Legenden auf dem Prüfstand: Mozarts Symphonien unter Böhm (1960–1969)


  • Karl Böhm unternahm es in den 60er Jahren, für die Deutsche Grammophon sämtliche Mozart-Symphonien erstmals komplett im Studio einzuspielen. Bis zum heutigen Tage genießt dieses Pionierprojekt einen legendären Ruf. Freilich, unumstritten sind diese Aufnahmen längst nicht mehr. Alternativen gab es seinerzeit nur eben kaum, so daß man, wollte man das gesamte symphonische Schaffen Mozarts kennenlernen, praktisch gezwungen war, auf Böhm zurückzugreifen. Während die späten Symphonien ab etwa der 35. noch heute oftmals empfohlen werden, spricht sich bei den frühen und mittleren heutzutage fast niemand mehr (offen) für den Grazer Maestro aus. ;)


    Wie seht ihr diesen Symphonien-Zyklus heute? Ist er noch zeitgemäß? Gibt es an "konventionellen" Aufnahmen (also nicht HIP) Alternativen, die ihr vorzieht?


    LG
    Joseph
    :hello:


    LEGAPS

    »Und besser ist's: verdienen und nicht haben,

    Als zu besitzen unverdiente Gaben.«

    – Luís de Camões

  • Kann man im Bereich der Musik davon sprechen, dass etwas überholt ist? Diese Ausdrucksweise und die damit verbundene Sichtweise ist nicht angemessen, und dennoch gibt es mitunter das Gefühl, dass Interpretationen ihre Zeit gehabt haben, und im Fortgang andere Interpretationen eine Musik so aufführen, dass mehr hörbar wird, die Zuhörer berührt, als es Interpreten zuvor vermocht haben. Nicht nur die Interpreten, sondern auch ihr Publikum sind Menschen ihrer Zeit mit den Hörgewohnheiten und Prägungen, in denen sie leben.


    Mozarts Symphonien unter Böhm waren für mich viele Jahre d e r Mozart. Andere Einspielungen z.B. Bernstein oder Solti (von Karajan gar nicht zu reden) konnten da nicht mithalten. Die einzige Alternative waren für mich Klemperers Einspielungen.


    Ich habe gemerkt, dass ich mit dem Erwerb der Einspielungen von Harnoncourt und Hogwood immer weniger zu Böhm greife. Als nicht HIP-Interpretation habe ich vor einiger Zeit die Prager Einspielungen von Charles Mackerras erstanden. Die Böhm-CDs habe ich inzwischen zumeist verschenkt, weil ich sie nicht mehr höre. Sie sind für mich als heutigen Hörer mit neueren Einspielungen im Ohr dann doch eher konventionell und etwas farblos musiziert. Aus nostalgischen Gründen habe ich Nr. 38 - 41 noch behalten:



    Alles hat seine Zeit. Das ändert nichts an dem Respekt für eine langzeitig mustergültige und prägende Mozart-Interpretation. Im Ohr auf Böhms Beethoven und Bruckner sehe ich seine Interpretationen keineswegs als überholt an. Es gibt für mich keine bessere Neunte von Beethoven und keine bessere Achte von Bruckner als die Einspielungen unter Böhm.


    Freundliche Grüße von Andrew

    „Nichts auf Erden ist kräftiger, die Traurigen fröhlich, die Ausgelassenen nachdenklich, die Verzagten herzhaft, die Verwegenen bedachtsam zu machen, die Hochmütigen zur Demut zu reizen, und Neid und Hass zu mindern, als die Musik.“

  • Also, da hat mir Andrew so richtig aus der Seele gesprochen:


    Zitat

    Mozarts Symphonien unter Böhm waren für mich viele Jahre d e r Mozart. Andere Einspielungen (...) konnten da nicht mithalten.


    Und weil das so ist, möchte ich diese Sichtweise auch in Zukunft nicht missen. Ich verschenkte ja füher auch viel an einen Freund, aber die hätte ich nie abgegeben und kommen mir auch heute noch nicht aus dem Haus! Auch wenn sie, wie hier dargelegt, überholt sein mögen. Ich mag mich von Böhm einfach nicht trennen. :no:
    Auch, weil


    Zitat

    Alles hat seine Zeit. Das ändert nichts an dem Respekt für eine langzeitig mustergültige und prägende Mozart-Interpretation.


    Freundliche Grüße

    .


    MUSIKWANDERER

  • Ich bin nicht ganz sicher, wie vollständig die gewesen ist, aber es gab vor Böhm schon eine (teils mono) GA unter Leinsdorf. Von der habe ich aber auch erst bei ihrer späten CD-Wiederveröffentlichung erfahren. Ungeachtet des Gelbettiketts stammt sie ursprünglich ganz sicher nicht von der DG (vielleicht Westminster?)



    Bei den frühen Sinfonien dürfte Böhm lange schlicht aufgrund der Vollständigkeit de facto konkurrenzlos gewesen sein. Krips hat nur die ab Nr. 21 aufgenommen, die in den 1970ern bei Philips dann durch eine Einspielung der frühen unter Marriner sozusagen vervollständigt wurde. Krips und Böhm geben sich meiner Erinnerung nach nicht viel (ich habe Böhms 38-41 und etliche der 20er und 30er mit Krips auf LP), Marriner für die ganz frühen ist naturgemäß spritziger


    Meiner Minderheitsmeinung nach war Böhm (Krips auch nicht) allerdings bei den bekannteren Sinfonien schon seinerzeit nicht die erste Wahl: Klemperer hat 25, 31 und 33-41 eingespielt (evtl. noch weitere, nicht alle gleichermaßen gelungen), die späten ab ca. 35 lagen natürlich schon damals in diversen Einspielungen vor, für 40 z.B. Furtwängler, Schuricht, E. Kleiber, die alle den gemütlichen Böhm in Punkto Intensität und Drama weit hinter sich lassen, für 35 und 41 Szell und Fricsay, für 38 Peter Maag oder Markevitch usw.

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • Ich kann nur zu den letzten sechs Sinfonien etwas sagen. Karl Böhm finde ich irgendwie zu glatt, zu belanglos. Ich bin froh, andere Aufnahmen zu kennen - sonst hätte ich diese Musik nach dem ersten Hören vermutlich wieder weggelegt. - Ich möchte sagen, dass ich die Wagner- (Ring, Tristan), Strauss- (Elektra, Ariadne, FroSch, Daphne und Capriccio) und Alban-Berg-Opernaufnahmen unter Böhm sehr schätze! Ebenfalls die Haydnschen Jahreszeiten. Nur der Mozart, der ist mir zu glatt, zu gefällig, zu nivelliert. IMHO war Mozart bei weitem nicht so harmlos, wie Böhm uns glauben machen will.


    Böhms Mozart ist vielleicht mehrheitsfähig. Aber - und jetzt sage ich etwas ganz Böses, und es wird Böhm sicher nicht gerecht - das ist die "Krone" und die "Bild-Zeitung" auch. Auch bei den Sinfonien ziehe ich Klemperer vor, wenn es denn non-HIP sein soll.

  • Über Böhms Mozart könnte ich stundenlang schreiben.
    Beginnen wir mit der Aussage:


    Zitat

    Mozarts Symphonien unter Böhm waren für mich viele Jahre d e r Mozart. Andere Einspielungen (...) konnten da nicht mithalten


    Und so ist das für mich - und viele andere noch heute.


    Allerdings git das vorzugsweise für die späten Sinfonien, die frühen sind sich für "Hip- Interpretationen" besser geeignet.
    Das liegt unter anderem vor allem daran, daß man früher Mozarts frühe Sinfonien nicht ernst genommen hat, und sie allenfalls als Vorstufe späterer Genialität akzeptiert hat.
    Böhms Aufnahmen dieser Sinfonien wurden von seinen Feinden stets derartige "heruntergemacht", daß ich dann als ich einige von ihnen hörte, recht überrascht war, wie gut sie dennoch klangen.


    Aber kommen wir zu den späteren Sinfonien. Es gibt hier die Aufnahmen mit den Berliner Philharmonikern, welche ein wenig unter dem subastanzarmen Klang der Deutschen Grammophon leiden, soll heissen sie sind ein wenig dünn, dennoch nicht über alle Maßen durchsichtug und räumlich. Einige dieser Sinfonien -zumindest die Nummern 29 und 35 sowie 38-41 hat Böhm jedoch auch mit den Wiener Philharmonikern aufgenommen. Diese Aufnahmen sind voluminöser ohne dick zu klingen und im Klang natürlicher. (leider z.Z teilweise gestrichen)



    Böhm war - wenngleich nicht allein am Markt - erste Wahl. Ex Equo mit Joseph Krips - dazu weiter unten im Text - näheres.


    Ist Böhm heute überholt ? Kann Musik überholt sein ?


    Es scheint so. Aber das sind nur vorübergehende Modeerscheinungen, es gab ja auich eine gewisse Zeit wo man den Jugendstil als Kitsch bezeichnete und Mahler geringschätzte.


    Böhms Mozart ist keineswegs "belanglos". Ob er "glatt" - das vermag ich nicht zu beurteilen - wenn unter "glat" das Gegenteil von "rauh" gemeint ist, dann pflichte ich sogar bei.
    Ich würde Mozarts als "elegant, melodiös, federnd, strahlend, triumphierend" bezeichnen.
    Böhm bezieht seine Spannung indes nicht aus dem Tempo, bzw nicht aus einem überdrehten Tempo oder radikalen Überraschungseffekten, Böhm verändert das Tempo wo nötig , stets unauffällig aber konsequent.
    Eine der Aussagen die ich stets zu seinem Dirigat gemacht habe, war, daß man bei ihm stets das Gefühl hatte: "So und nicht anders muß das klingen"


    Böhm konnte leicht und luftig dirigieren - und dann wieder herb und kraftvoll - nie aber vulgär oder unangenehm.
    Die Mozartwelt der Zeit lag ihm zu Füssen - und Herbert von Karajan akzeptierte ihn als den "besseren" Mozartdirigenten.


    Ich werde zum Thema dem nächst den Thread "Wer ermordete Wolfgang amadeus Mozart ? " wo ich vergangene Mozartinterpretationen gegen heutige stellen werde, dies aber nur am Rande.


    Wenn wir Böhm mit Krips (nur in Bezug auf die Mozart Sinfonien bezogen ) vergleichen, dann besteht hier doch ein gewaltiger Unterschied: Die Einspielungen von Krips für Philips waren herber und strenger, manche mögen sie Böhm vorgezogen haben - aber leider ging diese Eigenart beim Remastering für die CD weitgehend verloren - die Aufnahmen klingen belangloser....schade.


    Vielleicht ist die Ursache für die "Missachtung " Böhms eher darin begründet, daß die Gesellschaft, die heute Klassik hört, unterschiedlich von jener war, aus denen sich Böhms Publikum zusammensetzte. Mahler wurde damals teilweise noch scheel angesehen, die Moderne weitgehend gemieden - gesucht war das Edle, Erhabene, Schöne. Diese Bedürfnisse wurden unter anderm vom "Manager" Karajan und vom Grandseigneur Böhm abgedeckt....


    Der Vergleich von Böhm mit Krone und Bildzeitung passt hier insofern nicht, als die Klientel eine andere war,
    einer der glühendsten Bewunder und Förderer Böhms war der Wiener Industrielle und Kunstmäzen Manfed Mautner von Markof


    mfg
    aus Wien

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Wie schon im "Legenden auf dem Prüfstand"-Thread zur Zauberflöte gesagt:


    Böhm setzt bei Mozart sein ästhetisches Konzept perfekt um. Aber das Konzept ist halt diskutabel.


    Böhms Mozart ist mehrheitsfähig, weil er niemandem wehtut und orchestral auf höchstem Niveau ist und weil alles, was in dieser Musik an Kantigen, Verstörenden enthalten ist, nivelliert wird. Dass Karajan diese Fähigkeit Böhms bewunderte, widerspricht ja nicht meiner These. Auch Karajan wird ja nachgesagt, dass er manche Werke tendenziell harmonisierte.


    Mozart war eben nicht nur das Edle, Erhabene, Schöne. Wobei diese Werte ja auch erst im Biedermeier zusammengestellt wurden ... dem "Wahren, Guten, Schönen" ... also in Sachen Mozarts ohnehin anachronistisch. (Was war im Don Giovanni, im Figaro, im Cosi edel, erhaben und schön? - Sogar die Zauberflöte betont eher das Humane: "Mehr noch - er ist ein Mensch" und stellt dies über den edlen und schönen Prinzen.) Man lese die Mozart-Briefe. Sogar Beethoven sagte, Mozart habe am Klavier ein "gehacktes" Spiel gehabt. Als nix mit edel, schön und erhaben. Non-legato und kantig. Mit Beethoven kam das große Sostenuto, das Böhm so feierlich zelebrieren kann.


    Biedermeier und Böhm passt (für mich) sogar sehr gut zusammen.


    Es ist ja völlig in Ordnung, wenn man Böhms Mozart mag. Wobei zwischen "Mozart" und "Böhms Mozart" halt ein deutlich wahrnehmbarer Unterschied ist. Aber das gilt wohl für alle Mozart-Bilder. - Es ist wie mit einem schönen Liebesroman: Eine geschönte Welt ist halt immer angenehmer (eleganter, strahlender, triumphierender) als die Wirklichkeit. Manchmal ist es ja ganz schön, so etwas zu konsumieren. Warum auch nicht. Man tut damit ja niemandem weh.

  • Lieber Wolfram


    Deine Ausführungen sind - wenngleich mit meinen nur bedingt kompatibel - sehr interessant - und auch wertvoll.


    Ich möchte an dieser Stelle jedoch einige Anmerkungen machen, und zwar warum Böhm als Mozart Dirigent so berühmt wurde, bzw welche Eigenheiten man ihm zugeschrieben hat - bzw was an seinen Aufnahmen so besonders war - und warum sie heute auf einige "antiquert wirken.
    Und nicht zuletzt - warum ich mich für Böhm einsetze.


    Beginnen wir ausnahmsweise beim zuletzt angeschnittenen Punkt.


    Eigentlich ist Böhm ja kein Einzelkämpfer, sondern eine musikalische Gallionsfigur einer bestimten Zeit.
    Böhm hat sozusagen den Geschmack seiner Zeitgenossen bedient - steht somit als Monolith für den Mozartstil der 50er bis 70er Jahre des 20. Jahrhunderts. dieser Stil zeichete sich durch einen eleganten, polierten Charakter aus und wurde von Publikum und (zeitgenössischer) Kritik gleichermaßen als Maß aller Dinge gefeiert. Der "Zuckerguß-Mozart" war nun Vergangenheit, das Dirigat war "männlich und erdverbunden" und dennoch silbrig filligran, wo es erwartet wurde.


    Und hier sind wir an einem ganz wichtigen Punkt angelangt. Hätte Böhm damals so dirigiert, wie es heute in Mode ist - das Publikum hätte ihn ausgebuht - die Kritik vernichtet.
    Wir lernen daraus (oder zumindest ich tue es) daß man - will man zu Lebzeiten erfolgreich sein - dem Zeitgeschmack - zumindest in Grundzügen - Rechnung tragen muß. Tut man es nicht, so wird man allenfall 30 Jahre nach seinem Tod berühmt. Ein riskantes Unterfangen.


    Nun wechselt aber der Zeitgeschmack - und was gestern verpönt war wird heute bejubelt - und umgekehrt.
    Wir müssen also- wenn wir alte Tonaufzeichnungen hören - sie mit historischem Hintergrundwissen auf uns einwirken lassen. Wenn wir das nicht tun, dann werden die Interpretationen auf uns wirken wie ein altes Modejournal, oder eine 40 Jahre alte wissenschaftliche Fachzeitung. Auch klassische Musik ist nicht zeitlos - sie unterliegt gewissen Moden.
    Da die jüngere Generation jedoch oft bewusst manipuliert wird kommt sie oft gar nicht in den Genuss gewisser Aufnahem, weil man sie schon a priori als "langweilig" in den Medien präsentiert, teilweise, weil man das echt so empfindet, teilweise aber, weil man mit den Musikern der Vergangenheit eine alte Rechnung begleichen will........


    Böhm wird ja unter anderem gern als "Leutschinder" der sein Orchester tyrannisiert dargestellt.
    Das stimmt - und stimmt auch nicht.
    Denn er war Perfektionist und wollte stets den Klang so entwickelt haben, wie er es sich vorstellte.
    Um dies zu erreichen war ihm jedes Mittel recht.
    Dies entsprach aber ganz dem Trend der Zeit in der er lebte.



    Ich versuche also einem Dirigenten, der mein Mozartbild geprägt hat, Gerechtigkeit widerfahren zu lassen.
    Nicht mehr und nicht weniger.


    Aber vielleicht schreiben noch einige über die Mozart Sinfonien dieses Dirigenten...



    mfg aus Wien


    Alfred



    PS: Das mit dem abgehackten Klavierspiel Mozarts ist mir neu - werde aber bei Gelegenheit recherchieren

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Ich versuche also einem Dirigenten, der mein Mozartbild geprägt hat, Gerechtigkeit widerfahren zu lassen.
    Nicht mehr und nicht weniger.

    Das sehe ich auch so, trotzdem gefallen mir diese Aufnahmen besser:



    LG, Bernward


    "Nicht weinen, dass es vorüber ist
    sondern lächeln, dass es gewesen ist"


    Waldemar Kmentt (1929-2015)


  • PS: Das mit dem abgehackten Klavierspiel Mozarts ist mir neu - werde aber bei Gelegenheit recherchieren


    Ich meine, diese Aussage Beethovens sei durch Czerny überliefert - vielleicht trügt mich meine Erinnerung aber auch.

  • Tamino Beethoven_Moedling Banner
  • (Habe gerade festgestellt, dass meine LPs sogar mit den Wienern, nicht den Berlinern sind; wenn ich irgendwann mal wieder ein funktionierendes LP_setup haben sollte...)


    Es bringt m.E. nicht viel weiter, wenn man immer wieder das Offensichtliche betont: Ja klar, Böhm war der "Mozartpapst" über 30 Jahre lang, ja, HIP-Aufnahmen klingen anders. Das ist alles völlig unbestritten.
    Daher führe ich, wenn ich die Meriten dieser Aufnahmen relativieren will, eben auch nicht Harnoncourt oder Minkowski als Vergleich an, sondern Klemperer, Markevitch, Maag, E. Kleiber, Szell, Furtwängler und teilweise Fricsay. Wie gesagt kann ich die LPs z. Zt. nicht anhören. Aber der Herbheitsunterschied zwischen Krips und Böhm, wenn überhaupt vorhanden, entspricht vielleicht dem zwischen "lieblich" und "halbtrocken" wohingegen Szell oder gar Klemperer dann als "extra dry" eingeordnet werden müssten. ;)
    (Die Opern unter Böhm sind m.E. oft eine andere Sache, weil hier die Kombination aller Aspekte zu zweifellos hervorragenden Aufnahmen geführt hat.)


    Es ist daher einfach nicht wahr, dass es seinerzeit nur eine Mozart-Lesart akzeptiert worden sei und es nicht angesehene Alternativen zum Böhmschen Mozartstil gegeben hätte, nämlich z.B. alle vorweg genannten. Wenngleich keiner eine GA vorgelegt hat. (Kennt irgendjemand die Leinsdorf-Aufnahmen oder weiß Näheres darüber?)
    Dieser Einsatz für die frühen Sinfonien ist sicher lobenswert und die Einspielung hat sicher nicht zu unrecht vier Jahrzehnte als solide Basisempfehlung überdauert. Freilich ist das Interesse der meisten Hörer an den Sinf. 1-24 vergleichsweise gering (wovon ich mich nicht ausnehmen will).

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  • Zitat von »Alfred_Schmidt« PS: Das mit dem abgehackten Klavierspiel Mozarts ist mir neu - werde aber bei Gelegenheit recherchieren


    Ich meine, diese Aussage Beethovens sei durch Czerny überliefert - vielleicht trügt mich meine Erinnerung aber auch.


    Lieber Alfred,


    ich habe meine Quelle für diese Aussage wiedergefunden. Es ist die "Orgelschule zur historischen Aufführungspraxis" von Jon Laukvik, Teil 1 "Barock und Klassik", 4. Aufl., 2000, Carus-Verlag. Auf Seite 29 macht Laukvik einige einleitende Bemerkungen zum Thema "Artikulation", zitiert die Schulen von C. Ph. E. Bach und D. G. Türk, nach denen Noten im Normalfall nicht so lange ausgehalten werden, wie notiert, sondern nur ungefähr den halben Wert (C. Ph. E. Bach) oder nur ungefähr dreiviertel bis sieben Achtel ihres Wertes (D. G. Türk). In jedem Falle ist das "normale Spiel" ein non-legato. - Im vorletzten Absatz a. a. O. schreibt er dazu:


    " [ ... ] von Bedeutung ist Beethovens Zeugnis, welches die lange Kontinuität dieser Spielweise belegt, Mozart habe ein feines, aber zerhacktes Spiel gehabt, kein ligato. Ähnlich lautende Zitate aus italienischen Quellen ließen sich ebenfalls anführen."


    Als Quelle für das Beethoven-Zitat führt er an: Molsen, Uli: Die Geschichte des Klavierspiels in historischen Zitaten, Musikverlag Uli Molsen, Balingen-Endingen 1982, S. 46. - Diese Quelle habe ich allerdings nicht überprüft.


    Man erkennt daran, dass das Legato- und Sostenuto-Spiel eventuell erst mit Beethoven auf die Welt kam, jedenfalls aber für Mozart noch unüblich war.

  • Vermutlich hängt das auch mit den zur Verfügung stehenden Instrumenten zusammen. Andererseits haben schon JS und CPE Bach in ihren pädagogischen Ausführungen "cantables" Spiel als Ziel des Clavierspielers genannt.
    Grundsätzlich muss man bei all diesen Quellen aufpassen, ob nicht aus Gründen der Deutlichkeit oder wegen der Konkurrenz unterschiedlicher Schulen und entsprechender Polemik, Unterschiede, die man eher als Nuancen sehen würde, extrem übertrieben ausgedrückt werden.
    Selbst Beethoven, der Mozart gewiss nichts am Zeug flicken will, möchte vermutlich auf die Neuartigkeit seines pianistischen (und kompositorischen) Stils möglichst deutlich hinweisen.

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  • Lieber Johannes,


    es ist natürlich off topic. However: "cantables" Spiel wurde im 19. Jhd. und über weite Teile des 20. Jhd. mit "legato" bis "legatissimo" übersetzt. Man hatte eventuell die großen Linien bei Bellini, Wagner oder (später) Puccini im Ohr. Diese Übersetzung greift aber zu kurz.


    Überlegen wir, was "cantabel" in einer Barockoper heißt (man denke eben auch an Rezitative!) oder was barocke Gesangslehren berichten, so stellen wir fest, dass zum Singen eben nicht nur Cantilenen auf Vokalen gehören, sondern auch die Strukturierung durch Konsonanten, die Deutlichkeit der Sprache und die Vermittlung eines scharf definierten Affektes. Das kann im Extremfall ein Superlegato sein, ist aber im Normalfall etwas viel Reicheres, was Harnoncourt mit "Klangrede" beschrieben hat.


    Wer "cantabel" spielt, muss also den Sinn einer instrumentalen Linie so darstellen, wie ein Sänger es täte, wäre die Linie mit Text unterlegt. Denke mal an das Thema vom ersten Satz des 3. Brandenburgischen Konzertes und denk Dir einen Text dazu aus - "Lasst uns gehn, lasst uns gehn, nicht mehr hier wolln wir stehn, denn was wir um uns sehn ist überhaupt nicht schön" oder sonst ein Blödsinn. "Cantables Spiel" wäre hier bestimmt kein Legato, sondern ein klar gegliedertes, deutlich artikuliertes Spiel, das sich überlegt, welches Noten betont zu nehmen sind und welche nicht - wie ein guter Redner oder Sänger. Das ist "cantabel".


    Es ist natürlich richtig, dass selbst die besten Schulen oft das (für sie) Selbstverständliche gerade nicht beschreiben und daher das Besondere hervorheben - wodurch sich für uns ein falsches Bild ergeben mag, vor allem beim oberflächlichen Lesen. Dass das non-legato Standard war, ist aber völlig unbestritten.

  • Nach vielen Jahren mal der Versuch einer Wiederbelebung dieses Threads.



    46 Symphonien von Mozart hat Karl Böhm in den 1960ern mit den Berliner Philharmonikern eingespielt. Geht es um Vollständigkeit, dürfte diese Gesamtaufnahme unter den konventionellen Interpretationen (also nicht HIP) auch heute noch ihren Stellenwert besitzen.




    Zurecht wurde auf die späteren Aufnahmen mit den Wiener Philharmonikern hingewiesen. Auf LP und später auf CD erschienen sind Nr. 29, 35, 38, 39, 40 und 41. Eingespielt wurden diese in den letzten Lebensjahren Böhms, genauer gesagt 1976 (40, 41), 1979 (38, 39) und 1980 (29, 35). Die Deutsche Grammophon hat dieses Projekt schlichtweg zu spät gestartet. Mittlerweile findet man die teilweise vergriffenen Aufnahmen in der Box "Late Recordings".



    Allerdings ist das nur die halbe Wahrheit, denn parallel zu diesen Studioeinspielungen für LP hat man Unitel-Filmproduktionen einiger Symphonien gemacht (Regie: Hugo Käch). Diese liegen in einer Box mit 3 DVDs vor, die sich wie folgt aufgliedern:


    DVD 1: Nr. 29, 40, 41 (Musikvereinssaal, 4.-16. Juni 1973); Nr. 34, 35, Menuett KV 409 (Musikvereinssaal, 12.-14. November 1974)
    DVD 2: Nr. 36, Eine kleine Nachtmusik (Musikvereinssaal, 12.-14. November 1974); Nr. 1, 25, 31, 38 (Wien-Film, 9.-17. Mai 1978)
    DVD 3: Nr. 33, 39 (Wien-Film, 14.-17. April 1969); Nr. 28 (Musikvereinssaal, 16.-18. September 1970); Serenata notturna (Musikvereinssaal, 12.-14. November 1974)


    Es ist also ein Zeitraum von 1969 und 1978 umfasst. Die Aufnahmen entstanden mit den Wiener Philharmonikern; die einzige Ausnahme stellen Nr. 33 und 39 dar, die mit den Wiener Symphonikern gemacht wurde. Sieht man sich die Aufnahmedaten an, kommt man zum Schluss, dass jeweils über mehrere Tage hinweg mitgeschnitten wurden. In den Musikvereinsaufnahmen ist zwar Publikum dabei, doch praktisch nicht hörbar. Die Aufnahmen von Wien-Film sind Studioaufnahmen.


    Als Bonus ist auf der dritten DVD die interessante Dokumentation "Ich erinnere mich" anlässlich des 100. Geburtstages von Karl Böhm 1994 beigegeben.


    Es wäre zu begrüßen, kämen mal irgendwann die reinen Tonspuren der bislang nicht abgedeckten Symphonien aus Wien auf CD heraus, denn an Nr. 1, 25, 28, 31, 33, 34 und 36 kommt man bislang nur via DVD.

    »Und besser ist's: verdienen und nicht haben,

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    – Luís de Camões