Sibelius: Symphonie Nr. 2 D-Dur op. 43 – Die "Unabhängigkeits-Symphonie"?

  • Die zwischen 1900 und 1902 entstandene 2. Symphonie D-Dur op. 43 von Jean Sibelius gilt heute gemeinhin als sein berühmtestes Werk. An Popularität kommt allenfalls die 5. Symphonie an sie heran. Wie bereits bei der Ersten, leitete der Komponist auch bei der Zweiten höchstpersönlich die Uraufführung am 8. März 1902, wiederum mit dem bereits damals traditionsreichen Philharmonischen Orchester Helsinki. Genauso wie bei seiner Ersten nahm Sibelius auch bei der Zweiten einige Änderungen vor; die revidierte Fassung gelangte am 10. November 1903 in Stockholm zur Welterstaufführung (unter Armas Järnafelt). Kajanus machte 1930 mit dem London Symphony Orchestra die erste Schallplattenaufnahme von op. 43. Im Jahr 2009 kam die 2. Symphonie von Sibelius beim "ABC Classic 100 Symphony Countdown" auf den 9. Platz.


    Reclams Konzertführer beschreibt das Werk folgendermaßen: "Das Werk zeigt alle Vorzüge seines Stils: Kraft, herbe Farbgebung, ernstes Pathos, Naturverbundenheit … Als bedeutend erweist sich Sibelius’ Fähigkeit, aus kleinen Motiven in allmählichem Wachstum große packende Bilder werden zu lassen."


    Der im Vergleich mit der Ersten etwas besinnlichere und wärmere Grundton erkläre sich zumindest teilweise aus dem Italienaufenthalt des Komponisten im Jahre 1901 (vgl. u. a. Barry Millingtons Analyse im Beiheft zur Rattle-Aufnahme).


    Rezeption:


    Bereits seinerzeit wurde die Zweite von Sibelius in Verbindung gebracht mit den verzweifelten Unabhängigkeitsbestrebungen Finnlands, welches sich damals unter russischer Fremdherrschaft befand. Die finnische Sprache und Kultur wurde von Sankt Petersburg aus unterdrückt. Ob Sibelius tatsächlich einen derart patriotischen Hintergrund bei seiner Zweiten im Kopf hatte, ist umstritten.


    Die Sätze:


    I. Allegretto – Poco allegro – Tranquillo, ma poco a poco ravvivando il tempo all’allegro – Poco largamente – Tempo I – Poco allegro
    II. Tempo andante, ma rubato – Poco allegro – Molto largamente – Andante sostenuto – Andante con moto ed energico – Allegro – Poco largamente – Molto largamente – Andante sostenuto – Andante con moto ed energico – Andante – Pesante
    III. Vivacissimo – Lento e soave – Tempo primo – Lento e soave – (attaca)
    IV. Finale. Allegro moderato – Moderato assai – Meno moderato e poco a poco ravvivando il tempo – Tempo I – Largamente e pesante – Poco largamente – Molto largamente


    Aufnahmen:


    Von wohl keiner anderen Sibelius-Symphonie liegen derart viele Aufnahmen vor wie von der Zweiten. Neben den im Zuge der zahlreichen Gesamtaufnahmen sämtlicher Sibelius-Symphonien entstandenen Einspielungen existieren viele Einzelaufnahmen bedeutender Dirigenten, die z. T. nur die Zweite überhaupt aufnahmen. Im folgenden sei lediglich eine kurze Auswahl bedeutender Aufnahmen gegeben, die freilich ergänzt werden kann und soll.



    Royal Philharmonic Orchestra
    Sir John Barbirolli
    1962



    The Cleveland Orchestra
    George Szell
    1970 (letzte Aufnahme)



    Wiener Philharmoniker
    Leonard Bernstein
    1986



    Philharmonisches Orchester Helsinki
    Leif Segerstam
    2002


    Weitere Sibelius-Threads:


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    »Und besser ist's: verdienen und nicht haben,

    Als zu besitzen unverdiente Gaben.«

    – Luís de Camões

  • Prädikat "hervorragend":


    - Hallé Orchestra/Barbirolli 1966 [I. 10:33, II. 15:02, III. 5:58, IV. 14:22] – mit Gänsehautfaktor im Finale
    - The Cleveland Orchestra/Szell 1970 [I. 9:20, II. 12:55, III. 5:51, IV. 14:26] – Weltklasseniveau des Orchesters
    - Wiener Philharmoniker/Bernstein 1986 [I. 10:56, II. 18:11, III. 6:25, IV. 15:58] – hyperemotionalste Interpretation aller Zeiten
    - Philharmonisches Orchester Helsinki/Segerstam 2002 [I. 10:30, II. 15:03, III. 6:23, IV. 14:13] – wunderbar satter und dunkler Klang


    Prädikat "sehr gut":


    - Dänisches Nationales Symphonieorchester/Segerstam 1991 [I. 10:41, II. 15:30, III. 6:28, IV. 14:24] – bis auf die etwas versteckten Pauken wenig zu kritisieren


    Prädikat "gut":


    - Philharmonia Orchestra/Ashkenazy 1979 [I. 10:39, II. 15:01, III. 6:17, IV. 14:25] – bleibt ein wenig an der Oberfläche
    - Berliner Philharmoniker/Karajan 1980 [I. 9:53, II. 14:36, III. 6:42, IV. 16:31] – insgesamt etwas glatt; Finale vor allem laut, aber das gewisse Etwas vermißt man
    - Philharmonisches Orchester Helsinki/Berglund 1986 [I. 8:53, II. 12:43, III. 5:50, IV. 12:24] – mir persönlich zu gehetzt, besonders im Finale geht viel dadurch verloren

    »Und besser ist's: verdienen und nicht haben,

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    – Luís de Camões

  • Hi


    Wenn man schon Barbirolli ins Feld führt, sollte man auf seinen Konkurrenten Sir Thomas Beecham nicht vergessen. Dieser ist bei der 2. Sibelius eine nicht zu vernachlässigende Größe. Leider sind seine Mitschnitte "historischer" und damit von schlechterer Klangqualität, was man aber recht schnell vergessen kann. Z.B.:


    Ciao


    Von Herzen - Möge es wieder - Zu Herzen gehn!


  • Und wenn man George Szell erwähnt, sollte nicht die Aufnahme mit dem Concertgebouw Orchester Amsterdam fehlen, für mich die intensivste Auseinandersetzung mit diesem Werk:


    Grüße aus der Nähe von Hamburg


    Norbert


    Das Beste in der Musik steht nicht in den Noten.

    Gustav Mahler


  • Hallo Theophilus,


    stimmt, Beecham ist erwähnenswert. Von wann ist diese Aufnahme denn? Wohl noch Mono?
    Apropos: Toscanini muß auch erwähnt werden, wenn wir historisch werden. Legte der nicht gar die erste Gesamtaufnahme der 2. vor?


    Hallo Norbert,


    in den landläufigen Kritiken kommt die Tokioer Aufnahme (Szells allerletzte!) noch besser weg als die mit dem Concertgebouworkest. Allerdings muß ich auch sagen, daß man sich letztlich allein auf seine eigenen Ohren verlassen sollte. So wird ja auch oft die Aufnahme von Barbirolli mit dem Royal PO (kenn ich durch Auszüge) manchmal höher eingestuft als seine spätere mit dem Hallé. Mir kam das genau andersrum vor. Die Blechbläser scheinen in der EMI-Aufnahme präsenter, genauso die Pauken. Sie ist noch dramatischer angehaucht.


    Liebe Grüße
    :hello:

    »Und besser ist's: verdienen und nicht haben,

    Als zu besitzen unverdiente Gaben.«

    – Luís de Camões

  • Von wann ist diese Aufnahme denn? Wohl noch Mono?

    1947. Es gibt auch einen BBC-Mitschnitt von 1954, der wohl technisch besser ist, aber nicht das zeitgemäße Niveau erreichen soll. Dann soll es auch noch einen Mitschnitt aus den 30ern geben...


    :hello:

    Ciao


    Von Herzen - Möge es wieder - Zu Herzen gehn!



  • Das dürfte dann der BBC-Mitschnitt sein. Vielleicht kennt den ja wer.

    »Und besser ist's: verdienen und nicht haben,

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    – Luís de Camões

  • Hallo Norbert,


    in den landläufigen Kritiken kommt die Tokioer Aufnahme (Szells allerletzte!) noch besser weg als die mit dem Concertgebouworkest. Allerdings muß ich auch sagen, daß man sich letztlich allein auf seine eigenen Ohren verlassen sollte. So wird ja auch oft die Aufnahme von Barbirolli mit dem Royal PO (kenn ich durch Auszüge) manchmal höher eingestuft als seine spätere mit dem Hallé. Mir kam das genau andersrum vor. Die Blechbläser scheinen in der EMI-Aufnahme präsenter, genauso die Pauken. Sie ist noch dramatischer angehaucht.


    Hallo Joseph,


    bei den Preisen, die für die Sony-Aufnahme verlangt werden, werde ich wohl schwerlich einen Vergleich anstellen können... ;)


    Für einen Appel und ein Ei kann man übrigens eine Aufnahme erstehen, die an Intensität der Szells kaum nachsteht, nämlich eine mit Charkes Mackerras und dem Royal Philharmonic Orchestra:


    Grüße aus der Nähe von Hamburg


    Norbert


    Das Beste in der Musik steht nicht in den Noten.

    Gustav Mahler


  • Danke für den Hinweis auf Mackerras. Die Aufnahme fiel mir gestern beim Durchstöbern des Amazon-Marketplace als "spottbillig" ins Auge. Nun bin ich schon wieder in Versuchung gebracht, meinen Entschluß, diesen Monat nichts mehr zu kaufen, rückgängig zu machen ... ;)


    Apropos: Es gibt noch zwei weitere Aufnahmen der 2. Symphonie von Sibelius unter "Glorious John" Barbirolli, nämlich Rundfunkmitschnitte mit dem Boston SO 1964 sowie mit dem Kölner RSO 1969. Hier bzw. hier zu haben. Die Kommentare zur Bostoner Aufnahme sind frenetisch. Bin gerade dabei, das zu überprüfen.

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    – Luís de Camões

  • Und wenn man George Szell erwähnt, sollte nicht die Aufnahme mit dem Concertgebouw Orchester Amsterdam fehlen, für mich die intensivste Auseinandersetzung mit diesem Werk:



    Lieber Norbert und Josef,


    für mich steht die oben abgebildete Szell-Aufnahme auch an der Spitze der zur Verfügung stehenden Aufnahmen der Sinfonie Nr.2.
    Dank an Josef für den Hinweis auf Szell / Cleveland Orchestra (SONY) - die muss ich mir jetzt schleunigst an Land ziehen, da diese offenbar der holländischen Philips-Aufnahme noch vorzuziehen ist. ;( Leider wird mein Vorhaben wohl nicht so leicht umzusetzen sein, da diese in Beitrag 1 angebildete Doppel-CD nur zu Wucherpreisen angeboten wird ...


    :) Josef hat in Beitrag 2 ein nettes Resüme gezogen - da ist auch aus meiner Sicht was Wahres dran:
    Bernstein´s DG-Aufnahme mit den WPO = die hyperemotionalste Aufnahme ... auch das Du Karajan (EMI 1980) und Ashkenazy (Decca) als GUT einstufst und nicht schlechter !


    :!: Aber Du vergisst zwei Aufnahmen, von Bernstein und Karajan, die ich deutlich über die (von Beiden) von Dir genannten stellen würde:
    *** Vergleiche ich die Bernstein-DG-Aufnahme mit seiner Alten mit den New Yorker PH, so ist diese genau so umwerfend gestrickt, hat aber den Vorteil, das die Tempi einmal mehr durchweg angemessener genommen werden.
    Ich kenne die letzte Szell-Aufnahme noch nicht - aber mein Favorit für die Sinfonie Nr.2 ist seit langem Bernstein / New Yorker PH (SONY, 1966)

    SONY, 1966(2.), ADD



    *** Dann Karajan ! Kennst Du seine Aufnahme mit dem Philharmonia Orchestra (EMI, 1960) ? Wie meisterhaft Karajan dort die Spannungsbögen zieht ist genial. Ich bin mir sicher, dass Du das auch so sehen würdest. Zudem ist die CD mit eine der Besten "5." gekoppelt.
    Diese Aufnahmen sind ebenfalls nicht nur GUT sondern sehr gut !
    Und klanglich ist das auch keine typische EMI-Aufnahme - die klingt wirklich sehr natürlich ohne die üblichen EMI-Verfärbungen (hatten die in London nicht das Decca-Equipment verwendet ? Ich meine das mal gelesen zu haben.)

    EMI, 1960, ADD




    * Mackerras (RPO) ! Ich habe diese RPO-CD auch gehabt. Von dem gewohnten Klang der RPO-Reihe (da habe ich so einiges) war ich hier enttäuscht, da der Klang nicht diese detailreichen audiophilen Qualitäten hat wie sonst bei RPO. Da die recht konservative Interpretation mir auch keine Neuigkeiten bescherte und ich Bernstein (SONY) in einer ganz anderen Liga sehe, habe ich die CD vor Jahren gut verhöckern können. Das sie (wie Norbert schreibt) an die Intensität Szells anknüpfen kann, kann ich für meinen Geschmack nicht nachvollziehen.

    Gruß aus Bonn, Wolfgang

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  • Zum Beitrag Nr. 10 von teleton kommt mir etwas sehr deutlich in Erinnerung, das ich in den 90er Jahren des letzten Jahrhunderts gelesen habe.


    Eine Zeitlang gab es das BBC music Magazine in deutscher Sprache, mit je einer CD aus BBC-eigenen Produktionen. In einem Heft, das mir im Moment nicht zugäglich ist, sich aber noch irgendwo im Haus befinden muss, wurde eine groß angelegte vergleichende Betrachtung aller vorliegenden Einspielungen der 2. Symphonie von Sibelius veröffentlicht. Als eindeutig beste Aufnahme wurde die von teleton erwähnte Karajan-Einspielung ermittelt. Sinngemäß hieß es dort, dass es nur Karajan gelinge, Feuer und Wasser in dieser Symphonie zusammenzubringen.


    Das wollte ich noch kurz beisteuern.


    LG
    Portator

  • Hallo Wolfgang,


    ich wußte fast schon, daß du den früheren Bernstein erwähnen würdest. Die Aufnahme lag mir nicht vor, daher mußte ich darauf verzichten in dem kurzen "Vergleichstest".
    Der Hinweis auf den frühen Karajan indes ist interessant! Du würdest diese Aufnahme also der späteren vorziehen? Mir fiel auf, daß Karajan im 4. Satz der 1980er Aufnahme länger braucht als Bernstein 1986.


    Apropos: Wie schätzt ihr die Aufnahme von Okko Kamu ein? Er hatte die Ehre, 1970 mit 24 Jahren (!) Karajans Flaggschiff, die Berliner Philharmoniker, zu dirigieren und die 2. von Sibelius einzuspielen. Vor allem: Hat er's besser drauf als der Chef persönlich, 1960 und 1980?


    Kennt jemand Levine, ebenfalls mit den Berlinern?

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    – Luís de Camões

  • Zitat

    Der Hinweis auf den frühen Karajan indes ist interessant! Du würdest diese Aufnahme also der späteren vorziehen?


    Hallo Josef,


    ja unbedingt (das hatte ich ja in Beitrag 10 geschrieben, das ich beide älteren-Aufnahmen von Karajan und Bernstein, den DDD-Aufnahme, die Du nennst, vorziehe).
    Während bei Karajan die Sinfonie Nr.2 (EMI, 1980) auf mich genau so schroff wirkt wie der Klang dort, halte ich seine Aufnahme mit dem Philharmonia Orchestra für eine der Besten und Ausgewogensten der Zweiten insgesamt.
    Natürlich hat Bernstein wiedermal noch mehr Emotion; ;) das mögen und schätzen wir ja - die Andere Frage wäre, ob das immer richtig ist. Letztendlich ist mir das auch egal und ich ziehe ich dann die Interpretetion mit noch mehr Feuer vor.
    Interessant sind sicher die Spielzeiten:
    Karajan / Philharmonia Orchestra (EMI, 1960) = 10:04 - 14:29 - 6:08 - 15:19
    Bernstein / New Yorker PH (SONY, 1966) . . . = 9:25 - 14:43 - 5:41 - 14:34


    Beide sind deutlich zügiger als in den späteren Aufnahmen unterwegs - für mich nachvollziehbar angemessenere Spielzeiten.


    Zu Okko Kamu:
    Ich hatte seine Aufnahmen (1.-3.) zuerst in der DG-GA mit Karajan (4.-7.) in einer LP-Box. Bereits damals war ich enttäuscht, dass gerade die Sinfonien Nr.1 und 2 nicht mit Karajan dirigiert waren. Irgendwie fand ich gerade die Sinfonie Nr.2 (mit den Berliner PH) recht konservativ. So richtig wirklich konnte der Funke für die Okko Kamu-Aufnahme einfach nicht überspringen. Später hatte ich diese Aufnahme auch mal als CD-Ausgabe von DG-Galleria - aber nicht lange, denn inzwischen hatte ich mehrere andere Aufnahmen, die mir weit besser gefallen haben (z:Bsp. fand ich die Perfekte auch großartige Spannungsböhen ziehende mit C.Davis / Boston SO (Philips) weit besser als Kamu). Solche CD´s fliegen dann schnell wieder bei mir raus ...
    8) Ich habe dann lange nach weiteren Alternativen gesucht und diese dann erst wirklich in Ashkenazy und später in Bernstein, Szell und Karajan 60 erst gefunden !


    Zitat

    Vor allem: Hat er's besser drauf als der Chef persönlich, 1960 und 1980?


    Nein, finde ich nicht ! :thumbup: Ganz klar und eindeutig hat er es nicht besser drauf im Vergleich zu Karajan (EMI, 1960) !!!

    Gruß aus Bonn, Wolfgang


  • Bereits heute traf oben stehende Gesamtaufnahme der Sibelius-Symphonien unter Gennady Roschdestwensky ein, welche er zwischen 1969 und 1977 mit dem Großen Rundfunk-Sinfonieorchester der UdSSR (vulgo Moskauer RSO) für Melodiya gemacht hat. Zunächst eine ausdrückliche Entwarnung: Es handelt sich um für die Aufnahmedaten sehr gediegenes Stereo. Meine Ansprüche sind vermutlich nicht so hoch wie jene Teletons (:D), aber ich denke, auf einer Skala von 1 bis 10 würde das durchaus 7 oder 8 erreichen.


    Zu den Äußerlichkeiten: Wir haben hier eine sehr schick gemachte Box vor uns. Die CDs sind im alten LP-Design mit russischen Aufschriften versehen, was mir persönlich als sehr gelungener Gag zusagt.


    Ich habe heute CD 1 mit den Symphonien Nr. 2 und 3 gehört. Da es in diesem Thread um die Zweite gehen soll, werde ich mich auf diese beschränken. Die Aufnahme entstand 1969 als erste des gesamten Zyklus.


    Spielzeiten:


    I. 9:36
    II. 15:00
    III. 5:52
    IV. 14:30
    Gesamt 44:58


    Unverkennbar der russische Klang des Orchesters. Ich persönliche liebe das ja. Überzeugte mich schon bei Roschdestwenskys Bruckner. Sehr explosiv und vorwärtsdrängend, das Ganze. Die Blechbläser sind phänomenal. Für mich persönlich ist das durchaus ein Ansatz, der "nordisch" klingt: etwas schroff, herb, nicht geschönt, quasi "antikarajanisch". Roschdestwensky betont das Expressionistische an Sibelius. Eine der interessantesten Zweiten in meiner Sammlung.

    »Und besser ist's: verdienen und nicht haben,

    Als zu besitzen unverdiente Gaben.«

    – Luís de Camões

  • Lieber Josef,


    Danke für deinen ersten Bericht dieser hochinteressanten GA von Roshdestwensky. Ich möchte unbedingt mehr über die GA erfahren und freue mich bereits auf deine weiteren Statements zu den weiteren Sinfonien. Ganz besonders interessieren mich deine Eindrücke zu Nr. 1 und 5; auch was die Spielzeiten und den Klangeindruck dort anbetrifft.
    Du wirst mir zustimmen, dass ganz besonders bei der Sinfonie Nr.1 die dort tragenden Pauken besonders wichtig sind. Da möchte ich natürlich wissen, wie diese in den Klang eingebettet; oder besser wie präsent diese klingen.


    Mein Maßstab an Klangvorstelklungen mag sicher besonders hoch sein, wie Du heute schon an anderer Stelle geschrieben hast. :D Bei mir sollte es schon teletontauglich sein 8);) Aber ist doch klar - das liegt natürlich daran, dass ich bereits von anderen Sibelius- GA sehr verwöhnt bin: Klangmassstäbe setzt eindeutig Ashkenazy (Decca) und Emotionsmassstäbe (mit ebenfalls gutem Klang) eindeutig Bernstein (SONY und DG).



    ;( Im letzten Absatz schreibst du etwas was mir nicht gefällt:
    Du kannst Karajan bei Sibelius 2 auf keinen Fall einen geschönten Klang vorwerfen und deinen vergleich auch noch als "antikarajanisch" umschreiben. :whistling: Das ergibt für den Leser ein völlig falsches Bild.
    Seine Aufnahme der Sinfonie Nr.2 mit den berliner PH (EMI, 1980), die Du kennst, geht schonmal gar nicht in diese Richtung; die ist sehr herb und schroff; frei von jeglichem Breitwandsound. Vom Klangeindruck her eher für Karajan untypisch. :thumbup: Aber seine frühe Aufnahme mit dem Philharmonia Orchestra London (EMI, 1960) ist ganz das Gegenteil von Schönklang. Die setzt noch einen drauf, ist einfach packend, megaspannend, hochemotional und man hört das da ein wirklicher Sibelius - Fachmann auf dem Dirigentenpult steht. Die Spannungsbögen die Karajan in dieser Aufnahme zieht sind unglaublich.
    :hello: Ich hoffe das Du diese mit der ebenfalls fabelhaften 5 gekoppelt bald mal zu hören bekommst.
    :?: Mich wundert eigendlich das sich keiner zu der EMI-CD (Abb in beitrag 10) äussert. Bereits vor vielen Jahren im hifi-forum wurde diese stürisch bejubelt, als ich die CD selber noch gar nicht kannte.

    Gruß aus Bonn, Wolfgang

  • Lieber Wolfgang,


    ich werde weiter berichten. ;)
    Sehr gelungen empfand ich die etwas im Schatten stehende 3. Symphonie, die ich kurz nach der 2. hörte. Da sind die Pauken und Blechbläser wirklich sehr präsent eingefangen.
    Was die Wichtigkeit der Pauken im Allgemeinen angeht, sind wir zwei eh auf einer Linie. Sie sind auch in der 2. gut eingefangen.
    Wunderbar sind die tiefen Blechbläser am Anfang des 4. Satzes: das ist geradezu ideal gelungen.


    Zu meinem Begriff "antikarajanisch": Das war eher generell gemeint, bezogen auf die landläufige Meinung zum glattgebügelten "Karajan-Sound".
    Tatsächlich ist Karajans Sibelius auf DG wirklich einer, der sich nicht verstecken muß und der zumindest in den 60er-Aufnahmen nicht dem "Schönklang" verpflichtet war (die 70er-EMI-Aufnahmen der 4. und 5. fand ich vergleichend bereits etwas glatter).
    Bei diesem Komponisten war er zumindest meistens in seinem Element.
    Die späten Aufnahmen der 1. (1981) und 2. (1980) auf EMI sind allerdings nicht mehr ganz so referenzträchtig, wenn auch sicherlich nicht mißlungen.


    Wieso kaum wer die frühen Stereo-Einspielungen der 2. und 5. von Karajan kennt, erkläre ich mir schlicht dadurch, daß viele eher die späteren Aufnahmen auf DG (4–7) und EMI (1, 2, 4–6) haben werden. Vielleicht glauben auch etliche, daß der frühe EMI-Sibelius von HvK gänzlich in Mono sei, was freilich nur auf die 4., 6. und 7. aus den 50ern zutrifft.

    »Und besser ist's: verdienen und nicht haben,

    Als zu besitzen unverdiente Gaben.«

    – Luís de Camões

  • Wieso kaum wer die frühen Stereo-Einspielungen der 2. und 5. von Karajan kennt, erkläre ich mir schlicht dadurch, daß viele eher die späteren Aufnahmen auf DG (4–7) und EMI (1, 2, 4–6) haben werden. Vielleicht glauben auch etliche, daß der frühe EMI-Sibelius von HvK gänzlich in Mono sei, was freilich nur auf die 4., 6. und 7. aus den 50ern zutrifft.


    Daß die Aufnahme relativ unbekannt ist, liegt wohl ganz simpel daran, daß sie erst 2005 veröffentlicht wurde. Die von Dir, lieber Joseph, genannten Alternativen existieren "schon seit Ewigkeiten" in x verschiedenen Editionen, so daß dadurch fast automatisch ein höherer Bekanntheitsgrad erzielt wurde.


    Ich jedenfalls möchte die Interpretationen nicht missen. Besonders die 2. Sinfonie fällt für mich etwas aus dem Rahmen, weil Karajan hier ungewöhnlich breite Tempi verwendet (in der Spielzeit ca. viereinhalb Minten langsamer als Szell), die Tempi bei der 5. Sinfonie sind weitaus "konventioneller".
    Allerdings schafft es Karajan hervorragend, auch und gerade bei der 2. Sinfonie, die von teleton beschriebenen Spannungsbögen zu halten.

    Grüße aus der Nähe von Hamburg


    Norbert


    Das Beste in der Musik steht nicht in den Noten.

    Gustav Mahler



  • Oben stehende Aufnahme ist heute bei mir eingetroffen. Aufmerksamen Taminos ist vielleicht nicht entgangen, daß ich mir beide Stereo-Aufnahmen dieser Symphonie unter Ormandy zugelegt habe (jene von 1957 traf noch nicht ein, aber ich habe via YouTube schon reingehört).


    Kurz gesagt: Die sensationelle Aufnahme von 1957 toppt sie nicht. Aber das wußte ich schon durch einige Kritiken zuvor. Es handelt sich alles in allem um eine sehr achtbare Einspielung, die aber irgendwie seltsam altersmilde daherkommt. Sie wirkt ein wenig "glatt gebügelt", Ecken und Kanten werden gleichsam abgeschliffen. Die mir so wichtigen Pauken im Finalsatz agieren sehr verdeckt, um nicht zu sagen überdeckt. Und auch das berühmte Philadelphia-Blech hörte ich schon effektvoller. Es war sicherlich gewollte Intention des langjährigen Chefdirigenten, wenn er "sein" Orchester hier so spielen ließ (zum Zeitpunkt der Aufnahme war er bereits seit Jahrzehnten der musikalische Leiter dort und natürlich ein "alter Hase"). Insofern klarer Kontrast zur früheren Aufnahme. Die Tonqualität ist auch nicht so toll. An manchen Stellen ein unschönes Rauschen, was 1972 eigentlich net sein dürfte. Ein Fehlkauf indes nicht. Das Violinkonzert von 1980, das auch auf der CD ist, gefällt mir sehr viel besser (klingt auch besser tontechnisch).

    »Und besser ist's: verdienen und nicht haben,

    Als zu besitzen unverdiente Gaben.«

    – Luís de Camões

  • Hallo Josef,


    nachdem ich in "Heute erst gekauft" gelesen hatte, dass Du beide Ormandy-Aufnahmen hast, wollte ich zu Ormandy 1972 auch ein paar Worte schreiben.
    Da sich deine Eindrücke weitestgehend mit den meinen decken, kann ich mir längeres ersparen. Ich finde die Ormady-Aufnahme aber nicht so schlecht, dass ich die RCA-CD verhökern würde, da auch er die Spannungsbögen gut meistert (Ich habe auf RCA eine andere Kopplung mit 3 Sinf. Dichtungen - Abb nicht gefunden -). (( :angel: Für das VC kommt für mich ohenhin nur Oistrach/Ormandy (SONY) in Frage !))


    :!: Sehr interssant der Hinweis auf die 1957er-Aufnahme (SONY), die aber klangtechnisch wiederum nicht gerade vom Hocker reissen wird !??! Oder, muss man die haben ? Bin auch hier gespannt auf deine Einschätzung.

    Gruß aus Bonn, Wolfgang

  • Zitat

    Sehr interssant der Hinweis auf die 1957er-Aufnahme (SONY), die aber klangtechnisch wiederum nicht gerade vom Hocker reissen wird !??! Oder, muss man die haben ? Bin auch hier gespannt auf deine Einschätzung.


    ... und diese kommt jetzt. ;)



    Philhadelphia Orchestra
    Eugene Ormandy
    1957


    Klangtechnisch (um mal damit anzufangen) haben wir ein durchaus ordentliches Stereo der frühen Tage vorliegen. RCA hatte bereits 1954 mehr zu bieten, aber ich finde es jetzt nicht schlecht. Vor allem, da die Aufnahme von 1972 auch nicht unbedingt TOP ist, insofern kein genuiner Nachteil dieser 15 Jahre älteren Einspielung.


    Ob man die haben muß? Ich würde sagen, eher als die von 1972 allemal. Ormandy war ein großer Sibelianer, der Ruf kommt nicht von ungefähr.


    Vergleichen wir mal die Spielzeiten:


    I. 9:38 (1957) — 9:43 (1972)
    II. 14:07 (1957) —14:01 (1972)
    III. 5:39 (1957) — 6:03 (1972)
    IV. 14:14 (1957) — 14:36 (1972)
    Gesamtspielzeit 43:54 (1957) — 44:33 (1972)


    Man sieht schon: Nahezu identisch.


    Am meisten interessiert mich bei Vergleichshören natürlich immer der fulminante Finalsatz mit der epischen Coda (wenn die nicht stimmt, kann's der Rest auch nicht mehr reißen). Und kurz gesagt: Hier schlägt Ormandy 1957 seine spätere Aufnahme ziemlich deutlich. Nicht nur daß der Zugriff irgendwie zupackender ist (auch wenn das aus den reinen Spielzeiten kaum hervorgeht). Man hört endlich auch die Pauken und die Blechbläser deutlicher. Den Klimax zuletzt bringt Ormandy sehr überzeugend und sich klug steigernd. Den Wahnsinn eines Barbirolli (EMI, 1966) erreicht es zwar nicht ganz, aber es ist schon wirklich nahe am Optimum, wenn auch irgendwie etwas nüchterner und nicht so hyperemotional.


    __________________________________________________________________________________________________________________________________________


    Da ich heute schon am Vergleichen war, habe ich gleich noch meine beiden Aufnahmen von Leif Segerstam (Chandos/Brilliant, 1991, und Ondine, 2002) genauer verglichen.



    Dänisches Rundfunk-Sinfonieorchester
    Leif Segerstam
    1991



    Philharmonisches Orchester Helsinki
    Leif Segerstam
    2002


    Auch hier zunächst die reinen Spielzeiten:


    I. 10:41 (1991) — 10:39 (2002)
    II. 15:30 (1991) — 15:03 (2002)
    III. 6:28 (1991) — 6:23 (2002)
    IV. 14:24 (1991) — 14:13 (2002)
    Gesamtspielzeit 46:42 (1991) — 46:08 (2002)


    Die beiden Aufnahmen geben sich zeitlich nicht viel. Im Gegensatz zu Ormandy wurde Segerstam allerdings um circa eine halbe Minute schneller statt langsamer.


    Was gleich auffällt, ist die bessere Tontechnik bei Ondine. Das Philharmonische Orchester Helsinki punktet zudem mit einem doch noch besserem Orchesterspiel (stellenweise fühlte ich mich an die Wiener Philharmoniker erinnert). Herrlich, dieser satte und geschmeidige dunkel timbrierte Klang (der übrigens die ganze Gesamtaufnahme auszeichnet)! Absolut Weltklasse! Die von dir, Wolfgang, bei der Aufnahme mit dem Dänischen Rundfunk-Sinfonieorchester (zurecht) kritisierten nahezu unhörbaren Pauken sind hier ungleich präsenter. Die Blechbläser haben zudem in der neueren Aufnahme ein höheres Niveau, klingen "angriffslustiger" und spielen nicht so pauschal, sondern sehr differenziert und einzeln heraushörbar (genial in der grandiosen Steigerung in den letzten zwei Minuten). Die Gesamtatmosphäre hat hier etwas Nebulöses. Vermutlich die beste Zweite, die in den letzten Jahren aufgenommen wurde.

    »Und besser ist's: verdienen und nicht haben,

    Als zu besitzen unverdiente Gaben.«

    – Luís de Camões

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  • Eine Aufnahme für Pauken-Fetischisten: Effektvoller hat man sie selten gehört als hier. Der Pariser Paukist knallt sie einem regelrecht um die Ohren (man beachte das Finale, ab ca. 44:14). Und wie Järvi die letzten Takte hinauszögert – like Bernstein.


    Ich habe dieses Konzert (wohl sein Antrittskonzert als neuer Chefdirigent des Orchestre de Paris), das auch live in Arte übertragen wurde, bereits bei YouTube gesehen (leider in mäßiger Qualität) und nun endlich auch als hochwertigen mp3-Mitschnitt hier gefunden (6. v. u.).


    Eine tolle Aufnahme und ein fulminanter Auftakt von Paavo Järvi in Paris, wie man es von ihm gewohnt ist, in allerhöchster Qualität. :jubel:

    »Und besser ist's: verdienen und nicht haben,

    Als zu besitzen unverdiente Gaben.«

    – Luís de Camões

  • Ich wollte auch noch ein paar Worte zu der Sinfonie Nr.2 in der Roshdestwensky-GA loswerden:


    Diese Einspielung ist die erste Aufnahme aus der GA, von 1969. Sie hebt sich etwas im Klang, aber auch im Gesamtcharalter etwas von den anderen Aufnahmen ab.
    Ohne Frage - eine Spitzeninterpretation, die Roshdestwensky da vorlegt. Aber - gerade im letzten Satz klingt seine interpretetion doch sehr kontrolliert (ganz im Gegensatz zu Bernstein), anstatt hier auch die Explosivität zu zeigen, wie in den anderen Sinfonien.
    Die Sinfonie Nr.3 auf gleicher CD wie Nr.2 wirkt für mein Empfinden sogar noch als eine Steigerung, wenn man diese hintereinander hört. Warum ? Weil Roshdestwensky in der Sinfonie Nr.3 (Aufnahme 1973) wieder dieses hochexplosive Element freigibt. Das ist wie Josef und Wolfram schreiben: Eine GA für den BestBuy2011 !


    Diese Sinfonie Nr.2 läßt offenbar für viele Dirigenten ein Problem mit der Frage offen, ob man gerade im letzten Satz nochmal voll aufdrehen darf/sollte oder nicht. (Ich habe auch schon mehrfach gelesen "damit man nicht in Kitsch verfällt", was ich für totalen Blödsinn halte.)
    Bernstein (SONY und DG), sowie ebenfalls ganz ausgezeichnet bei Karajan (EMI, 1960) haben diese Probleme nicht - da geht es auch im letzten Satz absolut zur Sache ! Super !


    --------------------------------------


    Ich habe mit auch gerade das tolle P.Järvi-Konzert mit Sibelius 2 (und dem tollen Grieg-KK, von dem viel zu wenig geschrieben wird) runtergeladen.
    Bereits die ersten Takte der 2 klingen ungewohnt. Die Streicher verschwimmen mir zu sehr, statt das Motiv klar zu zeichnen. Aber das Konzert wird mir im Verlauf mehr und mehr sympathisch - besonders wenn ich die Pauken höre. Järvi sieht keine Probleme auch hier seinen Gefühlen freien lauf zu lassen. Auch der Schluss klingt für meine Vorstellung genau so stimmig wie fetzig.
    :hello: Klasse und Danke Josef für den Vorweihnachts-TIPP !

    Gruß aus Bonn, Wolfgang

  • Wir hatten am vergangenen Sonntag Gelegenheit, die Zweite in Köln mit dem Gürzenich-Orchester unter dem Norweger Eivind Aadland, zwischen 2004 und 2011 Chef des Trondheim Symfoniorkester, zu hören.


    Aadland arbeitete Aspekte der Zweiten stellenweise für mein Gefühl wie gemeißelt heraus, die nicht immer hörbar werden: Wildheit, Härte, zerklüftete Widersprüchlichkeit, schmerzhafte Zerrissenheit. Für mich ging das zum Teil an die Grenzen des Erträglichen, im ersten Satz beginnend, im zweiten und dritten Satz aber dann ihre vielfachen Höhepunkte erreichend.


    Die Melodienseligkeit des vierten Satzes wirkte dann wie ein Antidot, die große Tröstung, die den Schmerz forttrug und Linderung schuf. Nach der schmerzhaften Erfahrung des zweiten und dritten Satzes stellt sich dann die Frage, ob ein Zuviel an Trost gegeben wird, nicht ernsthaft - allerdings hat "Explosivität" im vierten Satz dann auch ganz sicher keinen Platz.


    Eine derartige Gestaltung des sinfonischen Aufbaus setzt m. E. die Annahme kongenial um, die Sinfonie stehe im Zusammenhang der verzweifelten Unabhängigkeitsbestrebungen Finnlands gegen die russische Fremdherrschaft.

  • Carl von Garaguly [1900–1984]? Wer ist das, werden sich einige jetzt fragen? Haben wir doch schon mal gehört. Vermutlich durch unser gleichnamiges Forenmitglied. ;)
    Aber hinter dem Namen steckt ein offenbar leider ziemlich ins Hintertreffen geratener ungarischer Dirigent, der sich insbesondere für das nordische Repertoire, vor allem Sibelius, einsetzte. Er war zwischen 1942 und 1953 Chefdirigent des Königlichen Philharmonischen Orchesters Stockholm, 1952 bis 1958 Chefdirigent des Philharmonischen Orchesters Bergen, leitete also zwei der renomiertesten Orchester Skandinaviens. Und auch in der DDR war er tätig, nahm dort in den 60er Jahren etliche Sibelius-Symphonien mit dem Gewandhausorchester Leipzig und der Dresdner Philharmonie auf. Um diese, konkret die Aufnahme der 2. Symphonie, soll es jetzt gehen.



    1964 entstanden für Eterna, wurde sie über dreißg Jahre später als CD neu aufgelegt.


    Garaguly gehört zu den flotteren Interpreten des Werkes, er kommt auf 43:22 Minuten, die sich wie folgt verteilen (in Klammern WPO/Bernstein 1986):


    I. 9:34 [10:55]
    II. 14:15 [18:11]
    III. 5:54 [6:24]
    IV. 13:41 [15:58]


    Die Tempi sind absolut angemessen und erscheinen niemals irgendwie übereilt oder gehetzt. Garaguly hat ein Gefühl für die nordosteuropäischen Klangwelten des Finnen Sibelius. Prachtvoll spielt das Gewandhausorchester, auf absolut höchstem Niveau, badet förmlich in einer Klangschönheit (ohne je glatt zu wirken), und zeigt, daß es neben der Staatskapelle Dresden das Vorzeige-Orchester der DDR war (und noch heute ist). Garagulys Leseart ist dramatisch und doch spätromantisch bombastisch. Absolut Spitzenklasse sind die Leipziger Pauken und Blechbläser, die sich an keiner Stelle irgendwie zurücknehmen müssen, aber auch die Streicher. Man sagt diesem Werk ja häufig einen südländischen Optimismus nach und grenzt sie von der kargen 1. Symphonie ab. Nun, bei Garaguly spürt man das Nordische auch hier sehr gut. Auch die Zweite hat Ecken und Kanten und ist kein Kitsch, was man ihr ja manchmal nachsagt. Man höre dazu nur den fabelhaft dargebotenen 2. Satz. Höhepunkt ist natürlich das Finale, das nahtlos aus dem spritzigen, stellenweise auch nachdenklichen Vivacissimo hervorgeht. Bissig agieren die Blechbläser in der Überleitung zum Finalsatz, der sich langsam, aber unaufhaltsam immer mehr in einem unnachahmlich gut komponierten Klimax steigert, um schließlich in eine der prächtigsten Finalcodas, die je geschrieben wurden, zu münden. Und was für eine Darbietung bei Garaguly mit dem Gewandhausorchester! Die Ausbrüche der Pauken sind schlichtweg sensationell und markerschütternd. So betont habe ich sie bei diesem Werk noch nie gehört, meine ich beinahe. Und dem nicht genug: Wenn die Blechbläser am Ende voll einsetzen, könnte man fast meinen, Garaguly habe sie verstärkt, so schmettern sie einem entgegen. Pathetischer und explosiver geht es kaum. Hat was von den "elf Aposteln" bei Bruckners Fünfter. Fazit: Eine der Must-Have-Aufnahmen.


    Die Tontechnik ist für das Alter sehr gut und braucht keine Vergleiche scheuen. Der Klang kommt mir natürlicher vor als bei den fast gleichzeitig entstandenen Sibelius-Aufnahmen Karajans bei der DG.

    »Und besser ist's: verdienen und nicht haben,

    Als zu besitzen unverdiente Gaben.«

    – Luís de Camões

  • - Wiener Philharmoniker/Bernstein 1986 [I. 10:56, II. 18:11, III. 6:25, IV. 15:58] – hyperemotionalste Interpretation aller Zeiten


    Lieber Joseph II. -


    das kann ich nun gar nicht begreifen. Hätte Sibelius geahnt, daß Berstein seine Partitur mal zwischen die Finger kriegt, er hätte alle Largamentes und Pesantes sofort getilgt. Nur der erste Satz ist überzeugend, in allen übrigen überzieht Bernstein in bewährtem Altersstil alle langsamen tempi derart, daß sich der Schlußsatz anhört wie Beethovens Pathetique, wenn ich sie im Zweifingersuchsystem vom Blatt spielen müßte.


    Zugegeben ist das eine Ersteinschätzung, die Nr. 1 kannte ich ja schon und fand sie heute genau so schrecklich wie immer. Unidiomatisch, effekthascherisch, rückwärtsblickend. Dabei sind die Holzbläser in Wien so großartig und überhaupt alles in Ansätzen so detailreich und lebendig und fröhlich. Wegen diesem Klang mag ich Szell nicht und hab mir auch die 60er EMI mit Karajan, PO 2./5. nicht gekauft, obgleich mir klar war, wie großartig hier die Bögen und die Architektur gelungen sind.


    :hello:

    Zerging in Dunst das heilge römsche Reich


    - uns bliebe gleich die heilge deutsche Kunst!

  • Lieber Farinelli,


    diese Bernstein-Aufnahme mit den Wienern (DG, 1986) ist wirklich höchst ausgefallen, aber insgesamt grosse Klasse.
    ;) Entweder man mag sie, oder man hasst sie !


    Mich würde deine Einschätzung zu Bernsteins Megaaufnahme mit den New Yorker PH (SONY, 1966) interessieren; wenn Du diese denn kennst ? Aber auch von allen Anderen !?!
    Hier bleibt Bernstein vom Tempo in einem absolut schlüssigen, angemessenem Rahmen:
    9:25 - 14:43 - 5:41 - 14:34.
    :thumbsup: Für mich ist das die absolute Favoritenaufnahme.
    Ich bin sicher, dass Du das anders sehen würdest, weil Bernstein hier keineswegs weniger aufdreht, aber da das Ganze im "richtigen" Tempo stattfindet, ist das für mich die Beste - der Wahnsinn !
    Was die Spannungsbögen angeht, so steht er der Karajan-Aufnahme (EMI, 1960) in nichts nach.
    Das ist für mich Gänsehaut pur !

    Gruß aus Bonn, Wolfgang

  • Lieber teleton,


    der 1. Zyklus bei CBS interessiert mich schon wegen der Hochschätzung der V. Im Wiener Zyklus sticht die V. auch heraus, und gerade die imposanten Durchbrüche im 1. und 3. Satz sind ja atemberaubend. Das "Largamente assai" in V,3 ist wunderbar breit, aber klingt doch ein wenig vereinfacht, insofern die "erweiterte Kadenz" in ihrem chromatischen Geschiebe hier auf die Konsonanzauflösungen hin vorangetrieben wird (auch die Dynamik des Bläserchorals ist nicht allzu detailliert). Man "kann" das so aus der Partitur herauslesen - die Orgelpunkte auf es, des usw., der zweimalige Anstieg in den unisono geführten Vl. und Br. es´- a - b - c´- cis´ - d´ - es´ usw. (Ende Part.Zf. R) und das anschließende (un pochettino stretto) über sieben Takte erstrahlende Es-Dur legen das nahe. Es rückt den Satzschluß damit in die Nähe zu konventionellen sinfonischen Schlüssen, die triumphal kadenzieren (und alle durchlaufenen Dissonanzen klingen sozusagen in Lisztscher Bravour wie retardierende Episoden).


    Generell gefällt mir der parallel erworbene Halbzyklus von Berglund/ Helsinki (V., VI., VII.) wegen des herben nordischen Tonfalls , den Bernstein irgendwie nie trifft. Den Schluß V.,3 faßt er nicht unähnlich Bernstein auf, dirigiert allerdings etwas straffer. Die Klimax in V.,1 klingt allerdings bei Bernstein so, wie ich mir die Stelle immer vorgestellt habe. Auf der Doppel-CD heißt es zu Recht:


    His climaxes become orgasmic.


    Was will man mehr?


    :hello:

    Zerging in Dunst das heilge römsche Reich


    - uns bliebe gleich die heilge deutsche Kunst!

  • Nach dem wunderbaren Beethoven-Vergleichshören der letzten Zeit hatte ich jetzt "die Schnauze voll" und habe mir mal wieder was ganz anderes aufgelegt: Tubin-Sinfonie Nr.2 und 5.


    Hallo Josef,


    dabei habe ich entdeckt, dass der recht unbekannte Dirigent Carl von Garaguly, den Du in Beitrag 25 als weitere gute Aufnahme der Sibelius 2 vorgestellt hast, der Uraufführungsdirigent von Tubins Fünfter im Jahre 1947 mit dem Stockholm PO ist !


    Bei mir ist aber jetzt "Schluss mit Lustig". Ich hatte meinen absoluten Favoriten für die Sibelius Sinfonie Nr.2 mit Bernstein/New Yorker PH (SONY, 1966) bereits seit mindestens 10Jahren. Alle guten Empfehlungen und die zahlreichen Sibelius-Käufe der letzten Jahre konnten in keinster Weise daran kratzen.
    Ich glaube Dir ungehört gerne, dass Garaguly auch hier die Sinfonie Nr.2 in einer sehr guten Aufnahme vorlegt ... aber kaufen werde ich die nicht. ;) Nach Bernstein halte ich das einfach nicht mehr für nötig ...


    Den "herben nordischen Tonfall", den Farinelli für Berglund ins Feld führt, sehe ich auch bei Bernstein nicht unterbelichtet oder einen Punkt, auf den man bei Bernstein total verzichten müsste.


    Auf seine Frage: "Was will man mehr ?" Antworte ich auch: Nichts weiter ...

    Gruß aus Bonn, Wolfgang

  • Den "herben nordischen Tonfall"


    Lieber teleton,


    gestern beim Joggen in der herrlichen Wintersonne ging mir eine Formulierung durch den Kopf, die ich für angebracht halte:


    Sibelius bedarf zu angemessener Wiedergabe einer gewissen "Keuschheit des Tons".


    Da es sich um eine Metapher handelt, ein paar Ausführungen dazu. Jeder würde wohl kaum bestreiten, daß es für Chopin und Debussy einer jeweils völlig anderen Technik und Anschlagskultur sowie Ausdrucksästhetik bedarf. Nehmen wir den Beginn des 4. Scherzos in E-Dur, gegen den Beginn des Kopfsatzes der Suite Bergamasque. Beide beginnen gewissermaßen fanfarenartig, mit einer Art von Signalmelodie, mündend in einen spannungsgeladenen Akkord. Dann geht es bei Chopin tänzelnd, im jeu perlé weiter, während Debussy melodisch und rhythmisch an die Clavecinmusik des 17. und 18. Jh. anknüpft, was auch im Anschlag hörbar sein muß. Verglichen mit der Delicatesse, die Chopin hier einfordert, muß Debussy ein ganzes Stück weniger subjektiv gespielt werden, gleichmäßiger, floskelhafter, archaischer, schlichter.


    Ich will das Beispiel nicht überstrapazieren. Ich komme nun zu Sibelius, nämlich auf den Beginn der 7. Sinfonie. Nach der Introduktion entwickelt sich alsbald etwas wie ein Streicherchoral. Bei Bernstein mit den Wienern fällt der geradezu klanggesättigt aus, getragen, mit großem Baßfundament, viel Vibrato und Rubato (an den entscheidenden, kadenzierenden Stellen).


    Wolfram hat einmal sehr gut formuliert, daß Bernstein alles übertreibt, indem er die ausdrucksbezogenen Passagen durch ein zuviel an Emotion gestisch verdoppelt, statt sie aus der Musik selbst hervorgehen zu lassen. Wir empfinden seine Interpretation als "subjektiv", aber was heißt das? Der Streicherchoral zu Beginn der 7. klingt bei Bernstein, als sei es Musik vom Charakter des Adagios aus Mahlers IX., oder des zweiten Teils von Schönbergs "Verklärter Nacht". Weihevoll brucknernd.


    Bei Berglund (Helsinki) fällt dreierlei zugleich auf: Das Tempo ist straffer, es gibt durchaus viel weniger Vibrato, und der Klang ist nach oben aufgelichtet, d.h. der Baß trägt hier weniger. Der Klang ist also leichter, ätherischer, duftiger, was auch an den Übergängen hörbar wird, die hier keine Preßanstrengungen wie bei einer geistigen Geburt erfordern. Der Klang im ganzen ist also weniger spätromantisch dick, sondern, wenn ich ein anderes Klischee dagegensetzen darf, britisch-pastoral (Vaughan-Williams, Fantasia on a Theme by Thomas Tallis). Statt expektoralem Ringen ein tendenziell unorganischeres Fortschreiten, flächiger, Licht und Schatten wie von Wolken über einer freien Landschaft.


    Wahrscheinlich stört dich eben Bernsteins pathetische 19.-Jh.-Auffassung von Sibelius´ Musik einfach nicht. Für mich ebnet sie aber den großen Unterschied, der zwischen Sibelius und, sagen wir: der Tradition Bruckner/Mahler besteht, zu sehr ein. Bei Bernstein fiebert förmlich alles den großen effektvollen Wirkungen der sinfonischen Tradition entgegen. Dadurch klingt es immer auch ein wenig nach zweitklassiger Musik (ich übertreibe das alles, um meine Auffassung zu verdeutlichen). Denn die Spätromantik ist bei anderen Komponisten besser vertreten als bei Sibelius, der sich ja in Wahrheit sehr konsequent von der konventionellen Ästhetik der Jahrhundertschwelle abwendet. Man kann, natürlich, aus dem Beginn der 7. (oder aus Elgars Nimrod-Variation) eine letzte Eindringlichkeit herausbuchstabieren. Man kann das aber eben auch einfach schwülstig finden.


    :hello:

    Zerging in Dunst das heilge römsche Reich


    - uns bliebe gleich die heilge deutsche Kunst!

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