HÄNDEL, Georg Friedrich: PASTICCIO-OPERN II

  • Georg Friedrich Händel (1685-1759):


    Die Pasticcio-Opern II
    GIOVE IN ARGO
    (JUPITER IN ARGOS)
    Oper in drei Akten nach Antonio Maria Lucchini von einem unbekannten Bearbeiter


    Uraufführung am 1. Mai 1739 im King's Theatre am Haymarket, London


    DIE PERSONEN DER HANDLUNG


    ARETES, ein Hirte, in Wirklichkeit Jupiter, Tenor
    ISIS, Schäferin, Tochter des Inachus, Verlobte von Osiris, Sopran
    ERASTUS, ein Hirte, in Wirklichkeit Osiris, König von Ägypten, Baß
    DIANA, Göttin der Jagd, Sopran
    CALISTO, Tochter des Lycaon, Sopran oder Mezzosopran
    LYCAON, Hirte, in Wiirklichkeit Tyrann von Arkadien, Baß
    CHOR: Jäger, Hirten und Nymphen


    Das Geschehen ereignet sich in mythischer Zeit.


    INHALTSANGABE


    Vorgeschichte:


    Lycaon, der Tyrann von Arkadien, hat den König Inachus von Argos ermordet, um selbst den Thron von Argos einnehmen zu können. Das Volk der Argiver hat Lycaon aber vertrieben und so irrt er jetzt durch das Land, von Isis, der Tochter des ermordeten Inachus, verfolgt, die Rache für den ermordeten Vater nehmen will.


    Auch Calisto, Lycaons Tochter, ist auf der Flucht; sie hält ihren Vater für tot. Und Osiris, der König der Ägypter, Verlobter der Isis, sucht seine Braut, als Hirte Erastus verkleidet.


    Und auch der Göttervater Jupiter ist, diesmal als Hirte Aretes verkleidet, einmal mehr in Liebesabenteuern mit Menschen-Frauen unterwegs.


    ERSTER AKT


    Getrieben von Rachegefühlen gegen das aufständische Volk der Argiver kommt Lycaon auf die Szene. Er wird Zeuge, wie ein Chor von Nymphen und Jägern die Jagdgöttin Diana ankündigt, die ihrerseits das ganze Gefolge zur Jagd in den Wäldern aufruft.


    Die um ihren toten Vater trauernde Isis legt sich, müde vom langen Umherirren, unter einem Baum zur Ruhe. Nachdem sie eingeschlafen ist, nähert sich ihr ein Mann, offensichtlich der Hirte Aretes. Es ist aber kein Geringerer als Jupiter. Die schlafende Schöne hat sein männliches Interesse geweckt und als Isis aufwacht, umwirbt Jupiter sie sofort. Isis geht auf sein ungestümes Werben, wenn auch nur zum Schein, sofort ein. Der Gott versprach ihr nämlich als Gegenleistung für ihr Entgegenkommen Hilfe gegen den Mörder ihres Vaters Inachus.


    Nach dem Abgang von Isis und Jupiter kommen Calisto und der Hirte Erastus, der in Wirklichkeit Osiris, der König von Ägypten, ist, auf die Szene. Osiris hat sich in dem Irrglauben, Calisto sei seine Braut Isis, der Tochter des Tyrannen Lycaon an die Fersen geheftet. Calisto klagt Erastus ihr Leid, daß sie nämlich ihren Vater verloren habe. Von ihren Schilderungen schmerzlich berührt, wendet sie sich ab und läßt Erastus/Osiris allein auf der Szene zurück. Jupiter tritt hinzu und weiß auch sofort, wer da vor ihm steht: das ist kein Hirte, das ist der König der Ägypter. Aber Jupiter läßt sein Wissen über seinen Gegenüber nicht heraus, sondern spielt ihm sogar vor, seine Braut habe ihn vergessen und vergnüge sich mit einem sehr gut aussehenden Schäfer. Jupiters Plan, Osiris eifersüchtig zu machen, um ihn als den Gegenspieler bei Isis zu provozieren, ist geglückt: Osiris ist verzweifelt und wendet sich ab.


    Isis kommt und sinniert über ihre Pläne, die nur ein einziges Zeil haben, nämlich den Mörder Lycaon zur Strecke zu bringen.


    ZWEITER AKT


    Die Göttin Diana ist glücklich über einen Neuzugang im Kreis ihrer Nymphen: sie hat Calisto in den exklusiven Zirkel aufgenommen.


    Zu der Gruppe gesellt sich auch Jupiter/Aretes und ist von der schönen Tochter des Lycaon begeistert. Er macht ihr, als sie alleine sind, auch sofort den Hof und gewinnt ihre Zuneigung mit dem Versprechen, ihren Vater vor den Nachstellungen der rachedurstigen Isis zu schützen.


    Genau das hat aber eben jene Isis mitbekommen und plötzlich befindet sich der allmächtige Gott in einer prekären Lage. Es gelingt Jupiter aber, sich mit galanten Worten aus dieser Situation herauszureden.


    Wütend kommt ein neuer Enttäuschter hinzu, nämlich der Hirte Erastus. Er gibt sich als Osiris, König der Ägypter, zu erkennen. Er ist überzeugt, daß ihn seine Braut Isis betrügt und verstößt die angeblich Ungetreue. Diese Handlung versetzt Isis einen solchen Schock, daß sie wie wahnsinnig reagiert und noch dazu glaubt, ihren ermordeten Vater vor sich zu sehen.


    DRITTER AKT


    Calisto hat ihren Vater wiedergefunden. Allerdings ist Lycaon sehr zurückhaltend, denn er glaubt, daß seine Tochter gemeinsame Sache mit dem Schäfer Aretes macht. Von ihm weiß er nämlich inzwischen, daß er von Isis gegen ihn aufgehetzt wurde. Calisto beteuert gegenüber ihrem Vater ihre Unschuld und drängt ihn, sich vor seinen Feinden in Sicherheit zu bringen.


    Aretes/Jupiter setzt Calisto erneut unter Druck: entweder, sie geht auf sein Liebesverlangen ein oder er führt den Auftrag der Isis aus, ihren Vater Lycaon zur Strecke zu bringen.


    Isis wiederum ist immer noch dem Wahnsinn verfallen und bezichtigt Aretes der Untreue. Dafür geht nun Calisto auf dessen Liebeswerben ein. Das Duett, das die beiden Verliebten singen, wird von Diana mitgehört und sie verurteilt die mutmaßlich eidbrüchige Nymphe ohne zu Zögern zum Tode.


    Die Ausführung dieses Todesurteils kann in letzter Minute der sich nun zu erkennen gebende Jupiter verhindern; er besänftigt seine Tochter Diana und rettet damit Calisto das Leben.


    Jupiter ist sehr bemüht, seine Handlungsweisen in Ordnung zu bringen: er versichert dem König der Ägypter, Osiris, daß Isis nie in Gefahr war, ihre Ehre zu verlieren; außerdem heilt er sie von ihren Wahnvorstellungen und vereint das sich liebende Paar.


    Nachdem nun auch der Bösewicht Lycaon in seine Schranken verwiesen wurde, beendet ein Lobgesang auf Göttervater Jupiter und den Liebesgott Amor die Oper.


    INFORMATIONEN ZUM WERK


    Die Liebesabenteuer des Göttervaters und Schwerenöters Jupiter waren immer schon ein beliebter Stoff für die Bühne. In GIOVE IN ARGO arragierte der Librettist Antonio Maria Lucchini die amourösen Verwicklungen des Gottes mit zwei seiner sterblichen Geliebten, Io und Calisto, zu einer verwickelten Intrigenhandlung, die nichts mit den überlieferten Mythen zu tun hat. So fehlt in dieser Oper die in den Überlieferungen zentral behandelten Verwandlungen von Io in eine Kuh und Calisto in einen Bären. Allenfalls wäre der Auftritt eines Bären, der bei einer Jagd die Isis verfolgt, der von Osiris jedoch getötet wird, als eine Art „Reminiszenz“ an den altgriechischen Mythos anzusehen. Eine wichtige Figur im mythischen Geschehen, Jupiters eifersüchtige Gemahlin Juno, kommt bei Lucchini überhaupt nicht vor.


    Dafür ist es eine Erfindung von Lucchini, daß Calistos Vater Lycaon den Vater der Io, die hier allerdings unter ihrem ägyptischen Namen Isis auftritt, Inachus, umgebracht hat. Dieser Inachus war eigentlich ein Flußgott, demzufolge also unsterblich; Lucchini macht aus ihm jedoch den König von Arkadien.


    So gibt es nur ein einziges Handlungselement, das Lucchini der mythischen Sage tatsächlich entnommen hat: nämlich das Keuschheitsgelübde, das die Jägerin Calisto gegenüber der Göttin Diana geleistet hatte. Ihr in der Oper zum Ausruck kommender vermeintlicher Wortbruch soll von der erzürnten Göttin bestraft werden, was jedoch im letzten Moment durch das Eingreifen des Göttervaters verhindert wird. Dazu muß er aber seine wahre Identität preisgeben, und ihm gelingt es, Isis wieder mit ihrem Osiris zu versöhnen.


    Wie bereits in der Vorbemerkung zu „Alessandro Severo“ im Tamino-Opernführer betont, hat Händel seinem Publikum auch Pasticcio-Opern angeboten und folgte damit den Gepflogenheiten seiner Zeit. Zu diesen Opern gehört auch das hier vorgestellte Pasticcio GIOVE IN ARGO/JUPITER IN ARGOS. Drei von Händels Pasticcio-Opern sind fast ausschließlich aus Musik eigener Werke geformt: neben „Oreste“ (der zu unserer Zeit schon mehrfach erfolgreich aufgeführt wurde) und „Alessandro Severo“, zählt dazu auch GIOVE IN ARGO. Und dieses Pasticcio weist einige erwähnenswerte Besonderheiten auf:


    1. Es ist das einzige musikdramatische Werk Händels, in der die männlichen Hauptpartien nur für tiefe Männerstimmen konzipiert wurde, nämlich einem Tenor und zwei Bässen, Kastraten- oder Hosenrollen also völlig fehlen;


    2. Es ist die Oper mit den meisten und umfangreichsten Chorsätzen innerhalb seines Bühnenschaffens;


    3. GIOVE IN ARGO enthält neben zwei hochdramatischen Arien der Isis, die einer Oper des italienischen Komponisten und späteren russischen Hofkapellmeisters Francesco Araia oder auch Araja (1709 [Neapel] bis um 1770 [Bologna]) entstammen, auch einige Neukompositionen - für ein Pasticcio-Werk ungewöhnlich.


    GIOVE IN ARGO beansprucht eine nur kurze Aufführungsdauer und erinnert in seinem pastoralen Duktus an Werke wie „Acis and Galatea“ und die Hochzeitsoper „Atalanta“. Das könnte durchaus eine Verbeugung an sein Publikum gewesen sein, das sich inzwischen an den Oratorien-Komponisten gewöhnt hatte, den italienischen Opernunternehmer dagegen schon seit längerem nicht mehr goutierte. Möglicherweise hoffte Händel auch, mit den zum Teil ausgedehnten und virtuosen Chören und den beeindruckenden Partien für zwei Hörner im Orchestersatz an den Erfolg seiner ersten englischen Oratorien anzuknüpfen. Kurz vorher war nämlich „Israel in Ägypten“ ebenfalls im Haymarket Theater uraufgeführt worden.


    Neben den erwähnten Neukompositionen und den Entlehnungen bei Francesco Araia entnahm Händel die Musik zu GIOVE IN ARGO den Opern „Faramondo“, „Alcina“, „Giustino“, „Il pastor fido“ und „Imeneo“, aber auch den Serenaden „Il parnasso in festa“ sowie „Acis and Galatea“. Was die neu komponierten Sätze anbelangt, würde eine Aufführung in heutiger Zeit Musik hören lassen, die bisher noch nie zu hören war, darunter drei hochdramatische Accompagnato-Rezitative.


    Händels Hoffnung auf einen Erfolg von GIOVE IN ARGO hat sich allerdings nicht erfüllt. Die Oper wurde nach nur zwei Aufführungen vom Spielplan genommen. Den oder die Gründe kennen wir nicht, es gilt jedoch als wahrscheinlich, daß - erstens - das Interesse an italienischen Opern stark nachgelassen hatte und - zweitens - die von ausschweifenden Liebesbeziehungen erzählende Handlung beim äußerst prüden Londoner Opernpublikum nicht ankam.


    REZEPTIONSGESCHICHTE


    Es hat zweihundert Jahre gedauert, ehe durch Forschungsarbeiten GIOVE IN ARGO ein gewisses Interesse fand. Der bedeutende englische Händelforscher Newman Flower berichtete, aus seiner im Eigenbesitz befindlichen Abschrift, die wiederum aus der Aylesford-Sammlung stammt und von Händels Faktotum Johann Christoph Schmidt geschrieben wurde, 1935 eine Partitur erstellt zu haben (in: Georg Friedrich Händel - Der Mann und seine Zeit). Die BBC brachte auf der Grundlage dieser Notenausgabe am 30. Juni 1943 eine Rundfunk-Sendung dieses Pasticcios, allerdings unter dem Titel „Perseus und Andromeda“. Diese „Operatic Masque“ hatte nichts mit Händels Libretto-Vorlage zu tun, sondern wurde komplett neugestaltet, wie John H. Roberts (Reconstructing Handels Giove in Argo, Händel Jahrbuch 1954, S. 183) mitteilte. „Perseus und Andromeda“ wurde von Albert G. Latham getextet, Händels Musik von Julian Herbage und Ralph Greaves für diese Masque „transcribed and prepared“ (London, Oxford Univ. Press, 1935).


    Auf diese Flower-Partitur gründete Prof. Albert Scheibler seine Angaben, GIOVE IN ARGO habe den Mythos der Perseus-Sage zur Grundlage (Die 53 Bühnenwerke des Georg Friedrich Händel, Köln 1995). Danach ist Andromeda, Tochter des Königs von Äthiopien, Kepheus, und der Kassiopeia, einem Meeresungeheuer überlassen worden, aus dessen Fängen sie von Perseus, dem Sohn von Zeus und Danae, dem Bezwinger der Medusa, befreit wurde. Andromeda wurde in jenes bekannte Sternenbild verwandelt, das unserer Erde am nächsten steht und sogar mit bloßem Auge erkannt werden kann.


    Eine Notenausgabe von GIOVE IN ARGO ist bisher nicht erschienen, wohl aber von der Editionsleitung der Hallischen Händel-Ausgabe angekündigt worden. Eine erste vollständige Rekonstruktion der Oper versuchten die Musikwissenschaftler Steffen Voss und Thomas Synofzik. Sie beließen die Oper in der überlieferten Fassung, verfaßten die verloren gegangenen Rezitative nach Antonio Lottis Werk jedoch neu. Diese Version kam im September 2006 im historischen Markgräflichen Opernhaus Bayreuth im Rahmen des Festivals Bayreuther Barock auf die Bühne. Seinerzeit sangen Harry van der Kamp den Licaone, Theresa Nelles die Diana; Tanya Aspelmeier war Iside, Benoît Haller Jupiter und Arete; Lisa Tjalve gab die Calisto, Markus Auerbach war Erasto und Osiris. Es sangen und spielten die Ensembles „Concert Royal“ Köln und „Collegium Cantorum“ Köln unter der musikalischen Leitung von Thomas Gebhardt. Die Regie lag in den Händen von Igor Folwill. Diese Einspielung kann bei den Tamino-Werbepartnern Amazon und jpc bezogen werden:


    Für die Hallische Händel-Ausgabe wurde allerdings eine weitere Fassung erstellt, die am 28. Mai 2007 bei den Internationalen Händel-Festspielen in Göttingen mit Alan Curtis und seinem „Il Complesso Barocco“ herauskam und weitere Aufführungen in Halle/Saale und Herrenhausen nach sich zog.


    An dieser Stelle ist Herrn Jens Wehmann von der musikwissenschaftlichen Fachbibliothek des Händelhauses in Halle an der Saale für wertvolle Zusatzinformationen herzlichst zu danken.




    © Manfred Rückert für Tamino-Opernführer 2011
    unter Hinzuziehung folgender Quellen:
    Albert Scheibler: Die 53 Bühnenwerke des Georg Friedrich Händel
    Booklet der CD-Aufnahme
    Mitteilungen des Händelhauses Halle/Saale

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