Ein ganz großer Wurf? - Beethovens Sinfonien unter Riccardo Chailly

  • Viele Titel haben sich für diesen kürzlich erschienenen Beethoven Zyklus mit dem Leipziger Gewandhaus-Orchester unter Riccardo Chailly angeboten, aber die meisten waren schon vergeben:
    "Beethoven Sensation aus Leipzig" oder "Riccardo Chaillys großer Coup" - gleich zwei Schlagzeilen auf der Titelseite des neuen Fonoforum (Dezember 2011) - Auch der "ganz große Wurf" ist eigentlich von dort entlehnt - von mir jedoch zusätzlich mit einem Fragezeichen versehen, da die Aufnahmen hier im Tamino-Klassikforum ja bisher eher unterschiedlich bewertet wurden.
    Aber das war ja bei Beethoven Zyklen - von Karajans Berliner Einspielung von 1960/62 mal abgesehen - meistens so.

    Fonoforum widmet Chailly immerhin ein Titelbild, einen Artikel mit Interview - und eine (zu???) euphorische Kritik.
    "Ahnlich berauschender Zyklus" wie jener von Jaarvi. Masurs Einspielung wird als vergleichsweise "bieder und altbacken" wirkend bezeichnet.
    Das ist Chailliy ANeuafnahme natürlich nicht - auch wenn er nicht die neue Urtext-Ausgabe verwendet.
    Natürlich daft der Hinweis auf die Entschlackung und Frischzellenkur - seit nahezu 20 Jahren ein "Running Gag" aller Musikkritiker, die neue Beethoven Einspielungen rezensieren - nicht fehlen. Die weiteren Detail kann man im Fonoforum nachlesen - oder sich selbst ein Bild machen (dortige Bewertung: viereindhalb von 5 Sternen)


    Da schon in diversen anderen Threads über diese Aufnahme geschrieben wurde - und zwar sehr unterschiedlich - kann ich mir vorstellen, daß dieser Thread sich - langsam aber sicher - zu einem Dauerbrenner entwickeln wird - insbesondere in Konkurrenz zum neue Beethoven-Zyklus der Wiener Philharmoniker unter unter Thielemann, der ebenfalls in den nächsten Stunden bis Tagen seinen eigenen Thread bekommen wird.


    Fast interessanter als die Rezension, die beinahe an eine PR Schaltung erinnert, vermutlich aber doch von Herzenkommt - ist das Interview, wo Chailly über die Schwierigkeiten von Beethoven für den Dirigenten, und zahlreiche Detailprobleme spricht, wie beispielsweise die Wahl des verwendeten Notenmaterials...


    mit freundlichen Grüßen aus Wien


    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Ein ganz großer Wurf? auf den Zyklus insgesamt gemeint oder auf einzelne Sinfonien. Hierzu haben Wille und einige andere schon ausführlich berichtet. Den fast euphorischen Bericht in fono forum habe ich auch gelesen, das Gespräch kann man ebenfalls aus dem Internet runterladen. Die PR über diesen Ring ist gewaltig und er soll insgesamt auch besser sein als die Aufnahmen mit dem Gewandhaus unter Konwitschny und Masur. Ich hatte ursprünglich vor, nur einzelne Sinfonien zu erwerben, habe mich aber dann doch für die GA entschieden. Ob es der große Coup ist oder wird, bleibt abzuwarten. Nach der Lektüre von 12 Rezensionen bei unserem Werbepartner am ist natürlich kaufen angesagt. Die Sinfonien 1 und 8 würde auch ich sowohl interpretatorisch wie klanglich als hervorragend gelungen einstufen.



    LG, Bernward


    "Nicht weinen, dass es vorüber ist
    sondern lächeln, dass es gewesen ist"


    Waldemar Kmentt (1929-2015)


  • Alfred hat in seiner Aufzählung der Superlative leider die Wichtigsten vergessen - jedenfalls meiner Meinung nach.


    Jedes Jahr veröffentlicht FonoForum eine Umfrage unter den Mitarbeitern der Zeitschrift. Unter Rubriken wie "Platte des Jahres", "Historische Aufnahme des Jahres", "Edition des Jahres", "Künstler des Jahres", "Nachwuchskünstler des Jahres" usw. usw. schreiben einige Kritiker das auf, was ihrer Meinung nach am besten zutrifft.


    Im Jahre 2011 wurde unter der Rubrik "Platte des Jahres" zweimal (von acht Klassik-Kritikern" der neue Beethoven-Zyklus von Chailly genannt. Dazu einmal in der Rubrik "Edition des Jahres", und zwar nicht von den beiden vorgenannten Kritikern.


    Chailly wurde auch zweimal als Künstler des Jahres genannt.


    Aber das war ja bei Beethoven Zyklen - von Karajans Berliner Einspielung von 1960/62 mal abgesehen - meistens so.


    Ich bin jetzt zu müde, die Gegenbeispiele herauszusuchen - zum einen wegen der Uhrzeit, und zum anderen, weil sich Alfred bei solchen Gelegenheiten ohnehin gerne die Welt so zurechtlügt, wie er sie gerne sehen würde. Jawohl. Das Hintertürchen "meistens" wird dabei nicht vergessen, wohlwissend, dass es die beabsichtigte Wirkung kaum mindert.


    Allerdings darf man den Lügnern nicht die Welt überlassen. Ich erinnere mich, dass bei den Beethoven-Zyklen von Dohnanyi, Barenboim, Sawallisch, Zinman (jawohl!), Abbado (2x), Hugh Wolff, Rattle und Pletnev die Meinung sehr geteilt waren. Brüggen, Immerseel, Antonini und Herreweghe wurden auch gerne als "zu spät Gekommene" charakterisiert. - Von unbekannteren Namen wie Skrowaczewski oder Gustav Kuhn mal ganz zu schweigen. Dass die Zyklen von Harnoncourt, Gardiner, Norrington, Hogwood und Järvi erfolgreicher waren - na, vielleicht hat es seine Gründe ja in der Sache. Alfreds persönlicher Weltsicht zum Widerspruch.


    Im Übrigen gibt es Werke, die eine höchst erfolgreiche Aufnahmegeschichte haben. Falstaff (Verdi, nicht Salieri) wäre so eins. Auch Mahlers 9. ist so ein Werk. Schwierig, eine schlechte Aufnahme zu finden. Sollte es bei Beethoven auch ... oder fällt das unter "Denkverbot"?

  • "Ein ganz großer Wurf?" – meint zumindest David Hurwitz bei Classics Today:


    Ich sehe das bedeutend nüchterner. Habe nicht alle Symphonien ganz gehört, aber zum TOP-Favoriten reicht das nicht. Besser als Thielemann finde ich es aber trotzdem.


    Ziemlich gut gelungen die "Eroica", aber da ist von den neueren Aufnahmen der letzten Jahre Dausgaard, P. Järvi, Gardiner (Film "Eroica") doch noch vorzuziehen.


    Gediegen gelingen Nr. 4 und 5, ohne aber an Spitzeninterpretationen wie von Wand heranzukommen. Mir wichtige Details werden überspielt.


    Nicht überzeugt hat mich die Neunte. Sängerisch auch allenfalls gutes Mittelmaß.


    Klingt mir insgesamt zu routiniert, dieser Zyklus. Routine auf hohem und tlw. höchstem Niveau eben.


    Fazit: Besser als Thielemann, aber schwächer als Dausgaard und Järvi.


    Künstlerische Qualität: 7/10
    Tonqualität: 8/10

    »Und besser ist's: verdienen und nicht haben,

    Als zu besitzen unverdiente Gaben.«

    – Luís de Camões

  • Habe nicht alle Symphonien ganz gehört, aber zum TOP-Favoriten reicht das nicht. Besser als Thielemann finde ich es aber trotzdem.

    Das bedeutet dann aber auch 1 : 0 oder 9 : 0 für Leipzig gegen Wien. Traurig ?


    LG, Bernward


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    Waldemar Kmentt (1929-2015)


  • Das bedeutet dann aber auch 1 : 0 oder 9 : 0 für Leipzig gegen Wien. Traurig ?


    LG, Bernward


    Ich habe meine persönlichen Lieblingssymphonien Nr. 3, 4, 5, 9 genauer angehört, den Rest nur "gestreift" (einzelne Sätze).
    Mir fiele keine ein, wo Thielemann besser abschneiden würde als Chailly. Aber mir fiele jedes Mal mindestens eine andere Aufnahme ein, die mir besser gefiel als Chailly.
    "Ein ganz großer Wurf" muß mich aber in 9/9 (oder zumindest 8/9, da die Neunte ein Sonderfall ist) absolut überzeugen.


    LG
    :hello:

    »Und besser ist's: verdienen und nicht haben,

    Als zu besitzen unverdiente Gaben.«

    – Luís de Camões

  • Aber mir fiele jedes Mal mindestens eine andere Aufnahme ein, die mir besser gefiel als Chailly.

    Das ist sehr interessant und ich würde für später einmal vorschlagen, eine Umfrage zu starten, welche Beethoven-Sinfonie von 1 - 9 (vielleicht je 3) am besten gefällt mit welchem Orchester und welchem Dirigenten (das könnten sowohl Sinfonien aus Zyklen als auch aus Einzelaufnahmen sein). Vielleicht gäbe es einige Überraschungen.


    LG, Bernward


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    Waldemar Kmentt (1929-2015)


  • Ich ärgere mich manchmal über solche Bemerkungen

    Zitat

    Allerdings darf man den Lügnern nicht die Welt überlassen.


    Und zwar deshalb, weil Wolfram genau weiß WARUM ich manche Sätze ins Netz stelle, wie ich Das Salz des Interesses
    streue. Er hat ja auch prompt reagiert und ACHT Zyklen ins Spiel gebracht - die nun von kritischen Taminos - aber auch Mitlesern genauer unter die Lupe genommen werden.


    Aber natürlich kommt in meinen Beiträgen meine Persönliche Weltsicht zum Tragen - das ist unvermeidlich.Leider erlaubt mir die Position des Forenbetreibers indes nicht - oder nur selten - auf Angriffe meiner Person mit jener schneidenden Härte zu reagieren, die ich privat sehr wohl einsetze - was mir im Forum - und noch schlimmer - im mitlesenden Internet als Schwäche ausgelegt wird....


    Kommen wir zurück zurm eigentlichen Thema: Chailly war nie mein Lieblingsdirigent, und somit ist sein Zyklus für mich auch nicht erste Wahl bei Neuanschaffungen, aber seine Aufnahme ist mit Sicherheit diskutierenswert, und deshalb habe ich ihr einen eigenen Thread spendiert. Sie liegt im Spannungsfeld zwischen Paarvi und Thielemann und wird vermutlich ihre Käufer finden........
    Ihre Stärken und Schwächen werden vermutlich hier in den nächsten Wochen beschrieben werden....


    Derzeit habe ich mir den Konwitschny -Zyklus - er hat mich noch VOR Karajan geprägt - und die 4. und 5. unter Dausgaard bestellte (letzerer ist nicht nur in Wien nicht lagernd, auch jpc muß ihn extra für mich bestellen .................................


    mit freundlichen Grüßen aus Wien


    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Beethovens Sinfonien unter Chailly ist eine Aufnahme mehr, sonst nichts. Solide Arbeit ohne neue Erkenntnisse. Mehr höre ich nicht. Wolfram hat etliche Einspielungen aus letzter Zeit aufgeführt, an die ich mich schon nicht mehr richtig erinnere. Ich weiß nur noch, dass sich die Kritiker in einigen Fällen auch überschlagen haben. Kritiker schreiben heute (fast) alles. Die nehme ich nur noch in Aufnahmefällen ernst. In anderem Zusammengang hatte ich neulich bemerkt, dass sich in einer der Zeitschriften, die hier gern in den Zeugenstand gerufen werden, kürzlich 32 Mal der Name eines sehr tüchtigen und umtriebigen Dirigenten, der viel von PR versteht, fand.


    Rheingold

    Es grüßt Rüdiger als Rheingold1876


    "Was mir vorschwebte, waren Schallplatten, an deren hohem Standard öffentliche Aufführungen und zukünftige Künstler gemessen würden." Walter Legge (1906-1979), britischer Musikproduzent

  • Nachdem ich mich ausführlich mit diesem Zyklus beschäftigt habe, muss ich sagen, mir gefällt er (teilweise) sehr gut, vor allem, was die Klangqualität, die hohe Spielkultur des Gewandhausorchesters und die Fähigkeit des Orchesters, die Originalmetronomzahlen Beethovens zu verwirklichen, betrifft. Ich ahbe aber auch bemängelt, dass Chailly m.E. einige langsame Sätze zu schnell spielen lässt, z.B. die langsamen Sätze in der zweiten, dritten und vierten Sinfonie. Dafür weichen dien jeweils anderen drei Sätze dieser Sinfonien kaum vom Durchschnitt ab, will damit sagen, dass in einem erheblichen Teil mmeienr Sammlung die Dirigenten (auch mit größeren Orchestern) den Beethovenschen metronomangabens sehr nahe kommen und einige dabei sind, die Chailly im Durchschnitt noch übertreffen. Im Moment beschäftige ich mit dem Zyklus eines Vorgängers im Amt Chaillys, Franz Konwitschny :)

    1. "Das Notwendigste, das Härteste und die Hauptsache in der Musik ist das Tempo". (Wolfgang Amadeus Mozart).
    2. "Es gibt nur ein Tempo, und das ist das richtige". (Wilhelm Furtwängler).

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  • Im Moment beschäftige ich mit dem Zyklus eines Vorgängers im Amt Chaillys, Franz Konwitschny :)


    Und der ist meiner bescheidenen Meinung nach auch besser. ;)

    »Und besser ist's: verdienen und nicht haben,

    Als zu besitzen unverdiente Gaben.«

    – Luís de Camões

  • Leider konnte ich gestern mein Posting nicht abschließen, weil sich wohl irgendeine Anschlagsverzögerung aktiviert hatte. Ich hatte, lieber Joseph, die ersten drei Sinfonien unter Konwitschny ja bereits in den entsprechenden Threads besprochen, und ich kann an dieser Stelle sagen, dass zwar beide Male das gleiche Orchester zu hören ist, aber doch beide Interpretationen aus verschiedenen interpretatorischen Welten stammen, und ich wage nicht zu behaupten, welche der beiden Welten nun besser ist. Für so kompetent halte ich mich nicht, auch nicht zu sagen, dass dieser oder jener Zyklus nur durchschnittlich sei und damit überflüssig.
    Allerdings möchte ich an dieser Stelle sagen, dass ich den Zyklus von Chailly nicht für durchschnittlich und überflüssig halte. Die Gründe dafür habe ich in den verschiedenen Postings in den jeweiligen Threads zur jeweiligen Sinfonie genannt.
    Also: nicht Konwitschny besser als Chailly, sondern anders, und beide gut! Jedenfalls für die bisher vergleichbaren Sinfonien eins bis drei.


    Liebe Grü´ße


    Willi :)

    1. "Das Notwendigste, das Härteste und die Hauptsache in der Musik ist das Tempo". (Wolfgang Amadeus Mozart).
    2. "Es gibt nur ein Tempo, und das ist das richtige". (Wilhelm Furtwängler).

  • Also: nicht Konwitschny besser als Chailly, sondern anders, und beide gut! Jedenfalls für die bisher vergleichbaren Sinfonien eins bis drei.

    Lieber Willi,


    ...sondern anders und beide gut gilt aber für viele Aufnahmen. Da Du dich in letzter Zeit so intensiv mit den Sinfonien befasst hast, interessierte es mich dennoch, welche von 1 - 3 denn für Dich die empfehlenswertesten wären. Gute Frage und schwere Antwort. Gell.


    LG, Bernward


    "Nicht weinen, dass es vorüber ist
    sondern lächeln, dass es gewesen ist"


    Waldemar Kmentt (1929-2015)


  • Lieber Bernward,


    wie du ja schon gelesen haben magst, werde ich zuerst den Konwitschny-Zyklus weiter hören und besprechen, dann die Zyklen von Celibidache, Goodman und Solti. Wenn ich dann noch beurteilen sollte, welcher Dirigent die ersten drei Symphonien am besten interpretiert hat, dann müsste ich mich ja aus dem normalen Tamino-Klassikforum ausgliedern und ein Beethoven-Forum gründen. Stoff dafür gäbe es ja genügend, aber das wäre mir doch etwas zu einseitig, obwohl Beethoven (nebst Mozart, Schubert, Bruckner und Mahler) mein favorisierter Komponist ist.


    Also, wenn ich überhaupt in irgendeiner Form dazu Stellung nehmen sollte, dann sicherlich später.


    Liebe Grüße


    Willi ^^

    1. "Das Notwendigste, das Härteste und die Hauptsache in der Musik ist das Tempo". (Wolfgang Amadeus Mozart).
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  • Unbestätigten Gerüchten zufolge könnten bei mir Beethoven-Sinfonien mit Riccardo Chailly unterm Weihnachtsbaum liegen, zusammen mit der Sinfonien-Edition mit Leonard Bernstein, die dessen Beethoven-GA aus New York enthält. Dann werde ich den Überblick zur 1. Sinfonie um diese beide komplettieren und vermutlich einen ebenso umfassenden Vergleich zur 6. Sinfonie starten. Alle Neune wäre ein Projekt über zwei Jahre ... mindestens ...

  • Auch ich will meinen Beitrag dazu gern leisten. Beschäftige mich zurzeit mit den Beethoven-Sinfonien unter Abbado, 2 Zyklen kurz hintereinander mit den Berlinern (letztere habe ich auf DVD) und den Zyklus mit den Wienern (Hochpreis). Schaun' wir doch mal, ob Berlin oder Wien die Nase vorn hat. Positive Kritiken gibt es genug, allerdings mehr über Abbados zweiten Zyklus, als über seinen ersten mit den Berlinern.


    LG,


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    Waldemar Kmentt (1929-2015)


  • Der Vollständigkeit und Gerechtigkeit wegen noch das allfällige Zitat aus FonoForum 12/2011:


    Bislang galt die Einspielung der neun Beethoven-Sinfonien mit der Deutschen Kammerphilharmonie unter Paavo Järvi als das Maß aller Dinge im noch jungen neuen Jahrhundert. Dass nun mit dem Gewandhausorchester unter Riccardo Chailly ein ähnlich berauschender Zyklus hinzugekommen ist, schmälert nicht im Nachhinein die Qualität der Bremer, sondern zeigt, wie glücklich sich jeder Hörer schätzen kann, wenn es Alternativen auf Augenhöhe gibt. Bereits wie Chailly das Menuett der Ersten aus einer Gattungs-Grenzzone klar in Richtung Scherzo bewegt und wie er im anschließenden "Allegro molto e vivace" die Holzbläser herausarbeitet, zeugt von der Qualität dieser zwischen 2007 und 2009 entstandenen Produktionen. Dagegen klingen Abschnitte wie der zweite Satz der Siebten oder der Trauermarsch der "Eroica" hier erschütternd fahl, beinahe gespenstisch. Gleichzeitig verraten diese Einspielungen viel über den Humor und, in andere Richtung, das Revoluzzertum des Komponisten.

  • Also ich muss mich nach Monaten der Abwesenheit wieder mal zu Wort melden...denn ich habe 4 dieser Sinfonien in Leipzig live im Gewandhaus erlebt...Mit Chailly....und ich hab den vergleich mit Thielemann...denn ich hab auch von ihm in Berlin fast die selben Sinfonien gehört.
    Und ich komme...nach einem LIVE-Vergleich, zu folgendem Urteil: (natürlich nur wo ich beide Vergleiche habe)


    6. Sinfonie: Hier gewinnt Thielemann...mit Abstand.


    Chailly ist im 1. Satz SOOOO schnell zur Sache gegangen das es fast zum heulen war...der erste Satz war nach Knapp 8 Minuten zuende...grauenhaft...auch wenn der Rest ziemlich gut und getragen war (4. Satz aber mit WUMM)...Der 1. Satz hat viel kaputt gemacht.


    5. Sinfonie: Unentschieden


    Thielemann hat im ersten Satz deutlich was verschenkt...war aber im 2. und 3. Satz grandios...Sein Übergang vom 3. zum 4. Satz war überwältigend...Gänsehaut pur...das hat Chailly vermasselt...der wollte schnell ans Ende.
    Sein 1. Satz war aber rasant.


    4. Sinfonie: Auch unentschieden...Chailly hatte mehr Pfiff...Thielemann mehr Pathos.



    Am Ende steht es unentschieden. Thielemann mit genialer 6. Sinfonie...bei ihm waren der 1., 2. und 3. Satz einfach unglaublich. Herrlich liebevoll...Thielemann hat viel Sinn für Details und Gefühl.


    Chailly hat mich mit Tempo beeindruckt.


    ABER: Meine Lieblingsaufnahme der 6. Sinfonie mit MASUR konnte keiner übertreffen...DIE ist genial.

  • Der Kopfsatz der "Pastorale" wird noch heute oft viel zu langsam gespielt, geht man von Beethovens eigener Metromisierung (M.M. Halbe = 66) aus. 8 Minuten scheint mir aber selbst bei Einhaltung der Metronomzahl schnell.

    »Und besser ist's: verdienen und nicht haben,

    Als zu besitzen unverdiente Gaben.«

    – Luís de Camões

  • ...wie man auch immer auf acht Minuten kommen mag...


    Mit 10'17'' laut Beiheft ist Chailly zwar ausgesprochen sportlich unterwegs, aber nicht der Schnellste. "Rekordverdächtig" dürften die 10'01'' von Michael Gielen sein.

    Grüße aus der Nähe von Hamburg


    Norbert


    Das Beste in der Musik steht nicht in den Noten.

    Gustav Mahler


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  • Ich halte nicht viel von strickter Befolgung von Tempoangaben...so etwas sollte der Dirigent entscheiden...


    Außerdem kommt es darauf an mit der Musik Klanggebäude zu erschaffen oder Bilder zu malen und Stimmungen zu erzeugen...und das Hat Chailly nicht geschafft...mit seinem rasanten Tempo...

  • Ich persönlich mag es auch lieber langsam, aber man kann einem Dirigenten, der versucht, den Vorgaben des Komponisten gerecht zu werden, halt schwerlich Vorwürfe machen. Wir wissen doch, wie empfindlich Beethoven auf Abänderung seines Willens reagierte. Zumindest glaub ich fast, daß er sich mit Chailly eher anfreunden könnte als etwa mit Thielemann.

    »Und besser ist's: verdienen und nicht haben,

    Als zu besitzen unverdiente Gaben.«

    – Luís de Camões

  • Außerdem kommt es darauf an mit der Musik Klanggebäude zu erschaffen oder Bilder zu malen und Stimmungen zu erzeugen...


    Oh! Das wäre ein Blickwinkel des späteren 19. Jhds., der dem rhetorischen Ansatz älterer Musik sicher nicht gerecht wird.


    Meinetwegen mag man sagen, dass Beethoven Anteile von beidem in seiner Musik habe, aber ihn auf die Konstruktion von "Klanggebäuden" oder auf das "Malen von Bildern" oder auf das "Erzeugen von Stimmungen" zu reduzieren, geht m. E. aber auch nicht an ...


    ... man würde ja auch nicht sagen, dass man sich die "Antigone" ansieht, um sich in eine "Stimmung" versetzen zu lassen.


    :hello:

  • Auch bei Beethoven kann man malen und in Klangfarben eintuachen.


    Gerade die pastorale eigenet sich da wunderbar...


    Stichwort Lorin Maazel und die WIener im Februar 2010 in Berlin ;-)


    wie auch immer...Für mich ist Musik des Komponisten immer nur Notenpapier mit zeichen drauf...Musik macht der Dirigent mit dem Orchester daraus...da ist es meiner Meinung nach nicht wichitg was Beethoven vor 200 Jahren mal gemeint hat...

  • Für mich ist Musik des Komponisten immer nur Notenpapier mit zeichen drauf...Musik macht der Dirigent mit dem Orchester daraus...da ist es meiner Meinung nach nicht wichitg was Beethoven vor 200 Jahren mal gemeint hat...


    Hallo Jonas,


    das ist völlig in Ordnung!


    Wie weit diese Argumentation aber die Türen für alles Mögliche öffnet, wird klar, wenn man bedenkt, dass James Last und Richard Clayderman usw. ähnlich argumentiert haben ...


    Mir ist jedenfalls durchaus wichtig, was Beethoven vor 200 Jahren mal gemeint hat. Jedenfalls wichtiger als das, was irgendein Dirigent heute daraus zu machen müssen glaubt. Dirigenten gab und gibt es viele - Beethoven hab es nur einmal.


    :hello:

  • mag sein...aber heute stehen andere Am Pult, und die sollten sowas entscheiden.


    Ob man James Last und Richard Clayderman nur mag oder nicht sei dahin gestellt sein (ich finde sie zumindest Ok)


    Aber Ich konnte das Tempo von Chailly nicht nachvollziehen...ich bevorzuge Masur oder Thielemann...Oder Maazel (den späten Maazel)


    Denn ich fühle mich mit einem langsameren Satz wohler und...mehr angekommen in der Natur...als bei Chailly mit seinen Tempi...
    ich erlebe Musik mit viel Gefühl...bei mir ist das eine Gefühlssache...und ich fühle bei einer langsamen Pastorale nunmal mehr...


    UND...das mag kurios sein:


    Wenn die Pastorale schön langsam daherkommt, fühle ich mich Beethoven näher, als mit den von beethoven selbst bestimmten schnellen Tempi

  • Beim Erscheinen des Chailly - Beethoven - Sinfonien - Zyklusses konnte ich mich 2011 nur schwer entscheiden 50-60Euro dafür auszugeben - angesichts meiner zahlreichen GA mit denen ich zufrieden bin.


    Da Chailly aber auch zu den flotten Einspielungen, mit der "beethovennahen" Metronimisierung gehört, habe ich íhn mir jetzt 2014 (für 21Euro) doch gegönnt.
    :thumbup: Hervorheben möchte ich zuerst einmal die in der Chailly-GA (Decca) ganz ausgezeichnet gespielten 8Ouvertüren (die Wichtigsten alle dabei).


    Ich bin auch dabei mir die bisherigen Meinungen in den einzelnen Sinfonien-Threads zu verifizieren - sehr interessant und aufschlussreich.


    Natürlich bin ich noch lange nicht mit allen Sinfonien durch und lasse mir dafür Zeit ( :D wenn es derzeit mal regenet !).
    Mein Start mit der Sinfonie Nr.1 empfand ich als recht nüchtern. Welche Klasse und Spielwitz entwickelt sich doch bei Bernstein (DG und SONY), Solti (Decca, DDD), Leibowitz (Chesky) und P.Järvi (SONY, DVD 2010). Bei Chailly empfand ich das bei aller fabelhaft durchhörbaren Detailtereue als sehr routiniert, wenn auch die Blechbläser sehr gut eingebunden sind; die Pauken leider zu schwach. Das Tempogefühl von Chailly liegt mir.


    Die Sinfonie Nr.7 hatte Klasse und Pepp bei sehr gelungenen Tempi. Kein Detail geht unter; Top-Klangtechnik (wenn auch manchmal etwas dick (aber nicht über KH). Aber die Konkurrenz ist gross und da punkten bei mir selbst die 3 DG-Karajan-Aufnahmen höher; die EMI-Aufnahme mit den Wiener PH (Decca, 1960) sowieso ! Von P.Järvi ganz zu schweigen ...


    :thumbsup: Absolut begeistert bin ich von Chailly´s Sichtweise der Sinfonie Nr.8: Erst einmal das wahnsinnig vorwärsschreitende Tempo mit einem feurigen Brikett Dramatik und Power, dass manche andere Aufnahme dagegen langweilig wirken dürfte, hat mir wahnsinnig gefallen. Hier würde ich wiederum Karajan (DG, alle 3) total abgeschlagen und als viel zu konservativ brav beurteilen !
    Hier hat man bei der geboteten Dramatik das Gefühl, dass hier ein wirklicher Vorläufer zur Sinfonie Nr.9 vorliegt. Die hohe Spielkultur des Gewandhausorchesters lassen die Musiker hier richtig zur Geltung kommen. Wenn die Pauken so pointiert wie bei P.Järvi klingen würden, wäre es meine absolute Favoritenaufnahme. So muss ich Paavo neben Solti einen geringen Vorzug geben.



    Im Moment bin ich auf dem Stand, das sich der Kauf der Chailly GA alleine wegen der Sinfonie Nr.8 und den Ouvertüren schon gelohnt hat.
    Ich werde über meine Hörerfahrungen mit Chailly weiter berichten.
    Die Decca-Klangtechnik ist sehr gut und bietet neben kammermusikalischer Durchhörbarkeit auch bei Bedarf ein grosses flexibles sinfonisches Gewandhausorchester - macht jedenfalls bisher viel Spass Beethoven unter Chailly zu hören.

    Gruß aus Bonn, Wolfgang

  • Mit Hochspannung habe ich nun auch die restlichen Beethoven-Sinfonien mit Chailly genossen - und Hochspannung ist das bezeichnende, was Chailly bietet.
    Bezeichnend ist, das er duchweg die 2. langsamen Sätze der Sinfonen auffallend schnell nimmt. Das ist einerseits ungewohnt, aber ich kann damit sehr gut leben, weil das genial kurzweilig wirkt. Sein flottes Tempogefühl kommt mir in seiner GA total entgegen.


    Kurz meine weiteren Eindrücke:
    Sinfonie Nr.9: Spannend und gross empfunden. Die Pauken sind der Hammer und das nicht nur im 2.Satz. Seltsam, dass die Pauken in verschiedenen GA bei den 9 Sinfonien immer so ungleich präsent aufgenommen sind - das gilt zum Beispiel auch für die Leibowitz- und Mackerras-GA.


    Sinfonie Nr.5: Grosse Überraschung, denn auch hier liefert Chailly eine feurige Aufnahme; tolle Pauken inclusive, ab. Die Int kann es IMO mit den (meinen) Besten (Karajan, Solti 1959, Bernstein 1976) aufnehmen. Willi hat im Thread zur Fünften die Besonderheiten bei Chailly schön aufgezeigt.


    Sinfonie Nr.3: Wieder Spannung ohne Ende. Ungewohnt der sehr schnelle langsame 2.Satz (12:11). Da bleibt scheinbar viel Gefühl auf der Stecke - aber ich konnte mich gut daran gewöhnen - trotzdem hatte auch dieser Satz eine starken Eindruck auf mich gemacht.


    Die Sinfonien Nr.2 und 4 hatten den Pepp, die Detailfreudigkeit, die Spielfreude, die ich in dieser GA inzwischen gewohnt bin. Ansonsten keine Auffälligkeiten, die über andere sehr gute Aufnahmen hinausgehen. Die Pauken hätten hier aufnahmetechnisch "besser ausgesteuert" werden können.


    Die Sinfonie Nr.6 habe ich noch nicht gehört. Grund: Da wird es ohnehin schwierig an meinen hammerharten Favoriten Karajan (DG,1984) heran zu kommen. Das Interesse ist daher nicht so gross - folgt später mal ...



    Fazit: Eine TOP gelungene GA, die auch neue Erkenntnisse für Beethoven liefert und an keiner Stelle langeweile erlaubt; sondern zur vollen Konzentration anregt und mit Aha-Erlebnissen aufwartet - riesiger Hörspass !


    Nach der neuen Brahms-Sinfonien-GA mit dem Geandhausorchester Leipzig hätte ich nie gedacht einen so feurigen Beethoven vergesetzt zu bekommen. Viole kaufempfehlung, da auch preislich jetzt 2014 in Regionen, die man bezahlen will, wenn man eigendlich schon voll mit Beethoven eingedeckt ist.
    :thumbsup: Eine Beethoven-Sinfonien-GA die ohne mit der Wimper zu zucken zum Best Buy 3.Q 2014 gehört.


    Die Threadfrage "Ein grosses Wurf ?" kann ich für meinen Geschmack mit einem eindeutigen JA beantworten.

    Gruß aus Bonn, Wolfgang