für Pessimismus auf lange Sicht gibt es keinen substantiellen Grund, für individuellen Pessimismus schon, denn "in the long run, we all are dead" (J. M. Keynes).


    Grund zum mittelfristigen (wenn nicht gar kurzfristigen) Pessimismus gibt auch für Gesellschaften, die im Vergleich zu anderen nicht mehr leistungsfähig sind, aber das droht zumindest unserer (deutschen) Gesellschaft noch nicht so schnell, da bei uns - anders als z. B. in England - Ingenieure und Techniker einen hohen sozialen Status genießen und eben nicht Bänker oder Astronom werden wollen. Aber ganz Asien ist hungrig (auf Erfolg), und es wird uns Europäern oder den Amerikanern auf Dauer schwerfallen, wettbewerbsfähig zu bleiben.


    Das macht aber wieder nichts, denn zum Glück fällt hier genug Regen, damit wir auch langfristig nicht verhungern, selbst dann, wenn unsere Traktoren und Autos längst in Südkorea oder Indien produziert werden.


    Und selbst, wenn alles den Bach runterginge - könnten wir es aufhalten dadurch, daß wir weniger Musik hörten und mehr meditierten??? Oder lamentierten?


    Der große Heinz Erhard, der nur der Fassade nach ein Komiker war, hat mal gedichtet:



    An einen Pessimisten


    Jede Sorge, Freund, vermeide,
    jedes Weh sollst Du verachten.
    Sieh die Lämmer auf der Weide:
    sie sind fröhlich VOR dem Schlachten.
    Ahnst du nicht, wie dumm es wär,
    wären sie´s erst hinterher?



    In dem Sinne: Peace and long life, Cheers :thumbup:

  • Pühhhhhhh - als ich mich daranmachte, hier die erste Antwort zu schreiben, war es noch vor Mitternacht - und in der Zwischenzeit haben Alfred und Wolfram Beiträge verfaßt - 11 Monate nix passiert in diesem Thread, und dann mehrere Beiträge unabhängig voneinander innerhalb weniger Minuten - wie unwahrscheinlich ist denn das ?????


    Natürlich könnte man es als Zeichen für den kurz bevorstehenden Weltuntergang sehen!

  • Zunächst einmal herzlichen Dank an m-müller für das Erhard Gedicht. Wunderbar.


    Wenn ich auch im Leben nicht viel gelernt habe, so doch eines: Jedes Übel, das uns widerfährt und wir meinen, es kommt von außen, hat seinen Ursprung in uns selbst.


    Wir sind Teil einer Konsumgesellschaft, geprägt durch Shopping als Wohlfühltherapie und "erstrebenswerte", im Grunde nutzlose, Statussymbole.


    Dabei entfernen sich die Gegenstände immer mehr von ihrer Grundfunktion und werden überladen mit Gimmicks, die im Grunde keiner braucht. Aber die Kultur, das ist Ballast, da muss gekürzt werden, wer braucht schon bildende Künste, wenn ich beim Autofahren auf www.......de (ich hoffe der Link funktioniert nicht, ist erfunden, bitte nicht anklicken!!!!) surfen kann.


    Und hier sehe ich dann wieder eine Chance für Kultur: Wenn die Menschen für sich erkennen, was für einer, entschuldigung, Verarsche sie hinterherlaufen. Das es Ziel ist, uns zu Konsumvieh zu erziehen, ohne eigenen Geist, als einziges Lebensziel zu kaufen, egal was.


    Die Beschäftigung mit Beethoven hat natürlich zunächst auch etwas mit Konsum zu tun. Aber spätestens, wenn ich mich mit der Musik geistig auseinander setze, in die Musikwelt abtauche, brauche ich keine Ersatzbefriedigung mehr. Es ist keine Flucht vor der Realität, sondern mein Geist, falls ich denn einen besitze :D , wird angeregt, Stimulanz, Wohlfühlen, auftanken.


    Viele Grüße Thomas

  • Als dieser Tage ein Hochhaus gesprengt wurde,habe ich mir Gedanken um die Kultur gemacht.
    Genau gesagt um die Kultur der Zeit,in der man das Hochhaus erbaut hatte.Ein häßlicher Betonklotz
    mit zahlreichen "zweckmäßigen" Wohnungen,offensichtlich einer der Höhepunkte deutscher Betonkultur der Nachkriegszeit.
    Endlich ist der Schandfleck der Architektur weg.
    Vielleicht war es in den 60er,70er Jahren des vorigen Jahrhunderts gebaut worden.
    In der Zeit als die Staatskassen noch reichlich gefüllt waren.
    Als beim Bau öffentlicher Gebäude vorgeschrieben war,ein "Kunstwerk" aus öffentlichen Geldern zu erwerben.Auch in meiner Schule,die Mitte der 60er Jahre
    erbaut wurde-aus Beton,wie man sich denken kann-zierte eine Wanddekoration aus Metallblechen das Foyer.Auch heute noch.
    Das Schulgebäude befindet sich allerdings heute in einem bedauernwerten Allgemeinzustand.
    In oder vor jedem öffentlichen Gebäude kann man die merkwürdigsten Kunstgegenstände vorfinden,die die Kultur der damaligen Zeit hinterlassen hat.
    Alles mit staatlichen Geldern gefördert.
    Wie auch im Bereich der Malerei,wo sich staatliche Museen mit zeitgemäßen Werken eindeckten,denen die kunstferne,kulturresistente Masse keinerlei Beachtung schenkte.
    Theater und Opernhäuser schwelgten in öffentlichen Geldern und uraufführten Werke,die sich heute niemand ansehen/anhören würde.
    Was die Musik betrifft,mag sich jeder auf seine Erfahrungen zeitgenössischer Musik,hier also die 60er,70er Jahre besinnen.Nein ich meine nicht die Beatles und Rolling Stones,
    sondern Kompositionen von Stockhausen usw.Natürlich gab es auch zahlreiche andere Komponisten aus dieser Zeit.Wer kennt noch ihre Namen,wer hört noch ihre Werke?
    Waren das alles Potemkinsche Dörfer?

    mfG
    Michael

  • Theater und Opernhäuser schwelgten in öffentlichen Geldern und uraufführten Werke,die sich heute niemand ansehen/anhören würde.


    Das galt zu allen Zeiten. - Im Italien des 19. Jhds. wurden ca. 20.000 Opern komponiert und aufgeführt. Wie viele haben überlebt?

  • Im Italien des 19. Jhds. wurden ca. 20.000 Opern komponiert und aufgeführt. Wie viele haben überlebt?


    ... wahrscheinlich nur "die besten". Zum (persönlichen) Glück z. B. solche wie La Boheme, La Traviata, Rigoletto und noch manch anderes Sahnestück.
    Richtig ist aber auch, daß auch diese nicht sofort von allen angenommen wurden, bei einigen Kritikern total durchgefallen waren und sie sich erst im Laufe der Zeit ihren verdienten Spitzenplatz erkämpfen konnten.
    Ganz nebenbei und persönlich bemerkt, war es ja bei mir nicht anders (ist mir jetzt richtig peinlich). Als ich als ganz junger Mann zum ersten Mal die Boheme sah und hörte, saß ich wie auf Kohlen und dachte, "wann ist dieser Mist bloß bald zu Ende". Und was ist daraus geworden? Ein "Boheme- Fanatiker"!
    Herzliche Grüße
    CHRISSY

    Jegliches hat seine Zeit...

  • Bei diesem Thema fühle ich mich an Arthur Schopenhauer erinnert, der es auch schon behandelt hat. Er sagte, dass in der Vergänglichkeit und dem Elend dem Menschen zwei Dinge bleiben: die Natur und die klassische Kunst, besonders die Musik. Dieses forum ist der Beweis für seine Ansicht.

    Aller Anfang ist schwer - außer beim Steinesammeln (Volksmund)

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  • Zwei Dinge möchte ich anmerken:
    1. ist es für mich klar, dass Kultur immer genau als Gegenpol für all das Niederschmetternde in der Welt funktioniert und nur als Gegenpol existieren kann. Denn sonst ist sie nur der Elfenbeinturm und muss auf Dauer als Kitsch enden. (Sehr schön metaphert (gibts das Wort) von Arno Schmidt in der "Gelehrtenrepublik"). Sie hebt uns hinan, die Kunst, wenn wir aber alle sowieso schon oben wären???
    2. Wurde oben angemerkt Beethoven im Gegensatz zu Ersatzbefriedigung. Da muss ich ganz provokant sagen, auch Beethoven ist Ersatzbefriedigung. Ersatz für was auch immer. Ein aufregendes Leben, Liebe, Leidenschaft, Sex oder was auch immer. Kunst ist doch immer ein Extrakt meine ich.
    Tschö
    Klaus

    ich weiß, dass ich nichts weiß. Aber ganz sicher bin ich mir da nicht.

  • Zitat Thomas Sternberg: ... wenn ich beim Autofahren auf www.....de ) surfen kann.

    Lieber Thomas
    Gestatte eine spaßig gemeinte neugierige Frage: Habe ich da was verpaßt? Wie schaffst Du das beim Autofahren? Bei mir reicht´s gerade mal zum Radio/CD anstellen...
    Herzliche Grüße
    CHRISSY


    Sorry, der Link ging ein bißchen zu sehr ins Anstößige.


    Norbert als Moderator

    Jegliches hat seine Zeit...

  • Der Link funktioniert schon. Sollte man rausnehmen. :wacko:

    »Und besser ist's: verdienen und nicht haben,

    Als zu besitzen unverdiente Gaben.«

    – Luís de Camões

  • Der Link sollte gar keiner werden. Er ist bei uns nur ein Ausdruck für nackten Schmuddel im Netz.


    Hallo chrissy,


    ich habe gar kein Auto. Aber die Leute brauchen doch in Zukunft nicht mehr selber fahren. Entweder sie stehen im Stau oder die Elektronik übernimmt alles.


    Viele Grüße Thomas

  • Der Link sollte gar keiner werden. Er ist bei uns nur ein Ausdruck für nackten Schmuddel im Netz.


    Ja, den gab es auch hinreichend zu sehen... ;)

    Grüße aus der Nähe von Hamburg


    Norbert


    Das Beste in der Musik steht nicht in den Noten.

    Gustav Mahler