Es ist wirklich unglaublich, was den gutwilligsten Opernbesuchern von Intendanten und Regisseuren seit vielen Jahren zugemutet wird. Kernwerke des Repertoires – vom zahlenden Publikum geliebt – werden von mit maßloser Hybris auftretenden Werkzerstörern völlig entstellt. Man fragt sich, wie es sein kann, dass immer wieder dieselben selbsternannten Regisseure mit Inszenierungen beauftragt werden, obgleich die Zeugnisse derer handwerklicher Unfähigkeit Legion sind.
Eines der vielen Beispiele, die es aufgrund unbekannter Machtgefüge sogar bis zu einer Veröffentlichung auf DVD geschafft haben, ist die Inszenierung der „Bohème“ von Giacomo Puccini im San Francisco Opera House aus dem Jahre 1988. Prominent besetzt, durften die Erwartungen aller Besucher groß sein. Doch wie sehr wurden sie enttäuscht.
Das Ärgernis beginnt damit, dass das Bühnenbild nicht mit den Anweisungen der Partitur übereinstimmt – und auch nicht mit den überlieferten Bühnenbildentwürfen zur Uraufführung des Werkes, welche sich heute noch im Besitz des Verlages G. Ricordi & C. S. p. A., Mailand, befinden und von jedem, dem an einer werkgetreuen Aufführung gelegen ist, eingesehen werden können. Überflüssig zu erwähnen, dass die Partitur und die damaligen Entwürfe, die unter Puccinis und der Librettisten Aufsicht entstanden, die einzig gültige Referenz zur Beurteilung eines Bühnenbildes sind und als solche sankrosankt.
Puccini, Giocosa und Illica fordern eindeutig, dass sich das Fenster der Mansarde im ersten Bild auf der von Zuschauer gesehen rechten Seite befinden soll. In San Francisco wurde es links positioniert, offenbar um schon von Anfang an zu demonstrieren, dass man einen neuen Blickwinkel auf das Werk geben will. Wie dümmlich und infantil. Und welcher Sinn soll bitteschön darin liegen, dass man Rodolfo in einer Jeanshose auftreten lässt? Bekanntlich spielt „La Bohème“ um 1830, wohingegen die Jeans von Levi Strauss als Bekleidung für amerikanische Goldgräber erfunden wurde, der aber erst im Jahre 1847 nach San Francisco auswanderte. Eine heimliche Hommage an den wohl bekanntesten Adoptivsohn der Stadt? Und mit welcher künstlerischen Rechtfertigung?
Ein wirklich makabrer Gag ist es auch, den hungernden und frierenden Dichter Rodolfo ausgerechnet mit dem wahrlich nicht unterernährt wirkenden Luciano Pavarotti zu besetzen. Welcher Hirnrissigkeiten sollen wir als nächste gewärtig sein? Etwa Jessye Norman als schwindsüchtige Violetta? Für wie dumm soll das Publikum noch gehalten werden?
Es ist leider schon fast selbstverständlich, dass die zahlreichen und ausführlichen Regieanweisungen in der Partitur geradezu sträflich missachtet werden und der Regisseur sich in überheblicher Weise anmaßte, es besser zu wissen als Librettisten und Komponist. Als Beispiele unter vielen möglichen sei die Anweisung bei Ziffer 25 der Partitur genannt: „Rodolfo chiude L’uscio, depone il lume, sgombra un angelo del tavolo, vi colloca calamaio e carta, poi siede e si mette a scrivere dopo avere spento l’altro lume rimasto acceso.“ – Nichts von alldem. Verf. erspart den geneigten Lesern die ermüdende Aufzählung weiterer Beispiele solcher Werkentstellungen.
Besonders degoutant wirkt jedoch das Applaudieren des Publikums nach den bekannten Arien „Che gelida manina“ und „Mi chiamano Mimi“. Toscanini, der Dirigent der Uraufführung, der seine Anweisungen noch von Puccini persönlich erhalten hatte und uns darum als unfehlbare Instanz zu gelten hat, lehnte solches strikt ab. Dies ist hinlänglich bekannt. Wenn sich nun das Publikum in San Francisco dennoch zu dem künstlerisch störenden Applaus bewegen ließ, der die innere Einheit und Wohlproportioniertheit des Werkes unterbricht, was nur aus niederen Motiven heraus nachzuvollziehen ist, dann ist dies ein klarer Hinweis darauf, dass die allgegenwärtige Verschwörung von Intendanten und Regisseuren zur Zerstörung unvergänglicher Kunstwerke nun auch auf das Publikum übergegriffen hat. Das werkfremde Verhalten der Zuschauer ist nur so erklärbar, dass weite Teile bestochen wurden und somit Teil des Sumpfes der Korruption geworden sind, der sich heutzutage „moderner Opernbetrieb“ schimpfen darf.
Völlig unklar bleiben weitere sogenannte Regieeinfälle (die man besser als pathologische Fantasien bezeichnen würde) wie die Projektion der Hauptkirche Notre Dame am Ende der beiden vorgenannten Arien im ersten Bild oder im dritten Bild das Besetzen des Sergeanten – eines Vertreters der Staatsmacht – mit einem Farbigen. Man bedenke: An der Pariser Stadtgrenze von 1830!
Wenn man auch dergleichen schon aus vielen anderen Inszenierungen des Regietheaters – das man besser Zerstörungstheater nennen würde – leider gewohnt ist, so setzt doch der musikalische Teil der Aufführung dem Ganzen die Krone auf. War bisher die Musik sozusagen das Rückzugsgebiet derer, die die Werktreue hochhalten, so hat man hier nicht einmal davor zurückgeschreckt, die Partitur zu entstellen. Jeder Musikinteressierte weiß, wie straff und sachlich der Uraufführungsdirigent Arturo Toscanini, der das Werk vom Komponisten selbst empfing, diese Musik spielen ließ – weil er wusste, was dem Maestro vorschwebte! Und wie sentimental wurde doch in San Francisco gespielt – jedes Ritardando wurde ausgekostet, häufig wurde es früher als notiert begonnen usw. usw. Als ob Puccini ein süßliches Rührstück für ein emotionssüchtiges Publikum komponiert hätte. Hier wurde wirklich eine Grenze überschritten, die bisher als tabu galt. Verf. darf sagen, dass ihn gerade dies am meisten erschütterte.
Quo usque tandem?