Was ist die Aufgabe der Kunst?

  • Was ist die Aufgabe der Kunst? Hat sie überhaupt eine Aufgabe? Soll sie den Menschen bessern, belehren, läutern, geistig bereichern, unterhalten, zerstreuen? Soll sie eine nette Abwechslung vom Alltag und Verschönerung und äußere Zier unseres Daseins sein oder soll sie uns als ganzen Menschen ergreifen, packen, erschüttern, reinigen, wandeln?


    Warum hört Ihr Musik? Berieselung? Selbsterkenntnis? Status? Bildung?


    Ein paar Zitate:

    „Musik - und insbesondere jene des 18. und beginnenden 19 Jahrhunderts - ist ein willkommener Gegenpol zur heutigen Welt, in den man sich gerne flüchtet. Dazu gehört natürlich auch das Umfeld. Ein erlesener Kreis von Menschen hört in erlesener Umgebung erlesene Musik.“ (Alfred Schmidt)


    „Aufgabe von Kunst heute ist es, Chaos in die Ordnung zu bringen“ (Theodor W. Adorno)


    "Alle Kunst ist zugleich Oberfläche und Symbol." (Oscar Wilde)


    „Der wahre Künstler stellt sich die Frage gar nicht, ob sein Werk verstanden werden wird oder nicht." (Adalbert Stifter)


    „Kunst will, dass man sich an ihr reibt! Ich glaube Kunst hilft uns spiritueller zu werden und das wiederum hilft uns mehr Eigenverantwortung zu entwickeln für den Umgang mit Techniken, mit Gedankenwelten und dem was wir tun.“ (Lothar Späth)


    „Meine persönliche Theorie ist: Der Mensch macht Kunst, weil er träumt. Und weil er diesen Zustand einer anderen, möglichen Welt, die er im Traum als real empfindet, in dieser Welt nachbauen will, gibt es Kunst." (Christoph Wackernagel)


    "Und wahrlich! Preis und Dank gebührt // Der Kunst, die diese Welt verziert." (Wilhelm Busch)


    „Wir wissen nun, dass die Kunst nicht die Wahrheit ist. Die Kunst ist eine Lüge, die uns erlaubt, uns der Wahrheit zu nähern, zumindest der Wahrheit, die uns verständlich ist." (Pablo Picasso)

    Dieser Thread ist gleichermaßen inspiriert von den Regietheater-Threads (wo es meiner Meinung nach implizit immer darum geht, welche Funktion Kunst haben soll) und vom Avantgarde-Thread.


    Ich bin gespannt auf Eure Antworten!

  • Was ist die Aufgabe der Kunst? Hat sie überhaupt eine Aufgabe? Soll sie den Menschen bessern, belehren, läutern, geistig bereichern, unterhalten, zerstreuen? Soll sie eine nette Abwechslung vom Alltag und Verschönerung und äußere Zier unseres Daseins sein oder soll sie uns als ganzen Menschen ergreifen, packen, erschüttern, reinigen, wandeln?

    Eindeutig und entschieden: ja.


    Kunst ist ein mit einer über die Realität hinausweisenden Aussage versehenes Abbild der Realität in allen ihren Facetten mit den Mitteln, die die jeweilige Kunstform zur Verfügung stellt in der individuellen Ausdruckform des Künstlers mit den von diesem bestimmten Inhalten.


    Insofern kann und soll sie das, was der Künstler mit ihr beabsichigt, und sie hat Nebenwirkungen, die der Künstler möglicherweise nicht absehen konnte. Über Deine Auflistung hinaus kann und soll sie z. B. auch beeinflussen, täuschen, indoktrinieren, das sie ausübende Individuum befreien, politisieren, missbrauchen und missbraucht werden. Kunst ist nicht besser oder schlechter als die Menschen, die sie ausüben oder die sie wahrnehmen. Kunst ist eben wie das wahre Leben. Sie ist, was sie ist: Kunst.


    Und das wird sich, meine ich, für jede Kunstform im Einzelnen, wenn man denn differenzieren wollte, so bestätigen.


    Das alles schließt nicht aus, dass das einzelne Kunstwerk oder die einzelne künstlerische Darbietung nur Bruchteile der gesamten Realität heruasgreift oder besonders betont und andere Bruchteile vernachlässigt oder zurückdrängt. Nicht jede Sinfonie ist im Mahlerschen Sinn die Welt in ihrer Gänze. Aber in ihrer Gesamtheit schließt Kunst keine der Facetten der Realität von sich aus.

  • ... und natürlich - um eine der wichtigsten Aufgaben der Kunst nicht zu vernachlässigen: Eine Aufgabe der Kunst ist es, Gott zu loben. Ob das Gotteslob nun möglicherweise Ziel und Zweck der größten Teilmenge der Kunst ist, oder den Grund für jedenfalls einen bedeutenden Anteil von Kunst gelegt hat und immer noch legt - es dürfte sich um eine der stärksten Kräfte handeln, die sich in der Kunst äußern.

  • Hallo Wolfram,


    du hast in deinem Beitrag schon gezeigt, wie verschieden die Auffassungen über Kunst sind. Ich stelle hier einmal in den Raum, dass ein Kunstwerk ein vollendetes Werk ist, und da sind wir nun wieder bei der Auffassung, die ja viele von uns haben, dass jede Veränderung durch andere als den Künstler selbst eine Zerstörung des Kunstwerks ist und nicht mehr als Werk des ursprünglichen Künstlers ausgegeben werden kann. Das Kunstwerk muß also in seiner reinen und ursprünglichen Form den Menschen ergreifen, packen, erschüttern, reinigen, wandeln. Da bin ich gleicher Meinung mit dem von Ullrich zitierten Günter Wand, den ich als Dirigenten sehr geschätzt habe: Könnten Sie das Werk einmal so spielen, wie Beethoven es geschrieben hat, ohne fremde Zusätze?


    Liebe Grüße
    Gerhard

    Regietheater ist die Menge der Inszenierungen von Leuten, die nicht Regie führen können. (Zitat Prof. Christian Lehmann)

  • Da bin ich gleicher Meinung mit dem von Ullrich zitierten Günter Wand, den ich als Dirigenten sehr geschätzt habe: Könnten Sie das Werk einmal so spielen, wie Beethoven es geschrieben hat, ohne fremde Zusätze?

    Aber spielen musst Du es schon, das Werk. Insofern es nämlich Musik ist, das Kunstwerk - das hat auch Günter Wand so gesehen. Das entsteht nämlich als solches erst ab dem Augenblick, in dem es interpretiert, zu Gehör gebracht wird. Vorher ist es nur ein Blatt Pergament mit Linien und Klecksen darauf. Von daher sind bei Musik per definitionem eine ganze Menge Leute beteiligt, um das Kunstwerk zu "vollenden". Und weitere, um es zu hören.


    Generell scheint mir, dass Kunst (unter anderem) ein Mittel der Kommunikation ist, gleich in welcher Ausdrucksform. Maler, Schriftsteller, Komponisten - nur wenige von Ihnen dürften gezielt für die Schublade geschrieben haben. Wenn das Kunstwerk aber kommunikativ gedacht ist, ist auch das Bild, der Roman erst vollendet in der Zwiesprache mit dem Rezipienten.


    Also hier ein weiteres Ziel von Kunst: die Kommunikation.

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  • Auf die Gefahr hin hier wieder einemal mehr als "Trottel", der nichts von Kunst versteht (dazu später mehr) hingestelt zu werden, beiteilige ich mich dennoch an diesem Thread.
    Zunächst muß gesagt werden, daß der Kunstbegriff sich im Laufe der Jahrhunderte (man muß sagen "leider") stark gewandelt hat,. Ursprünglich standen jene Fähigkeiten, die wir heute mit "SKILLS" umschreiben würden im Vordergrund. Jener Maler, der die menschliche Haut, die Oberflächen von diversen Materalien am realitätsnähesten wiedergeben konnte, das war der anerkannteste Künstler. Später legte man dann noch auf weitere Fähigkeiten wert, beispielsweise bei Portraits den Charakter einer Person bildlich festzuhalten, oder aber günstig zu verfälschen ohne daß der Wiedererkennungswert der dargestellten Person dadurch in Mitleidenschaft gezogen wird.
    Es war der handwerkliche Aspekt der Kunst nicht zu übersehen - Kunst wurde etwa als verfeinerte Handwerkskunst gesehen. Der heute meiner Meinung nach überschätze Aspekt der "Originalität" wer nur von sekundärer Bedeutung.
    So beklagte sich die Witwe von Albrecht Dürer beim Dogen von Venedig, daß immer wieder Werke ihres verstorbenen Mannes in Italien nachgestochen würden, was einen Betrug am Kunden darstelle (Sie musste so argumentieren, denn ein Copyrightschutz existierte noch nicht). Die vom Dogen eingesetzte Kommission kam nach eingehender Untersuchung zu dem Schluß, daß die Kopien genauso Kunstwerke seien wie das Original, der Kunde sei somit betrogen...


    Kommen wir zur Musik: In der Renaissance und im Barock, ja auch zu Beginn der Klassik, war der Komponist lediglich ein "Edellakai" dessen Aufgabe allein darin bestand, den erlesenen Geschmack seines Dienstherrn zu befriedigen.


    Erst in neuerer Zeit maßen sich "Künstler" an, ihre eigenen Kunst zu definieren, wobei das Publikum keine bedeutende Rolle mehr spielt. Man bedient sich des Kunstkniffs, der schon in alten Märchen entlarvt wurde, nämlich zu postulieren, daß jeder, der diese Kunst nicht als solche erkennen könne, ein Dummkopf sei....


    Zitat

    Kunst ist ein mit einer über die Realität hinausweisenden Aussage versehenes Abbild der Realität.

    Im bereich der Bildenden Künste würde ich das unterschreiben - allerdings mit der Einschränkung, daß die Spielregeln der Ästhetik das Maß aller Dinge zu sein haben.
    Das wurde auch sehr lange (von Ausnahmen abgesehen) eingehalten.
    Ein sterbender Held sollte stets das erhabene Heldentum verkörpern, nicht eine krepierende Kreatur oder einen verwesenden stinkenden Leichnam. Kunst ist - wo dies Möglich ist Erhöhung, Symbolisierung und Verklärung der Realität.


    Es wurde weiter Opern Gott ins Spiel gebracht, welcher verherrlicht werden solle.
    Ich sehe das im Detail ein wenig anders, verherrlicht werden sollte der Mensch, wobei hier vorzugsweise der (adelige) Auftraggeber gemeint war. In späterer Zeit übernahm das gehobene Bürgertum diese Rolle.


    Zitat

    Aufgabe von Kunst heute ist es, Chaos in die Ordnung zu bringen“ (Theodor W. Adorno)

    Was soll ich DAZU sagen? Dieser Adorno war mir immer schon widerwärtig und ich habe nie verstanden, warum er immer wieder zitiert wird.


    Kunst soll Farbe und Form, Wohlklang und Harmonie in den widerwärtigen Alltag bringen, sie soll mich erfreuen und erbauen - nicht aber frustrieren, ärgern oder Unruhe verbreiten.


    mfg aus Wien


    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Kunst kommt von "Können", käme es vom "Wollen", hieße es Wunst.


    Hat immer noch was, trotz aller relativierenden Performance-Installations-Wünstler.

  • Kunst kommt von "Können", käme es vom "Wollen", hieße es Wunst.


    Ein schönes Zitat von August Everding... :thumbup:

    Grüße aus der Nähe von Hamburg


    Norbert


    Das Beste in der Musik steht nicht in den Noten.

    Gustav Mahler



  • Also ich hätt ja fast geschworen, dass ich es bereits von Karl Valentin hörte :hello:


    Wie so oft, hilft auch hier in ihrer unendlichen Weisheit Wikipedia weiter:

    Zitat

    Kunst kommt von Können, nicht von Wollen: Sonst hieß es „Wulst.“

    habe erstmals Ludwig Fulda in Heft 15 des Magazins für Litteratur vom 14. April 1894 geschrieben. Alle späteren Zuschreibungen an Karl Valentin, August Everding, Joseph Goebbels oder viele andere können's also nicht sein. Vorhergegangen seien Sätze wie "Kunst kommt von Können" in Johann Gottfried von Herders Kalligone (1800) oder Johann Leonhard Frischs Teutsch-lateinischem Wörter-Buch (1741).


    Kennzeichnend ist, wie ich finde, dass wir die Sentenz auch heute noch oder wieder in der ihr durch die Nazis zur Diffamierung "entarteter Kunst" verliehenen Missbrauchsform verwenden, um missliebige Kunstformen bildgewaltig aus dem Kunstbegriff auszuschließen.


    Hiervon einmal abgesehen, scheint mir die Sentenz sich eher auf eine Teilfertigkeit der Kunstausübung zu beziehen, die vielleicht eher mit Kunsthandwerk umschrieben werden könnte, oder: handwerkliche Fähigkeiten als Voraussetzung der Kunstausübung. Ob diese Einschränkung mit Bezug auf die Threadfrage wohl wirklich weiterhilft?

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  • Wenn die Nazis die Lieder der Jugendbewegung vor 1933 für ihre "Zwecke" - Zwecke müsste durch sehr viel drastischere Worte ersetzt weden - mißbraucht haben, bleiben es erst recht die "Lieder der Jugendwegung"!!!


    Das sollte auch für für "1894 Ludwig Fulda" gelten - oder verwechsle ich da was?


    Was für die kunsthandwerklichen Fähigkeiten eines Kunstmalers zutrifft, dürfte für die entspr. Fähigkeiten eines Komponisten ebenfalls zutreffen.

    Wer die Musik sich erkiest, hat ein himmlisch Gut bekommen (gewonnen)... Eduard Mörike/Hugo Distler

  • „Kunst will, dass man sich an ihr reibt! Ich glaube Kunst hilft uns spiritueller zu werden und das wiederum hilft uns mehr Eigenverantwortung zu entwickeln für den Umgang mit Techniken, mit Gedankenwelten und dem was wir tun.“ (Lothar Späth)
    Das interessante Späth-Zitat ist aufschlussreich. Denn es fügt sich vorzüglich in eine Tradition von Politikern, Machthabern, Auftraggebern jedweder Couleur, deren Ziel es war/ist Kunst allen möglichen Zwecken dienstbar zu machen z.B. ökonomische, politische, religiöse, ergonomische .... (in diesem Fall Kunst als eine Art Fitnesstrainung für Eigenverantwortung und Umgang mit Technik)
    z.B. in Kaufhäusern dient Hintergrundbeschallung durch Unterhaltungsmusik der Animation zum Konsum. In Nordkorea spielen in einigen Fabriken sogar kleinere Musikkapellen, zwecks Steigerung der Arbeitsleistung der Beschäftigten. Auch im Militärbereich spielt Musik auch eine Rolle, möglicherweise in der Antike noch stärker ausgeprägt. Auf Parteitagen oder in Wahlkämpfen hilft sie der Stimmungsanheizung und Verstärkung manch dämlicher Politikerphrasen. Musik wurde und wird auch zur Ruhigstellung von Todeskandidaten benutzt . usw.. usw..


    Auch ein Zitat von Alfred fordert die Unterordnung der Kunst (in Form der Musik) den Zwecken der Realität. Nichtanpassung an Vorgaben von Auftraggebern, Dienstherren bzw. am Publikum gilt als Anmaßung. Denn er schreibt:
    Erst in neuerer Zeit maßen sich "Künstler" an, ihre eigenen Kunst zu definieren, wobei das Publikum keine bedeutende Rolle mehr spielt. Man bedient sich des Kunstkniffs, der schon in alten Märchen entlarvt wurde, nämlich zu postulieren, dass jeder, der diese Kunst nicht als solche erkennen könne, ein Dummkopf sei....
    ...wann sollte denn diese neuere Zeit angesetzt werden ? Bereits Beethoven haderte mit dem „Unvermögen“ des Publikums.


    Kommen wir zur Musik: In der Renaissance und im Barock, ja auch zu Beginn der Klassik, war der Komponist lediglich ein "Edellakai" dessen Aufgabe allein darin bestand, den erlesenen Geschmack seines Dienstherrn zu befriedigen.
    Soweit zurück muss nicht gegangen werden. Auch während der DDR-Diktatur versuchten die Machthaber die Komponisten in eine Art „Lakaien – Position“ zu zwingen, damit sie sich den „erlesenen“ Spießbürger-Geschmack der herrschenden SED-Oligarchie bedienen und durchsetzen konnten. Paul Dessau maßte sich in den 50ger Jahre des 20. Jahrhunderts an, seine eigene Kunst gegenüber den Forderungen einer Diktatur und Zensur zu definieren bzw. verteidigen, in dem er damals schrieb: „Ein kleiner Kreis von Musikwissenschaftlern (Dessau meinte den von der SED eingesetzten „Verband Deutscher Komponisten und Musikwissenschaftler“ (VDK)), im Volksmund bereits als das mächtige Häuflein bekannt, läuft geschlossen Sturm gegen die vielseitige Entwicklung unserer Musik; orientiert sich lieber an Händel als an den großen Musikern unseres Jahrhunderts, wie Schönberg, Alban Berg, Bart6k, Schostakowitsch und Prokofieff "


    Kunst soll Farbe und Form, Wohlklang und Harmonie in den widerwärtigen Alltag bringen,
    sie soll mich erfreuen und erbauen - nicht aber...
    Dafür sorgt bereits seit recht langer Zeit die allgegenwärtige Unterhaltungsindustrie, die darin ziemlich erfolgreich ist.
    Ganz im Gegensatz zu Meistern z.B. Bach, Beethoven, Brahms, Mahler, Pfitzner, Schönberg, Webern, Berg, Elliott Carter, Luigi Nono, B.A. Zimmermann, Brian Ferneyhough, Chaya Czernowin etc.. die viel zu sehr beschäftigt waren und sind, zu: ...frustrieren, ärgern oder Unruhe verbreiten.
    :hello:

  • Zunächst muß gesagt werden, daß der Kunstbegriff sich im Laufe der Jahrhunderte (man muß sagen "leider") stark gewandelt hat


    Genau das ist der Punkt!


    Eigentlich muss jeder seinen Kunstbegriff selbst definieren.


    Für mich gilt: Ein Kunstwerk muss meine Seele erreichen - mich erfreuen, erschüttern, begeistern oder in Staunen versetzen. Heutzutage sind in großem Umfang Mogelpackungen im Umlauf; da wird dann einfach das Etikett "Kunstwerk" draufgeklebt, der Inhalt ist indes oft dürftigt und banal.


    Nichts gegen Fortschritt, aber man sollte schon zweimal hingucken was da Neues kommt, oft wird es seinen Ansprüchen nicht gerecht und kommt in fragwürdiger Gestalt daher (hier könnte man auch viele Beispiele von Produkten umtriebiger Opernregisseure nennen)


    Natürlich hat Albrecht Dürer ganz große Kunst (die damals noch stark mit dem Handwerk verbunden war) abgeliefert, aber Liebermann oder Klimt (um nur zwei Beispiele zu nennen) haben mit ganz anderen Auffassungen auch einen großen Beitrag geleistet.
    Aus meiner Sicht könnte ich eher auf Malewitschs "Schwarzes Quadrat" verzichten. Malewitsch wollte ja alle 50 Jahre Städte und Dörfer vernichten, habe ich mal irgendwo gelesen ...


    Kunst kann praktisch alles sein, man muss nur dran glauben, dass es Kunst ist !

  • Zitat

    Heutzutage sind in großem Umfang Mogelpackungen im Umlauf; da wird dann einfach das Etikett "Kunstwerk" draufgeklebt, der Inhalt ist indes oft dürftigt und banal.

    Dürftiges und Banales gab es vermutlich in allen Epochen mit dem Etikett "Kunstwerk"...

    Zitat

    Nichts gegen Fortschritt, aber man sollte schon zweimal hingucken was da Neues kommt, oft wird es seinen Ansprüchen nicht gerecht und kommt in fragwürdiger Gestalt daher ...

    ja, es sollte unbedingt bei allen großen Kunstwerken mindestens zweimal hingeguckt werden.. und dass Kunst in fragwürdiger Gestalt daherkommt, ist Bestandteil großer Kunst der Vergangenheit und der Moderne...

    Zitat

    (hier könnte man auch viele Beispiele von Produkten umtriebiger Opernregisseure nennen)

    da verweise ich für weitere Diskussion zum Thema sog. "Regietheater" auf die entsprechenden Threads (begrüße aber ausdrücklich, dass in deinem Posting die Arbeiten zeitgenössischer Regiessseue als fragwürdig tituliert und im Kontext mit dem Begriff Fortschritt gestellt werden, was durchaus als Auszeichnung für viele gelungene Resultete dieser Regie-Arbeiten anzusehen ist)...
    :hello:

  • Kunst soll Farbe und Form, Wohlklang und Harmonie in den widerwärtigen Alltag bringen, sie soll mich erfreuen und erbauen - nicht aber frustrieren, ärgern oder Unruhe verbreiten.


    Dafür sorgt bereits seit recht langer Zeit die allgegenwärtige Unterhaltungsindustrie, die darin ziemlich erfolgreich ist.
    Ganz im Gegensatz zu Meistern z.B. Bach, Beethoven, Brahms, Mahler, Pfitzner, Schönberg, Webern, Berg, Elliott Carter, Luigi Nono, B.A. Zimmermann, Brian Ferneyhough, Chaya Czernowin etc.. die viel zu sehr beschäftigt waren und sind, zu: ...frustrieren, ärgern oder Unruhe verbreiten.


    Hallo "Amfortas08",


    dies trifft exakt - bis auf: "Die allgegenwärtige Unterhaltungsindustrie" - ist keinerlei Art von Kunst, was Du auch bestimmt nicht gemeint hast.


    Viele Grüße
    zweiterbass

    Wer die Musik sich erkiest, hat ein himmlisch Gut bekommen (gewonnen)... Eduard Mörike/Hugo Distler

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  • Zitat

    dies trifft exakt - bis auf: "Die allgegenwärtige Unterhaltungsindustrie" - ist keinerlei Art von Kunst, was Du auch bestimmt nicht gemeint hast.

    da bin ich mir nicht 100 % sicher und der Grund meiner Unentschlossenheit (also "jein") liegt darin, dass die Erzeugnisse der Kulturindustrie keine totale Standatisierung aufweisen d.h. nicht völlig austauschbar und ersetzbar sind....
    ..allerdings zeugen die Worte frustrieren, ärgern oder Unruhe verbreiten durchaus von einem Verständnis von Kunst; vor allem der Moderne.
    :hello:

  • Man sollte aus der sozialen Stellung von Künstlern nicht schließen, dass sich die Kunst entsprechend befehlen ließe. Natürlich stimmt es aber auch nicht, dass Künstler früher meistens Edellakaien gewesen wären. Spätestens die Renaissancekünstler traten äußerst selbstbewußt auf und spielten potentielle Sponsoren auch mal gegeneinander aus. Aber dieses soziale Element ist absolut zweitrangig. Bachs Musik ist nicht schlechter als Beethovens (oder umgekehrt), weil der eine ein Angestellter war, der andere nicht.


    Das Verhältnis von Kunst und Realität ist m.E. auch nicht besonders hilfreich. Es ist schon bei Malerei und Skulptur nicht so einfach, Was genauer abbildet, ist nicht notwendig das gelungenere Kunstwerk (ich habe noch nie einen Heiligenschein in echt gesehen, weiß daher nicht, wie gut die jeweils abgebildet sind, bei Michelangelos David sind die Hände zu groß, bei Botticellis Venus ist der Hals zu lang (und sicher nicht, weil die unfähig gewesen wären, usw.)


    Bei Architektur oder Musik, die ja nichts in der Realität Vorhandes abbilden, ist das Abbildunsgkriterium offensichtlich unbrauchbar.


    Was gibt es für mögliche Aufgaben?

    Dem Höchsten Gott allein zu Ehren, dem Nächsten draus sich zu belehren.

    (Johann Sebastian Bach, "Orgelbüchlein")


    1. Zur Ehre Gottes. Das mag eine sehr ehrenwerte Aufgabe sein, aber doch wenig konkret. Es sei denn, man hat nur die Verwendung im Gottesdienst im Sinn. Aber auch dann gibt es viele unterschiedliche Rollen: rein dekorativ, mit konkreter Funktion im liturgischen Ablauf, Glaubensinhalte illustrierend oder verstärkend, meditativ, ein Gemeinschaftsgefühl erzeugend (beim gemeinsamen Gesang der Gemeinde). Man kann nicht einfach sagen, dass sich die Musik nach den Wünschen der kirchlichen Würdenträger oder der Gemeindemitglieder richten soll. Zwar gab und gibt es da sicher immer wieder Konflikte, die sich oft aus Spannungen zwischen den genannten Funktionen ergeben: Dient Musik der Verkündigung, dann sollte der Text verstehbar sein, dient sie der Verherrlichung, dann ist das zweitrangig. Soll sie von Laien gesungen werden können usw.
    Aber ebenso gab und gibt es große Freiräume und eine große Vielfalt von unterschiedlichen Musikformen und -stücken.


    2. Belehrung. Was soll das denn heißen?
    Im Kontext Bachs dürfte wohl etwas gemeint sein, was man heute eher "Erbauung" nennt und was auf eine illustrierende, erläuternde oder vielleicht meditative Verstärkung von Glaubensinhalten abzielt. Das ist, selbst wenn man versucht, vom religiösen Element zu abstrahieren, jedenfalls fern von Spaß, Zerstreuung und Unterhaltung. Ich glaube, dass man nicht fehlgeht, wenn man hier Kontemplation als allgemeinstes Aspekt hervorhebt. Dass "ernste" Musikstücke Gegenstand der Kontemplation sind und eine kontemplative Einstellung angemessen für den Umgang mit "zweckloser" Kunst und Musik sind, ist ein Ansatz, den ich sehr plausibel finde. Kontemplation ist Sammlung, nicht Zerstreuung.


    3.
    Du holde Kunst, in wieviel grauen Stunden,
    Wo mich des Lebens wilder Kreis umstrickt,
    Hast du mein Herz zu warmer Lieb entzunden,
    Hast mich in eine beßre Welt entrückt!

    (Franz von Schober, "An die Musik")


    Was für Funktionen werden hier angesprochen? Die Musik als Heilmittel, als Flucht in eine bessre Welt, jedenfalls als Gegensatz zur bestehenden Welt mit ihren Nöten, Sorgen und Problemen.
    Musik als Therapie für Schwermütigkeit oder Depressionen finden wir bekanntlich schon im Alten Testament, wenn der junge David für König Saul Harfe spielt. Auch wenn es naheliegt, dass für therapeutische Zwecke eher ruhige Musik dienlich ist, so kann man andererseits auch meinen, dass eine Heilung von schädlichen oder überschießenden Emotionen gerade gelingt, wenn diese im Erlebnis Kunst "ausgelebt" werden können (Katharsis). Heute, oder auch in dem David-Saul-Beispiel, scheint uns das eine rein private, individuelle Sache zu sein. Aber vergessen wir nicht, dass vor Radio, Schallplatte und Fernsehen ein viel größerer Teil der Kunst sich öffentlich abspielte. Die Katharsis-Idee stammt ja auch von Aristoteles und bezieht sich auf die antike Tragödie. Platt gesagt, dient Kunst damit (auch) als psychohygienische Maßnahme ganzer Völker.


    Die Gegenüberstellung von Kunst und Welt kann man einerseits "eskapistisch" auffassen. Das ist natürlich der Vorwurf von Kulturkritikern wie Adorno an die Unterhaltungsindustrie des 20./21. Jhds.: sie lullt ein und verspricht mit Schlagern und Hollywoodschmonzetten ein oft unerreichbares (und vielleicht gar nicht erstrebenswertes) Glück, damit das alltägliche Elend als anonymes Rädchen im kapitalistisch-administrativen Getriebe nicht nur erträglich, sondern vielleicht erst gar nicht wahrgenommen wird.
    (Am Rande: Wenn heute jemand meint, mit klassischer Musik der Gegenwart in eine "bessere" Vergangenheit entfliehen zu wollen, so kann das ganz offensichtlich nicht die Aufgabe der Musik damals gewesen sein. Höchstens nutzten Schuberts Zeitgenossen dei Musik ihrer Gegenwart, um in eine bessre Welt zu fliehen, die aber wohl, wenn überhaupt, eher die Zukunft als die Vergangenheit gewesen sein dürfte. Und trivialerweise hat Schubert nicht mit dem Ziel komponiert, dass knapp 200 Jahre später jemand mittels seiner Musik sich meint, in Schuberts Gegenwart versetzen zu können.)


    Andererseits, und das wäre dann näher bei Adorno u.a., kann man diese Spannung auch utopistisch, oder mindestens aufklärerisch fassen. Weil es die Kunst gibt und durch sie, erfahren wir, dass die "grauen Stunden" nicht das einzige, und schon gar nicht das notwendige sind. Wir werden aufgerüttelt, moralisch gebessert und kämpfen fortan für die Utopie. So jedenfalls etwas plump gesagt bei Schiller oder Beethoven, vor der Dialektik der Aufklärung. Danach ist alles komplizierter, weil die positive Utopie mehr oder minder fehlt, aber die Grundidee bleibt.


    Man könnte das sicher noch erheblich erweitern. Es ist jedenfalls sicher nicht richtig, dass die vorherrschende Funktion von Kunst vor dem späten 19. Jhd. (oder so), eine völlig andere gewesen sein sollte, wie hier immer wieder mal behauptet wird. Es gab und gibt diverse und manchmal konfligierende Funktionen. Und es gibt schon ziemliche lange die Idee, dass jedenfalls einige Musikstücke/Kunstwerke insofern funktionslos sind, dass sie um ihrer selbst willen da sind und man sich auf sie unter dieser Maßgabe einlassen muss, um sie angemessen zu erleben.


    Dass Widerwärtiges oder Negatives gar nicht, oder nur "erhebend" oder "verklärt" dargestellt worden wäre, ist schlicht und einfach falsch! Man schaue sich z.B. Bilder von Bosch oder Goya an und lese Gedichte von Gryphius oder anderen Barockdichtern. Ich habe vergessen, wer der Maler ist, aber in Dostojewskijs "Der Idiot" wird eine Kreuzabnahme oder Grablegung (vermutl. aus der frühen Renaissance) erwähnt, auf der der Leichnam Christi so deprimierend dargestellt sei, "dass man vor diesem Bild den Glauben verlieren könnte". Das dürfte kaum die Intention religiöser Kunst sein. Aber ob Märtyrerleiden oder Höllenqualen oder was sonst noch, die vorliegenden bildlichen Darstellungen folgen oft nicht eindeutig der Idee einer ästhetischen Verklärung.


    Ebenso ist natürlich grundfalsch, dass die Kunst des 20./21. Jhds. sich ausschließlich oder weitgehend dem Häßlichen oder dem politischen Umsturz gewidmet hätte. Selbst wenn das vorübergehend in manchen Strömungen wichtig gewesen sein mag, so trifft es sicher nicht auf die Mehrheit der bedeutenden Künstler zu. In der Neuen Musik z.B. auf zwei gerngehasste wie Boulez und Stockhausen meines Wissens weder noch.

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • Kunst ist zunächst einmal ein Refugium der Spezies Mensch auf diesem Planeten.


    Selbst aus der frühesten Menschheitsgeschichte sind uns Zeugnisse erhalten, obwohl die Menschheit damals noch in einem wahren Überlebenskampf mit der sie umgebenden feindlichen Natur steckte. Ein Beleg für manchen Wissenschaftler, das die Kunst zu den elementarsten Grundbedürfnissen des Individuum Mensch gehört.


    Wo fängt Kunst an und wo hört sie auf?


    Wir bewegen uns z.B. hier in einem Medium, welches absolut künstlich ist aber gleichzeitig der Lebensunterhalt von Millionen von Menschen bedeutet. Die Auswirkungen dieser künstlichen Welt auf das alltägliche Leben sind noch nicht mal ansatzweise erforscht und werden oft durch die rasende Entwicklung dieser Welt schon im Ansatz überholt.


    Der Mensch als Spielball seiner eigenen künstlichen Welt.


    Auch der Klassikhörer bewegt sich in einer künstlichen Welt, manipuliert durch Faktoren, die er selber nicht beeinflussen kann. Wenn er meint, vor den Realitäten fliehen zu können, indem er Beethoven hört, verdrängt nur, schiebt etwas zur Seite, flüchtet in seine ureigene Phantasie-Welt. Die Bewertung dieser Flucht bleibt jedem selbst überlassen.


    Johannes hat den Begriff Kontemplation eingebracht. Auch dieses Wort ist nur eine Annäherung an das Phänomen Musik. Viel wichtiger ist für mich der Begriff Toleranz. Toleranz im Umgang mit anderen Musikformen, sei es der Stammesmusik eines Indiostammes oder der Darstellungen einer Lady Gaga.

  • Zunächst muß gesagt werden, daß der Kunstbegriff sich im Laufe der Jahrhunderte (man muß sagen "leider") stark gewandelt hat,. Ursprünglich standen jene Fähigkeiten, die wir heute mit "SKILLS" umschreiben würden im Vordergrund. Jener Maler, der die menschliche Haut, die Oberflächen von diversen Materalien am realitätsnähesten wiedergeben konnte, das war der anerkannteste Künstler.


    "Ursprünglich" ist hier eine interessante Wortwahl - die allerdings sofort klar macht, dass das eine reine Hypothese ist. Denn wie die Kunst "am Anfang" ausgesehen hat, wissen wir nicht. Bei der Kunst von vor 5000 Jahren kenne ich mich auch nicht aus und sage daher nichts dazu.


    Wenn Alfred meint, dass es eine Entwicklung vom Bemühen der genauen Realitätswiedergabe zur Verformung und Abstraktion gab, so ist ihm beizupflichten, das kann man in verschiedenen Kulturen zu verschiedenen Zeiten finden. Hier im Forum denken sicher alle sofort an die europäische Kunst des späten 19. Jahrhunderts und des 20. Jahrhunderts, aber dasselbe finden wir in Europa auch ca. 1500 Jahre früher, als das Christentum den Weg aus dem barbarischen Realismus zur adäquaten Darstellung des Wunders des Evangeliums suchte (Byzantinismus), wobei die Fähigkeiten der realistischen Wiedergabe verloren gingen. Auch in anderen Kulturen findet sich das - besonders frappierend, wenn man die "Portraitbüsten" der Könige des Benin in chronologischer Folge an sich vorbeiziehen lässt: Am Beginn steht der Realismus und am Ende ein Kunst-Produkt, das jeglichem Wiedererkennungseifer spottet.


    Aber aus diesen Beispielen kann man schon ersehen, dass auch die gegenteilige Bewegung stattfindet, sonst hätte sich in Europa nach dem Verlust der Realitätsnähe nicht ein zweites Mal so eine Entwicklung abspielen können. Diese Entwicklung ist auch vielen Kunstfreunden bekannt: Von der Romanik über die Gotik zur Renaissance - wobei das aber auch keineswegs besonders linear abläuft, im Detail finden wir wieder nach dem radikalen Realismus eines van Eyck den Schritt "zurück" und nach dem Realismus der Holländer des 17. Jahrhunderts (der wiederum Alfreds Idee entspricht, dass die Wiedergabe der optischen Eindrücke zum größten Ruhm führte) fiel gerade dieser Bereich der Kunstproduktion des 17. Jahrhunderts im 18. Jahrhundert durch.

  • Mein laienhafter Eindruck ist, dass man schon in sehr frühen Epochen "Naturalismus" und Stilisierung oft recht nahe beeinander findet, so dass die Vermutung naheliegt, dass nicht bloßes Unvermögen oder mangelnde Technik zum Bevorzugen einer stilisierten Darstellung geführt haben.


    Die erhaltenen minoischen Fresken (sowohl naturalistisch als auch stilisiert) oder die ägyptischen Wandmalereien (m.E. eher stilisiert) wären vielleicht Beispiele (nicht 5000, aber ~3500 Jahre alt).

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    (Bob Dylan)

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  • Ein sterbender Held sollte stets das erhabene Heldentum verkörpern, nicht eine krepierende Kreatur oder einen verwesenden stinkenden Leichnam. Kunst ist - wo dies Möglich ist Erhöhung, Symbolisierung und Verklärung der Realität.


    Hier erhalten wir einen Hinweis, dass das Verständnis davon, was Kunst sei und was nicht, immer mit unseren Idealen zu tun hat.


    Wenn zur unserer Idealvorstellung eines Helden die Erhabenheit gehört, dann postulieren wir gerne, dass jede künstlerische Darstellung eines Helden diesen Zug aufweisen müsse.


    Nun ist es so, dass nicht alle dieselben Idealvorstellungen haben. Der Protagonist in Dostojewskis "Schuld und Sühne", der Raskolnikow, ist sicher auch ein Held - aber eine ganz andere Art von Held als etwa der Siegfried der Nibelungensage, Wilhelm Tell, Old Shatterhand oder Superman.


    Auch Meursault (in "L'Etranger" von Camus) wäre eine Art Held, gleichwohl ganz anders.


    Aber vielleicht ernennt nicht jeder den Heldenstatus von Raskolnikow oder Meursault an.


    Die Aufgabe der Kunst wäre es meine Erachtens auch, verbrauchte Idealvorstellungen erkennbar zu machen und Gegenideale anzubieten - wenn nicht gar die Suche nach Idealen überhaupt in Frage zu stellen. Historische Kontexte gäbe es dafür genug.

  • Ich habe einige Tage darüber nachgedacht, ob es interessant wäre, einen Thread zum Thema "Kunst" (und dadurch natürlich zum "Künstler" zu starten-
    Heute hatte ich mich dazu aufgerafft - da fand ich diesen hier - und ich passte, der deckt den Themenbereich recht gut ab.
    Interessanterweise sind die meisten Mitglieder, die sich an diesem Thread bislang beteiligt haben, noch immer Mitglieder des Forums, etliche sind dazugekommen, die dieses Thema vielleicht interessieren könnte.
    Wie schon der nicht mehr im Forum befindliche Threadersteller im Eröffnungsbeitrag schrieb, war hier das Regietheater nicht unmaßgeblich an dieser Threadidee beteiligt, aber dennoch geht es hier um "Kunst" im allgemeinen.
    Wir versuchen, etwas zu definieren, was bislang eigentlich noch niemandem ganz gelungen ist, nämlich der Begriff "Kunst"
    Und dann sollten wir uns auch damit befassen, was den eigentlich einen Künstler ausmacht - und wer den KEIN Künstler ist.
    Ob sich ein Künstler selbst definieren , bzw als solchen bezeichnen kann, oder ob diese Beurteilung nur von aussen geschehen kann
    Wieder mal ein "Sommertrhread" aber nicht ohne Tiefgang


    mfg aus Wien
    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Zit. Alfred Schmidt: „Wir versuchen, etwas zu definieren, was bislang eigentlich noch niemandem ganz gelungen ist, nämlich den Begriff "Kunst"

    So ist es! Und ich denke: Keiner, der sich mit philosophischer Ästhetik befasst und ein wenig Einblick in all die historischen Versuche genommen hat, zu definieren, was „Kunst“ sei, wird sich darauf einlassen wollen, so etwas ernsthaft hier im Tamino-Forum zu versuchen.


    Aber, -
    ich nehme Alfreds Wieder-Präsentation dieses Threads als das, was sie sein soll: Ein sommerlich-heiteres, unbeschwertes gedankliches Spiel im Umkreisen der hier aufgeworfenen und zur Diskussion gestellten Fragen. Und so fange ich denn einmal ganz frech und dreist an.


    Eine der vielen Versuche, das Wesen von „Kunst“ näher zu bestimmen, findet sich bei Martin Heidegger. Und ich gestehe: Sie hat mich von allen, die ich kenne, am meisten überzeugt. Heidegger definiert „Kunst“ als „Das sich Ins-Werk-Setzen der Wahrheit des Seienden“.
    Und mir scheint, da ist etwas dran. Kunst hat etwas mit „Wahrheit“ zu tun. Man sieht das daran, dass man das, was sich scheinbar als Kunst präsentiert, in Wirklichkeit aber Kitsch ist, als verlogen empfindet.
    In einem Brief an Emile Bernard schrieb Paul Cézanne im Jahre 1905:
    „Ich schulde Ihnen die Wahrheit in der Malerei (je vous dois la vérité en peinture), und ich werde sie Ihnen sagen.“
    Da haben wir´s! Cézanne fühlt sich als Maler zum Ausdruck der Wahrheit in dem verpflichtet, was er als Kunstwerk hervorbringt.
    Ein bisschen kenne ich natürlich die kritische Auseinandersetzung mit dieser These Heideggers, beispielsweise ihre Dekonstruktion durch Derrida. Und schon mein Philosophie-Lehrer an der Uni hat ihr kritisch vorgehalten:
    „Wenn gesagt wird >Die Kunst entspringt als stiftende Bewahrung der Wahrheit des Seienden im Werk<, wodurch sie als „>Stiftung< eines „>grundlegenden Gründens< zu einem >ursprünglichen Geschehen der Wahrheit< wird (Anm.: das sind Heidegger-Zitate), so wird der Kunst mit dieser metaphysischen Deutung ein Wahrheitsanspruch unterschoben, den sie nicht besitzt…“.(so meinte Wilhelm Sturmfels).


    Aber ich kann mir nicht helfen. Immer wieder, wenn ich mich näher auf ein Kunstwerk im Sinne eines Verstehen-Wollens seiner künstlerischen Aussage eingelassen habe – und das nicht nur bei Malerei oder Dichtung, sondern auch bei musikalischen Werken - hatte ich das Gefühl, dass an diesem Verständnis von Kunst, wie es Heidegger entwickelt, etwas dran ist, - dass der Künstler, die „Wahrheit des Seienden“ ins Werk, ein Kunst-Werk also setzt, und dass sich darin, indem er das „Un-Geheuere“ schafft, „das Geheuere und das, was man dafür hält“ umstößt. Und das bedeutet:
    „Was die Kunst stiftet, kann deshalb durch das Vorhandene und Verfügbare nie aufgewogen und wettgemacht werden“.

  • Zit. Richard Wagner: "Alle Kunst kommt aus dem Handwerk!"


    Mit Verlaub, lieber Karl, die Unzulänglichkeit dieser Definition von Richard Wagner ist doch ganz offenkundig: Sie trifft auf alles zu, was von menschlicher Hand - und der "Kopf" gehört hier dazu - hergestellt wird.
    Damit ist es aber noch kein Kunstwerk. "Handwerk" ist sozusagen nur die Ursache seiner Existenz. Insofern spricht - um an meinen vorangehenden Beitrag anzuknüpfen, Heidegger von einem "Ins-Werk-Setzen". Aber zum Kunstwerk wird durch diesen Akt ein "Werk" erst durch die Intention, die dieser "handwerklichen" (Wagner) Verrichtung zugrunde liegt.
    Und das ist, um Cézanne noch einmal zu zitieren: In seiner Malerei die "Wahrheit" über das Seiende zu sagen.

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  • Mit Verlaub, lieber Helmut,
    Richard Wagner war ja nicht der einzige - hier ein Auszug aus dem Bauhaus-Manifest des Walter Gropius:

    Zitat

    Architekten, Bildhauer, Maler, wir alle müssen zum Handwerk zurück! Denn es gibt keine ,Kunst von Beruf’. Es gibt keinen Wesensunterschied zwischen dem Künstler und dem Handwerker. Der Künstler ist eine Steigerung des Handwerkers. Gnade des Himmels läßt in seltenen Lichtmomenten, die jenseits seines Wollens stehen, unbewußt Kunst aus dem Werk seiner Hand erblühen, die Grundlage des Werkmäßigen aber ist unerläßlich für jeden Künstler. Dort ist der Urquell des schöpferischen Gestaltens


    Nicht nur der Begriff »Kunst«, auch »Kitsch« ist kaum definierbar (siehe Jeff Koons) - und »Wahrheit« eigentlich auch ...

  • Ja gewiss, lieber hart!
    Aber nun wird´s interessant. Denn in diesem Fall zielt der Verweis auf das "Handwerk" auf das dem "Bauhaus" zugrunde liegende und als leitende Idee dienende Konzept stilistischer Einfachheit ab, - und stellt damit genau das da, was ich meinte: Die Aussage-Intention, die im Falle des kunstschaffenden Aktes jeder genuin handwerklichen Tätigkeit innewohnt.
    Ich sehe in dem Gropius-Zitat keinen Einwand gegen das, was ich vorangehend ausführte. Im Gegenteil: Eine Bestätigung.

  • Zitat

    Zit. Richard Wagner: "Alle Kunst kommt aus dem Handwerk!"


    Mit Verlaub, lieber Karl, die Unzulänglichkeit dieser Definition von Richard Wagner ist doch ganz offenkundig: Sie trifft auf alles zu, was von menschlicher Hand - und der "Kopf" gehört hier dazu - hergestellt wird.


    Ich würde indes Wagners Ausspruch anders deuten (lasse mich aber gerrn korrigieren)


    Wagner meint, daß jegliche Kunst zuerst von der Beherrschung des Handwerks abhängig ist, das Handwekt also gewissermaßen die Grundbedingung für dessen Verfeinerung, nämlich der Kunst, ist.


    Das bedeutet indes IMO nicht, daß jegliches Handwerk als Kunst zu bewerten sei.
    Kunst ohne Handwerk ist also nicht möglich -
    Handwerk ohne Kunst indessen schon.


    Das ist es, das heute so gerne übergangen wird.


    Von Bach ist indes ein ähnlicher Ausspruch überliefert,
    etwa in der Form, daß seine Genialität (oder wie immer das zu seiner Zeit ausgedrückt wurde)
    in erster Linie eine Sache des Fleisses ist....


    Spätere Generationen von "Künstlern" haben das - aus gutem Grund - gerne anders ausgedeutet....


    mfg aus Wien
    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Wagner meint, daß jegliche Kunst zuerst von der Beherrschung des Handwerks abhängig ist, das Handwekt also gewissermaßen die Grundbedingung für dessen Verfeinerung, nämlich der Kunst, ist.


    Das bedeutet indes IMO nicht, daß jegliches Handwerk als Kunst zu bewerten sei.
    Kunst ohne Handwerk ist also nicht möglich -
    Handwerk ohne Kunst indessen schon.

    Das wird für Wagner auch so stimmen, lieber Alfred. Kunst hat zumeist eine handwerkliche Komponente, nur wenn es dann Kunst bzw. schöne Kunst sein soll, kommt noch etwas hinzu. Wenn man Gropius und das Bauhaus verstehen will, dann muss man genau lesen: Die "Neue Sachlichkeit" bringt mit ihrer Betonung des Handwerklichen eine Ernüchterung mit sich - gegen die metaphysische Romantik. Das Schöpferische soll in der Regel (!) nicht in der göttlichen Inspiration des Künstlers liegen, sondern im Handwerklichen. Die romantische Intuition ist nun die Ausnahme. Diese Betonung des Handwerklichen ist natürlich gewollt mit einer Rationalisierung verbunden.


    Und Heidegger meint mit der Wahrheit natürlich nichts Metaphysisches, sondern ein Welt- und Existenzverständnis, das sich im Kunstwerk ausdrückt. Seine Schrift ist insofern unverzichtbar, weil sie die Realität zum Ausdruck bringt, dass Kunst eben nicht selbstverständlich nur ästhetisch zu verstehen ist als Verkörperung eines Schönen - siehe die antike Tragödie, den Expresssionismus oder Surrealismus.


    Schöne Grüße
    Holger

  • Hallo Helmut,


    Alfred hat es für mich sehr gut ausgedrückt, was meiner Meinung nach Richard Wagner festgestellt hat.


    Nette Grüße


    Karl

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