Der Nachwelt verloren gegangene Interpretationen großer Dirigenten

  • Der etwas umständliche Thread-Titel will vielleicht zunächst noch genauer erläutert werden:


    Das Repertoire vieler Dirigenten der Vergangenheit war beträchtlich größer als jenes, welches uns von diesen heutzutage auf Tonträgern überliefert ist.


    So hatte etwa Ferenc Fricsay, um mal ein Beispiel zu nennen, durchaus alle neun Beethoven-Symphonien im Programm. Diese lagen zunächst sogar sämtlich als RIAS-Aufnahmen vor (vgl. Audite-Beiheft zur Furtwängler-RIAS-Edition, S. 31). Schmerzlicherweise entschied man sich zur Löschung von allen außer der 7. und 8. Daneben liegen uns noch die Studioaufnahmen der 1., 3. und 9. (alle DG) vor. Der Nachwelt gingen insofern die Symphonien Nr. 2, 4, 5 und 6 unter diesem Dirigenten vermutlich unwiderbringlich (es sei denn, es tauchen wirklich noch private Mitschnitte auf) verloren.


    Das Konzertprogramm Wilhelm Furtwänglers von 1947 bis 1954 zeigt auf, daß dieser Dirigent auch Werke wie Haydns 101. im Repertoire hatte. Wenn ich mich nicht verzählt habe, führte Furtwängler dieses Werk allein in diesem Zeitraum 14mal (!) auf. Ferner fand unter seinem Dirigat 1949 eine Aufführung des Haydn-Oratoriums "Die Schöpfung" mit den SängerInnen Seefried, Ludwig und Christoff statt. Offensichtlich versäumte man es jedoch, diese Konzerte mitzuschneiden und somit nachfolgenden Generationen zu erhalten.


    Es gibt ganz sicher noch viele andere Beispiele. Wenn euch solche einfallen, bitte steuert sie bei.


    Was ich mich jetzt allgemein frage, ist, ob man solche Konzerte tatsächlich nicht mitgeschnitten hat, ob etwaige Mitschnitte noch in irgendwelchen Archiven unentdeckt schlummern, ob es eventuell sogar Rundfunkübertragungen gab, die ein findiger Privatsammler seinerzeit mitgeschnitten hat und die somit (vielleicht sogar in bestmöglicher Qualität) bis zum heutigen Tage doch noch überdauert haben. Immer wieder tauchen doch private Mitschnitte auf, die oft erst Jahrzehnte später der Allgemeinheit zugänglich gemacht werden können. Was meint ihr: Gibt es noch so manchen Schatz zu heben?


    LG
    Joseph
    :hello:

    »Und besser ist's: verdienen und nicht haben,

    Als zu besitzen unverdiente Gaben.«

    – Luís de Camões

  • Lieber Joseph II


    Ich freue mich - und auch Du wirst Dich freuen - daß ich Dir hier in einigen Punkten widersprechen kann.
    Wenige werden es wisasen, daß ich dereinst den Beruf eines Buch- und Musikalienhändlers erlernte - und daß ich mit 15 Jahren Schallplatten verkaufte.
    Aus dieser Zeit erinnere ich mich, daß seinerzeit die Deutsche Grammophon mehr Aufnahmen von Beethoven Sinfonien im Katalog hatte als Du hier angeführt hast.


    Zitat

    Der Nachwelt gingen insofern die Symphonien Nr. 2, 4, 5 und 6 unter diesem Dirigenten vermutlich unwiderbringlich (es sei denn, es tauchen wirklich noch private Mitschnitte auf) verloren.


    Zumindest die 5. wurde für Deutsche Grammophon aufgenommen.
    Bei Youtube ist sie auszugsweise zuhören. Warum sie die Deutsche Grammophon aus ihrem Katalog verbannt hat ist mir schleierhaft. Die Aufnahmen sind tontechnisch hervorragend. Der Zyklus wurde leider wegen des frühen Todes von Fricsay abgebrochen. Ihm folgte dann der legendäre Karajan Zyklus von 1960/62



    Das yutoube Video ist in Wahrheit gar keines, es wurde der Ton zu Bildern von Fricsay eingefügt. Gegen Ende des Videos
    ist dann das Originalcover der DGG - Schallplatte zu sehen. Die 5. und die siebte gemeinsam auf einer Langspielplatte....


    mfg aus Wien


    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Lieber Alfred,


    daß es eine 5. unter Fricsay gibt, wußte ich in der Tat nicht. Umso mehr freut es mich. :)
    Eine hartnäckige Amazon-Suche ergab jetzt, daß die Aufnahme glücklicherweise sogar auf CD erhältlich ist:



    (Beim frz. und ital. Amazon günstiger zu erwerben.)


    Freilich schmerzt der Verlust zumindest der 2., 4. und 6. dennoch, die aus heute kaum mehr nachvollziehbaren Gründen seinerzeit vom RIAS gelöscht wurden.


    LG nach Wien
    Joseph

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    Als zu besitzen unverdiente Gaben.«

    – Luís de Camões

  • Das Konzertprogramm Wilhelm Furtwänglers von 1947 bis 1954 zeigt auf, daß dieser Dirigent auch Werke wie Haydns 101. im Repertoire hatte. Wenn ich mich nicht verzählt habe, führte Furtwängler dieses Werk allein in diesem Zeitraum 14mal (!) auf. Ferner fand unter seinem Dirigat 1949 eine Aufführung des Haydn-Oratoriums "Die Schöpfung" mit den SängerInnen Seefried, Ludwig und Christoff statt. Offensichtlich versäumte man es jedoch, diese Konzerte mitzuschneiden und somit nachfolgenden Generationen zu erhalten.


    Es gibt ganz sicher noch viele andere Beispiele. Wenn euch solche einfallen, bitte steuert sie bei.


    Nicht nur in den Furtwängler-Konzerten ab 1947 wurden zahlreiche Werke aufgeführt, die man ihm bei oberflächlicher Betrachtung gar nicht zugetraut hätte: weil nämlich das, was von ihm aufgenommen und somit der Nachwelt erhalten wurde, im Wesentlichen Standardrepertoire war (Beethoven, Brahms, Bruckner, Wagner etc.). Furtwängler hatte aber ein sehr viel breiteres Repertoire in seinem Leben beackert. Hier ein paar ganz wenige Beispiele (die Reihe ließe sich endlos fortsetzen):


    Arnold Schönberg: Variationen für Orchester op. 31 (Uraufführung durch Furtwängler am 2. Dezember 1928 )
    Arnold Schönberg: Fünf Orchesterstücke op. 16 (aufgeführt am 10. und 11. Dezember 1922)
    Karol Rathaus: Ouvertüre für großes Orchester op. 22 (Uraufführung durch Furtwängler am 4. März 1928 )
    Sergej Prokofiew: Klavierkonzert Nr. 5 op. 55 (Uraufführung durch Prokofiew und Furtwängler am 30. Oktober 1932)
    Philipp Jarnach: Morgenklangspiel op. 19 (Uraufführung durch Furtwängler am 7. November 1926)
    Franz Liszt: Klavierkonzert Nr. 2 (mit Vladimir Horowitz aufgeführt am 25. und 26. Oktober 1926)
    Franz Liszt: Eine Faust-Sinfonie (aufgeführt am 5. und 6. Dezember 1926)
    Edouard Lalo: Symphonie espagnole (aufgeführt am 10. und 11. Oktober 1925)
    Arthur Honegger: Chant de joie (aufgeführt am 10. und 11. Oktober 1925)
    Richard Strauss: Parergon zur Sinfonia domestica für Klavier - linke Hand - und Orchester (aufgeführt mit Paul Wittgenstein am 1. und 2. November 1925)
    Hector Berlioz: Symphonie fantastique (aufgeführt am 29. und 30. November 1925)
    Hector Berlioz: Harold in Italien op. 16 (aufgeführt mit Paul Hindemith am 30. und 31. Oktober 1932)
    Paul Dukas: Der Zauberlehrling (aufgeführt am 22. und 23. Januar 1933)
    Niccolo Paganini: Violinkonzert D-Dur op. 6 (aufgeführt mit Zino Francescatti am 25. und 26. November 1934)
    Georg Friedrich Händel: Der Messias (aufgeführt in Sonderkonzerten November 1931)
    J.S. Bach: Klavierkonzert f-moll (aufgeführt von Furtwängler als Solist und Dirigent in Personalunion am 16. und 17. März 1924)
    Paul Graener: Die Flöte von Sanssouci, Suite op. 88 (aufgeführt am 20. und 21. Dezember 1931)
    Zoltan Kodaly: Sommerabend (Uraufführung durch Furtwängler am 25. Januar 1931)
    Alexander Scriabin: Le poème de l'extase (aufgeführt am 22. und 23. Oktober 1922)
    Gustav Mahler: Sinfonie Nr. 1 (aufgeführt am 1. und 2. März 1925 sowie am 3. und 4. Februar 1929)
    Gustav Mahler: Sinfonie Nr. 3 (aufgeführt am 2. und 3. März 1924)
    Gustav Mahler: Sinfonie Nr. 4 (aufgeführt am 24. und 25. Januar 1932)

  • Das Problem ist ja keines von Fricsay - sondern eher ein Allgemeines.
    Im Falle von Fricsay muß ja gerechterweise eingeräumt werden, daß von ihm relativ viel auch heute noch zur Verfügung steht.


    Als die Jubiläum "100 Jahre Tonaufzeichnung" gefeiert wurde, war ich ein Endzwanziger.
    Als Stereo allmählich nicht nur im Studio - sondern auch in den Haushalten - Verbreitung fand
    , da war ich noch nicht einmal ein Teenager.
    Aber ich erinnere mich, daß damals einige Aufnahmeprojekte - ich spreche von Schallplattenfirmen - in Mono begonnen - und in Stereo beendet wurden. Es waren einige Werke in Mono, andere in Stereo vorhanden.
    Derartige Aufnahmen verkauften sich schlecht - anfangs, weil man das entspechende Equpment nicht hatte, später weil man die Mono-Technik für überholt hielt - und nicht "Schnee von gestern" kaufen wollte - Aufnahmen waren damals exorbitant teuer.
    Ich bin davon überzeugt, daß damals viel gelöscht wurde.
    Noch ärger war das im Falle von Tonaufnahem für den Rundfunk, welche ja eigentlich nur aus praktischen Erwägungen gemacht wurden (Man wollte damals den Pannen einer Livewiedergabe ausweichen)
    Aberr wenn das Band dan ein - oder (höchstens) zweimal gesendet war, dann hatte es seine Aufgabe quasi schon erfüllt -
    an eine spätere Verwertung war nicht gedacht, das ist erst ein Kind unserer Zeit, daß Rundfunkanstalten ihre Archive zu Tonträgerveröffentlichungen freigeben. Hier war wohl eher Geldnot und Pragmatismus im Spiele als künstlerische Erwägungen....


    Wie sieht es in Zukunft aus ?


    Irgendwann werden kommende Generationen die Auffassung vertreten, die Interpretationen vergangener Zeiten seien nicht mehr zeitgemäß. Ein Management, das heute (noch nicht einmal?) in den Windeln liegt wird ausrechnen was die Lagerung und Instandehaltung alter Tonträger denn koste, und wieviel Profit in Zukunft damit zu machen sein könnte..


    Und dann werden sie rechnen - und löschen......


    mfg aus Wien


    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !




  • Georg Friedrich Händel: Der Messias (aufgeführt in Sonderkonzerten November 1931)
    [...]
    Gustav Mahler: Sinfonie Nr. 1 (aufgeführt am 1. und 2. März 1925 sowie am 3. und 4. Februar 1929)
    Gustav Mahler: Sinfonie Nr. 3 (aufgeführt am 2. und 3. März 1924)
    Gustav Mahler: Sinfonie Nr. 4 (aufgeführt am 24. und 25. Januar 1932)


    Davon hätte ich zu gerne Aufnahmen (am besten natürlich aus einer späteren Zeit), besonders von Mahlers Dritter.



    Wie sieht es in Zukunft aus ?


    Irgendwann werden kommende Generationen die Auffassung vertreten, die Interpretationen vergangener Zeiten seien nicht mehr zeitgemäß. Ein Management, das heute (noch nicht einmal?) in den Windeln liegt wird ausrechnen was die Lagerung und Instandehaltung alter Tonträger denn koste, und wieviel Profit in Zukunft damit zu machen sein könnte..


    Und dann werden sie rechnen - und löschen......


    Das mag sein, allerdings darf man nicht vergessen, daß diese Aufnahmen dann bereits zigtausendfach unter Sammlern weltweit in Form von CDs, verlustfreien Dateien auf irgendwelchen Festplatten und zur Not auch noch auf alten LPs verbreitet sein dürften, ganz anders als in den 50er Jahren etwa. Würde man also die Masterbänder wirklich löschen, so wäre das nicht gleichbedeutend mit einem totalen Verlust.

    »Und besser ist's: verdienen und nicht haben,

    Als zu besitzen unverdiente Gaben.«

    – Luís de Camões

  • 1.) Das Deutsche Musikarchiv (DMA) in Leipzig sammelt alle in Deutschland erschienenen Tonträger und Noten. Es setzt seit 1970 die Tätigkeiten der Deutschen Musikphonothek (1961–1969) fort, zunächst als Abteilung der Deutschen Bibliothek, jetzt als Bestandteil der Deutschen Nationalbibliothek. Auf Grundlage der Pflichtstückverordnung von 1973 sind Musikverleger und Tonträgerhersteller verpflichtet, zwei Pflichtexemplare jeder ihrer Veröffentlichungen abzugeben. Ein Exemplar verbleibt im Deutschen Musikarchiv, das zweite wird zur Archivierung und Benutzung an die Musikalien- und Tonträger-Sammlung der Deutschen Bücherei Leipzig weitergegeben.(Quelle: Wikipedia)
    ..man findet die Aufnahmen im Netz hier:
    Katalog der Deutschen Nationalbibliothek
    Der Katalog umfasst die Bestände der Standorte Leipzig seit 1913, Frankfurt am Main seit 1945, die Bestände des Deutschen Musikarchivs seit 1976, sowie die Archivalien des Deutschen Exilarchivs 1933-1945 seit 2005. Enthalten sind in Deutschland seit 1913 erschienene Musikalien und Tonträger.


    2.) Und die Radio-Produktionen sind hier:
    Das Deutsche Rundfunkarchiv (DRA) ist eine Gemeinschaftseinrichtung der ARD mit den beiden Standorten Frankfurt am Main und Potsdam-Babelsberg. Das DRA verfügt über reichhaltige Bestände an Ton- und Bilddokumenten. Das Archiv umfasst wesentliche Teile der audiovisuellen Überlieferung in Deutschland und spiegelt die Entwicklung des Rundfunks seit seinen Anfängen, insbesondere aber der ARD und des Hörfunks und Fernsehens der DDR.


    Die rücken zwar - zumindest an uns private Sammler - nichts von ihren Schätzen raus, aber man kann zumindest in deren Datenbänken recherchieren.


    LG


    :hello:

    Harald


    Freundschaft schließt man nicht, einen Freund erkennt man.
    (Vinícius de Moraes)


  • Davon hätte ich zu gerne Aufnahmen (am besten natürlich aus einer späteren Zeit), besonders von Mahlers Dritter.


    Das sehe ich absolut wie Du. Weder von Haydns Schöpfung (die Furtwängler sowohl vor als auch nach dem Weltkrieg aufgeführt hat) gibt es Mitschnitte noch von Händels Messias (bei welchem ich nur von Aufführungen vor dem Weltkrieg Kenntnis habe). Bei den Mahler-Sinfonien, für die Furtwängler sich durchaus eingesetzt hat, muss man leider sehen, dass die NS-Machtergreifung 1933 beim reichseigenen Orchester - den Berliner Philharmonikern - die Mahler-Tradition jäh hat abreißen lassen. Leider, leider. Als Furtwängler endlich wieder Mahler dirigieren durfte, widmete er sich nur noch den Liedern eines fahrenden Gesellen (mit Fischer-Dieskau), führte aber keine der Sinfonien mehr auf. Wenn es also überhaupt Furtwängler-Mitschnitte der Mahler-Sinfonien irgendwo geben könnte, dann würden sie aus den Jahren bis einschließlich 1932 stammen. Die Vierte mit ihm und den Berliner Philharmonikern vom Januar 1932: das hätte doch was! Beim Salzburger Mitschnitt der Lieder eines fahrenden Gesellen merkt man schließlich, wie überzeugend er auch als Mahler-Interpret war.