Aufnahme Staatsoper Stuttgart, 3. Oktober 2002 und 12. Januar 2003
Musikalische Leitung: Lothar Zagrosek
Staatsorchester Stuttgart
Staatsopernchor Stuttgart (Chorleitung: Ulrich Eistert)
Inszenierung: Peter Konwitschny
Bühnenbild und Kostüme: Bert Neumann
Dramaturgie: Juliane Votteler
Aufnahmeleitung: Hans Hulscher
Produzent: Dieter Schickling
Siegfried: Albert Bonnema
Gunther: Hernan Iturralde
Alberich: Franz-Josef Kapellmann
Hagen: Roland Bracht
Brünnhilde: Luana DeVol
Gutrune: Eva-Maria Westbroek
Waltraute: Tichina Vaughn
Nornen: Janet Collins, Lani Poulson, Sue Patchell
Rheintöchter: Helga Rós Indridadóttir, Sarah Castle, Janet Collins
Bekanntlich wurde der Stuttgarter Ring nicht einem einzigen Regisseur, sondern vieren anvertraut. Nach Joachim Schlömer (Rheingold), Christoph Nel (Walküre) und Jossi Wieler/Sergio Morabito (Siegfried) inszenierte Peter Konwitschny die Götterdämmerung.
Prolog, 1. Szene („Nornenszene“)
Schon beim Warmspielen des Orchesters – das Parkett ist bestenfalls zu einem Viertel gefüllt - huscht eine Frau über die Bühne, Typ Putzfrau mit Kopftuch, die so etwas wie einen zusammengefalteten Umzugskarton und eine große gestreifte Stofftasche trägt. Erschöpft und frierend lässt sie sich auf dem Karton nieder und blickt um sich herum, lehnt sich an eine Rückwand, wartet, liest. Eine zweite Frau erscheint, ganz in schwarz, ebenfalls mit Kopftuch und setzt sich zur ersten. Beide streiten um die Tasche der zweiten. Beide machen jetzt eher den Eindruck von Obdachlosen. Die zweite bietet der ersten etwas an, was diese zuerst verschmäht. Doch als sie erkennt, dass es etwas Essbares ist – offenbar ein bereits angebissenes Stück Brot -, greift sie erfreut zu. Eine dritte Frau erscheint, sehr bunt – ballonseidener Jogginganzug billigster Art und Sweatshirt. Stimmen des Orchesters. Parkett und Ränge haben sich mittlerweile gefüllt. Zagrosek erscheint, das Vorspiel zum Prolog beginnt.
Die drei Frauen auf der Bühne sind die Nornen. Aha. Die dritte Frau reicht der zweiten ein sehr gebrauchtes, wollenes Kleidungsstück. Die zweite (beim Singen merkt man: es ist die erste Norn, und die erste Frau auf der Bühne ist die zweite Norn) zieht an einem Faden, das Kleidungsstück löst sich auf. „So gut und schlimm es geh, schling ich das Seil und singe“ singt die erste Norn, und schlingt sich dabei den Wollfaden um den Hals, als wolle sie sich erhängen. Der Wollfaden ist das „Seil“ der Nornen.
Die Aussage ist klar: Die Nornen sind völlig heruntergekommen. Die Zeiten, zu denen sie an der Weltesche webten und nächtlich der urweisesten Frau sagten, was sie sieht, sind lange vorbei. Konwitschny bringt es auf den Punkt: Die Nornen beschwören ihre große Vergangenheit als Drahtzieherinnen aller Weltenläufe. Von der Rolle als Macherinnen der Welt sind sie an den Rand der Gesellschaft gestürzt – abgerissen, hungrig, frierend. Ihre Solidarität miteinander ist ein Klischee - Solidarität von Obdachlosen.
Die dritte Norn malt einen Tannenbaum auf den Umzugskarton – die zweite singt dazu vom Zerhauen des Speeres, vom Fällen der Weltesche und vom Versiegen des Quells. Sie durchlebt noch einmal ganz beklemmend das Schauen der traumatischen Bilder und wickelt den mittlerweile einige Meter langen Wollfaden zu einem Knäuel.
Die dritte Norn singt von den Scheiten der Weltesche, die um Wotans Saal herum geschichtet sind und entfaltet die Vision vom Weltenbrand und vom Ende der Götter. Dabei wickelt sie weiter den Wollfaden auf.
Die Nornen amüsieren sich über Loges Geschichte, wie Putzfrauen über die Privatleben ihrer Geschäftsführer klatschen. Hastig packen sie ihre Siebensachen ein, die dritte Norn wickelt den Wollfaden um den Umzugskarton mit dem Bild vom Tannenbaum, d. h., der Weltesche. Die Angst der Nornen kehrt zurück beim Singen vom Fluch. Die Bühne spiegelt die Musik trefflich wieder. Von zwei Seiten zerren die Nornen am Seil – es reißt. Das Bild der Weltesche fällt. Die drei Nornen singen ihr „zu End ewiges Wissen“, als wäre es Bayreuth der 1950er Jahre – links, in der Mitte, rechts auf der Bühne stehend. Ein Inszenierungszitat? Es wird wiederholt werden …
Die Nornenszene ist schwierig und wird schnell langweilig bei schlechtem Dirigat und allzu mythischer Inszenierung. Beides ist hier nicht der Fall – Konwitschny beleuchtet die Nornenszene nicht vom Weltenschicksal her, sondern aus der Perspektive der Nornen, mit ihrer Verklärung der Vergangenheit, ihrem Abstieg, ihren Ängsten, ihren Traumata, ihrem Spott – sehr schlüssig weist er auf viele Sinnschichten dieser Szene simultan hin, ohne dadurch die Bühne zu überfrachten. All das wird mit szenischer Leichtigkeit durch das Bild der obdachlosen Frauen transportiert. Meisterliche Dichte und Einfachheit.
Prolog, 2. Szene
Brünnhilde und Siegfried sitzen einander an einem einfachen Tisch gegenüber. Flammen umgeben das Zimmer. Im Hintergrund ein romantisches wandfüllendes Gemälde mit Fluss, Felsen, Bäumen und Bergen. Brünne und Helm stehen in der Ecke. Siegfried trägt nur ein Fell, Brünnhilde (wohlfrisiert) ein Kleid, das fast als Hochzeitskleid durchgehen könnte. Zwei, die nicht zusammen passen – so der erste Eindruck - und doch als frisch Verliebte nicht voneinander lassen können. Sie scheinen ihr Liebesspiel auf dem Tisch fortsetzen zu wollen. – Dann spielt das Orchester sein Motiv, und Siegfried ärgert sich offenbar darüber, dass er nun fort muss. (Konwitschny kann sehr wohl Partitur lesen und setzt Musik in Bühnenaktion um … soviel zu einem Dauervorwurf der Regietheatergegner.) Siegfried bindet sich Wolfsfelle um die Unterschenkel. Ein Hinweis auf den Sohn des Wölfings?
Der Austausch von Ring und Pferd wirkt ganz verspielt – Grane ist ein hölzernes Steckenpferd. Siegfried zieht noch Brünnhildes Helm und Brünne an.
Ein Tendenz Konwitschnys beim Zugriff auf Wagners Bühnenwerke zeigt sich am Steckenpferd sozusagen in Reinform: Er zeigt die Dinge spielerisch, verkleinert, an der Grenze zur Lächerlichkeit und darüber hinaus. Er nimmt den Stücken das Pathos von Festwiesenpomp (Meistersinger), Völkerrettung (Lohengrin) und Schicksalsgöttinnen, indem er dies in ungewohnten Kontexten zeigt. Er beweist: Wagners Texte und Musik bedürfen nicht des hohlen Pathos – sie sind in „kleinerer“ Umgebung nicht weniger wirkmächtig. Und er legt offen, an welchen Bildern unser Herz nur allzu gerne hängt, obwohl sie nebensächlich sind. Manchmal zitiert er alte Bühnengesten – das „Heil“ am Ende der Szene singen Siegfried und Brünnhilde Hand in Hand auf Tisch und Stuhl stehend, dem Publikum in „bester schlechter“ Opernmanier zugewandt. Ganz typisch Konwitschny – es erinnert an die links/Mitte/rechts-Position der Nornen am Ende derer Szene.
Dunkel wird es wieder in Brünnhildes Raum – wie zu Anfang der Szene. Per Drehbühne verschwindet diese. Eine Front mit vier Fenster dreht sich über die Bühne, dahinter sieht man die spielenden Rheintöchter, dazwischen das Steckenpferd. Siegfried scheint sich mit den Rheintöchtern zu amüsieren – sind die Abenteuer, die er auf dem Weg vom Walkürenfelsen zum Gibichungenhof erlebt, etwa nicht nur ritterlich-heldischer Art? Blitze beim Rheingold-Motiv im Orchester (Ja, Konwitschny kann Partitur … usw.). Dann wird es dunkel.