Anlass für diesen Thread war eine Bemerkung Alfreds. Der Kontext war, dass andere und meine Wenigkeit ein paar Dinge über die Beethoven-Einspielungen Thielemanns sagten. Wiederum andere wurden davon zu der Frage bewogen, warum man denn einen neuen deutschen Dirigenten gleich zur Schlachtbank führen müsse und Kübel von Dreck über ihn ausschütte. Ich fragte zurück, warum es ausgerechnet bei Thielemann verboten wäre, Kritik zu äußern, und nannte ein paar heilige Kühe der Interpretationsgeschichte, die ich auch nicht so toll finde. Alfred antwortete wie folgt:
Aber dann muß auch mir erlaubt sein, daß ich die Provinzaufnahmen mit Dirigenten aus der zweiten Reihe als geschmacklose Verhöhnung des Beethovenbilds der letzten 100 Jahre bezeichne......
Meine erste Reaktion (bei Alfred bin ich zugegebenermaßen vorbelastet): So ein Blödsinn! Ein Bild kann man doch nicht verhöhnen.
Mir fiel dann noch die Szene aus dem „Wilhelm Tell“ ein, in der der verhasste habsburgische Landvogt Gessler auf dem Marktplatz von Altdorf eine Stange aufpflanzen lässt, dieser Stange seinen Hut aufsetzt und anordnet, dass jeder, der daran vorübergeht, sich davor verneigen müsse. Nicht-verneigen wäre also eine Beleidigung des Gessler-Bildes. Habsburger kommen offenbar auf solche Ideen ...
Ich hatte zwar Alfred gefragt, wie er das mit dem „Beleidigen eines Bildes“ meinte und wartete auf Antwort (übrigens immer noch). Doch das Thema spukte weiter in meinem Kopf herum. Bis ich an das kopernikanische Weltbild dachte. Galilei. Geozentrisch oder heliozentrisch? War es nicht so mit Beethoven-Interpretation im Wagner-Stil einerseits und den Erkenntnissen der HIP-Bewegung andererseits?
Blicken wir zurück: Beethoven hat seine Sinfonien mit Tempobezeichnungen versehen. Mit vielen Sforzati. Lebendig war seinerzeit noch die Tradition der „sprechenden“ Artikulation.
Ich vereinfache jetzt: Dann kam Wagner. Der erzog seine Orchester zu einem endlosen Legato von höchster Dichte. Ein unendlicher Klangstrom schwebte ihm für seine Werke vor. Die feingliedrige, rhetorisch geprägte Artikulation galt für ihn nicht. Stattdessen sollte ein großer Schwall der geistreichen Argumentation der früheren Klangrede ein Ende machen und an deren Stelle die schiere klangliche Überwältigung setzen. Im „Parsifal“ ist er diesem Ziel wohl am nächsten gekommen. Aber auch im „Rheingold“-Vorspiel, im Finale der „Götterdämmerung“, im Liebestod der Isolde ist wohl gut zu erkennen, was ich meine.
Mit dieser Ästhetik spielte Wagner auch Beethoven-Sinfonien. Auf ihn geht beispielsweise die Tradition zurück, das zweite Thema etwas langsamer zu nehmen.
Es gab andere, die im 19. Jhd. unter Wagnerschen Klangvorstellungen litten. Bruckners Partituren mit ihren klar umrissenen Klangblöcken wurde von wohlmeinenden Kollegen und Schülern im Sinne des Wagnerschen Mischklangs uminstrumentiert. – Ferner gab es zu dieser Zeit ja auch gewaltige Veränderungen im Orchester. Um große Säle zu füllen, wurden die Streichinstrumente in Richtung größerer Lautstärke umgebaut und mit Metallsaiten versehen, die man viel stärker anspannen konnte als die alten Darmsaiten. Holzbläserfarben wurden entindividualisiert und einander angenähert, damit sich – im Sinne Wagners – alles mit allem mischen könne.
Im Ergebnis wurde Rhetorik und Intellekt ersetzt durch Farbe, Klangstrom und Gefühl.
Das spätromantische Orchester kam dann in Werken wie Mahlers 8. Sinfonie, Schönbergs Gurreliedern und Strauss‘ Elektra an seine Peripetie, es gab kein „noch grösser, noch überwältigender, noch mehr Farbkombinationen“. Schon bei den genannten Werken von Mahler und Schönberg gibt es ja aufgrund der Schallgeschwindigkeit (ca. 330 m/s) nicht unerhebliche Probleme der Koordination. Zwei Musiker, die 33m auseinander musizieren, hören voneinander mit 1/10s Verzögerung. Versucht der erste, sich hörend an den zweiten anzupassen, so addieren sich die Differenzen und der zweite hört das Spiel des ersten dann schon mit 1/5s Verzögerung.
Aber sicher war nicht nur dies der Grund, warum es eine Gegenbewegung gab, die etwa in den Kammersinfonien Schönbergs, in der „Ariadne auf Naxos“ und den „Metamorphosen“ von Richard Strauss, in Weberns Sinfonie op. 21 und Hindemiths Kammermusiken ihren Ausdruck fand. Die kleine Besetzung mit ihrer Durchsichtigkeit war angesagt. - Natürlich wurde weiterhin für das große spätromantische Sinfonieorchester komponiert.
Wenn man so will, war das spätromantische Beethoven-Bild, das uns durch Dirigenten wie Weingartner und Furtwängler überliefert ist, also eine Modeerscheinung, da seine ästhetischen Grundlagen schon längst aus der Mode gekommen sind!
Einige hier im Forum und auch ein prominenter Dirigent, der gerade Beethoven-Sinfonien mit einem bekannten Wiener Orchester aufgenommen hat, behaupteten hingegen, HIP sei eine Modeerscheinung. Das ist grundfalsch. Modeerscheinung war die Beethoven-Wiedergabe mit Wagner-Ästhetik, auch wenn sie mehr als hundert Jahre in Geltung war. Ob HIP eine Modeerscheinung ist, wird erst die Zukunft zeigen. Momentan wächst, blüht und gedeiht HIP, und die meisten „konventionellen“ Orchester haben längst von den Erkenntnissen der historischen Aufführungspraxis gelernt.
Niemand wird bestreiten, dass uns die Tradition des 19. Jahrhunderts äußerst überzeugende Beethoven-Interpretationen geliefert hat. Wiederum wären Weingartner, Furtwängler und andere zu nennen. Man hört diese Aufführungen noch heute mit Gewinn, obwohl wir wissen, dass sehr viele – und entscheidende! – Vortragsanweisungen Beethovens dabei nicht beachtet wurden.
Ich fühle mich erinnert an das geozentrische Weltbild – die Erde in der Mitte, und Sonne, Mond und Planeten kreisen um sie herum. Dann kamen Galilei und Kopernikus – ein völlig neuer Ansatz: Nicht die Erde, sondern die Sonne ist das Zentrum.
Das durfte natürlich nicht wahr sein. Die Kirche hätte sonst zugeben müssen, dass sei einen Fehler gemacht hatte. Undenkbar - denn die Kirche stand für ewige Wahrheiten. Also wurde Galilei mundtot gemacht. Dabei wäre es so einfach: Man hätte nur durch Galileis Fernrohr sehen müssen, um sich von der Plausibilität seines Weltbildes zu überzeugen. – Wie bei Beethoven-Partituren, in die man nur hineinsehen muss, um die Tempovorschriften zu lesen, um zu sehen, wo Sforzati stehen.
Wie ist es zu erklären, dass Musiker wie René Leibowitz und andere, die diesen Blick in die Partituren riskierten und es wagten, Beethoven beim Wort zu nehmen, nur mit Orchestern aus der zweiten und dritten Reihe arbeiten konnten? Wie kam es, dass keine der großen Plattenfirmen an Aufnahmen dieser Arbeiten interessiert waren? Fürchteten die Labels, dass ihre Lagerbestände mit Furtwängler, Klemperer, Böhm und anderen wertlos würden, wenn die Fehler der althergebrachten Interpretationen entlarvt würden? Fürchteten die Orchester, dass ihr Status als Hort des Wissens „wie man das spielt“ beschädigt würde, wenn einer käme, der Beethoven so spielt, wie es geschrieben steht?
Toscanini war vielleicht der prominenteste, der sehr nah an Beethovens Vorgaben musizieren ließ. Doch wie bemüht klang das bisweilen, es hatte etwas Zwanghaftes. Wie gelassen und erhaben klang Beethovens Musik dagegen bei Furtwängler! War das nicht der Beweis, welche Sichtweise die „richtige“ war?
Nur langsam. Selbst, als man das galileisch-kopernikanische Weltbild akzeptierte, waren die astronomischen Vorhersagen, die man damit traf, weniger genau, als die Vorhersagen, die sich aus den komplizierten Modellen der alten geozentrischen Sicht ergaben. Ganz einfach, weil die Eichparameter des falschen Modells über Jahrhunderte in der Praxis soweit optimiert wurden, dass man die Wirklichkeit damit nachvollziehbar beschreiben und belastbare Vorhersagen treffen konnte. Diese Zeit des Eichens und Nachjustierens hatten die Nachfolger von Galilei und Kopernikus nicht – und warum darum anfangs unterlegen. Das falsche Modell lieferte also vorerst bessere Ergebnisse als das richtige.
So mag es denn sein, dass die Ergebnisse Furtwänglers und anderer sich zunächst überzeugender anhörten als die Aufnahmen Leibowitz‘ und Gleichgesinnter. Doch spätestens seit HIP haben wir alle mehrere Aufnahmen gehört, die Beethovens Vorgaben umsetzen, spätromantische Zutaten vermeiden und ein überzeugendes Konzept präsentieren. Und dies in spieltechnisch einwandfreier Weise.
Wenn nun ein Dirigent Beethoven-Sinfonien wieder mit spätromantischen Mitteln spielen ließe – wäre das nicht gleichbedeutend mit dem Versuch, die Welt wieder geozentrisch zu erklären? Wozu sollte das gut sein?