Legenden auf dem Prüfstand: Sibelius' 2. Symphonie unter Sir John Barbirolli (1966)


  • I. 10:33
    II. 15:02
    III. 5:59
    IV. 14:22


    25. & 26. Juli 1966, London, Kingsway Hall
    EMI, Stereo





    Sie ist die populärste und vermutlich meistgespielte nicht nur aller Symphonien dieses Komponisten, sondern auch aller "nordischen" Symphonien. Sie ist ein Glanzstück spätromantischer Kompositionskunst. Sie bedeutete den nach eigener Identität und Unabhängigkeit strebenden Finnen bereits damals sehr viel. Die Rede ist von der 2. Symphonie von Jean Sibelius (Uraufführung 1902).


    Von den "legendären" Aufnahmen gibt es eigentlich noch eine andere, die ich aber wegen ihres Raritätenstatus nicht nominiert habe: George Szells allerletzte von 1970 aus Tokio. Sehr viel verbreiteter und m. E. sogar noch ein Fünkchen besser ist die hochemotionale EMI-Aufnahme des Hallé Orchestra unter Sir John Barbirolli aus dem Jahre 1966. Sie soll gleichsam stellvertretend stehen für den vielleicht berühmtesten Sibelius-Zyklus durch Jahrzehnte hindurch, in dem sie ein Glanzlicht darstellt.


    Hat diese Aufnahme eures Erachtens den Status einer Legende verdient? Gibt es heute übermächtige Konkurrenz, die sie etwas alt aussehen läßt?

    »Und besser ist's: verdienen und nicht haben,

    Als zu besitzen unverdiente Gaben.«

    – Luís de Camões

  • Ich habe mir diese Barbirolli-Aufnahme (er nahm die 2. von Sibelius mindestens noch fünfmal anderweitig auf*) heute noch einmal ganz angehört. Ich will hinzufügen, daß diese Aufnahme in der Tat die Initialzündung war, mich näher mit dieser Symphonie zu beschäftigen. Zwar kannte ich das Werk bereits zuvor (durch die digitale Karajan-Aufnahme), aber irgendwie blieb es mir nicht so sehr in Erinnerung, was mir heute fast sonderbar erscheint, denn trotz aller Abstriche: auch bei Karajan merkt man natürlich die Größe der Komposition.


    Die 1966er Aufnahme ist die langsamste, die von Sir John vorliegt. Zugleich ist sie nicht nur seine hochemotionalste, sondern – neben Bernstein 1986 – überhaupt die extremste Aufnahme dieser Symphonie, die ich kenne. Anders als Bernstein, der auf 51:30 (!) kommt, übertreibt es Barbirolli m. E. allerdings nicht. An Dramatik – speziell im Finalsatz – ist er hier praktisch nicht mehr zu überbieten. Kritiker würden es wohl "haarscharf am Kitsch vorbei" nennen ("unerträglich schwerfällig", Richard A. Kaplan), aber finde ich persönlich diesen Unterton für nicht angebracht. Es ist wirklich eine Aufnahme für "Romantiker", wenn man so will. Keiner – auch nicht Szell in seiner allerletzten Aufnahme – bringt den Spannungsbogen in der Finalcoda besser hin. Ich mußte diese Stelle heute unweigerlich mehrfach wiederholen, die Wirkung ist geradezu hypnotisch ...


    Die Gefahr, die von dieser Aufnahme ausgeht, ist: Danach ist sie ein so hoher Maßstab, daß man an anderen Aufnahmen immer irgend etwas auszusetzen haben könnte ...


    * Alle mir bekannten Aufnahmen Barbirollis dieses Werkes:
    - 1940 New York Philharmonic, Columbia, 38:55
    - 1952 Hallé Orchestra, HMV, 41:20
    - 1962 Royal Philharmonic Orchestra, RCA/Reader's Digest, 44:20
    - 1964 Boston Symphony Orchestra, Mitschnitt, 41:35
    - 1966 Hallé Orchestra, HMV/EMI, 45:50
    - 1969 Kölner Rundfunk-Sinfonie-Orchester, Mitschnitt, 45:39

    »Und besser ist's: verdienen und nicht haben,

    Als zu besitzen unverdiente Gaben.«

    – Luís de Camões

  • Lieber Josef,


    Dein Beitrag macht mich wirklich neugierig auf die Barbirolli - Aufnahme/n !


    Wie unterschiedlich die Betrachtungsweise und der Wunsch auch den letzten Satz absolut groß zu hören, wird durch Ulrichs Beitrag aus dem anderen Sibelius 2-Thread deutlich.

    Zitat

    An Dramatik – speziell im Finalsatz – ist er hier praktisch nicht mehr zu überbieten.


    Für Ulrich wäre die Barbirolli-Aufnahme sicher nicht die Richtige ...
    dazu ein Auszug aus seinen Worten:

    Zitat

    Aadland arbeitete Aspekte der Zweiten stellenweise für mein Gefühl wie gemeißelt heraus, die nicht immer hörbar werden: Wildheit, Härte, zerklüftete Widersprüchlichkeit, schmerzhafte Zerrissenheit. Für mich ging das zum Teil an die Grenzen des Erträglichen, im ersten Satz beginnend, im zweiten und dritten Satz aber dann ihre vielfachen Höhepunkte erreichend.


    Die Melodienseligkeit des vierten Satzes wirkte dann wie ein Antidot, die große Tröstung, die den Schmerz forttrug und Linderung schuf. Nach der schmerzhaften Erfahrung des zweiten und dritten Satzes stellt sich dann die Frage, ob ein Zuviel an Trost gegeben wird, nicht ernsthaft - allerdings hat "Explosivität" im vierten Satz dann auch ganz sicher keinen Platz.



    Ich Frage mich was ich nach beiden Bernstein, Ashkenazy, Roshdestwensky, Blomstedt, N.Järvi eigendlich noch mit einem weieteren Sibelius-Zyklus soll ?
    Aber wenn sie der Wahnsinn ist ...
    :?: Nun eine bestellentscheidende Frage für mich:
    Wie ist die Barbiroilli-GA klanglich zu beurteilen ? Besser oder gleichwertig wie Roshdestwensky (Melodiya) ? Oder so mehr in der Richtung wie die Nielsen 4 mit Barbirolli (BBC) ?

    Gruß aus Bonn, Wolfgang

  • Hallo Wolfgang,


    selbst David Hurwitz (bekanntlich nicht gerade ein Barbirolli-Fan) mußte zugeben, daß insbesondere Barbirollis Aufnahmen der 2. Symphonie stets zur Spitze zählten. Besonders herausragend sind in dieser Box (Barbirolli nahm noch einzelne Symphonien anderweitig, tlw. ebenfalls in Stereo, auf) m. E. dann noch die 3. und 4. Symphonie. Die 1. und 5. haben sehr viel herausragende Konkurrenz (es soll allerdings noch deutlich bessere frühere Stereo-Aufnahme aus den späten 50ern davon geben – ich hin dran, das zu überprüfen). Die 7. sagte mir auch zu. Zur 6. kann ich nicht viel sagen – sie ist mir bis heute die fremdeste Sibelius-Symphonie geblieben (sie wurde seltener aufgenommen als alle anderen; meine Diskographie führt sie auch insgesamt am seltensten).


    Zum Finalsatz: Mir kommt er nicht "unerträglich schwerfällig" vor, wie ein Kritiker schrieb (s. o.). Man merkt eher, daß die Hallé-Blechbläser absolut am Limit spielen – Live-Atmosphäre trotz Studio sozusagen. Das Blech klingt richtig aufgewühlt und wie von Sinnen, nicht kontrolliert, wie in sehr vielen Aufnahmen. Die Pauken, die in der Aufnahme der 5. wie bei vielen anderen etwas unterbelichtet sind, hält Barbirolli hier auch nicht zurück. Vor allem gibt es einen sehr spezifischen finalen "Paukenschlag" ganz am Ende der Coda, den ich seither irgendwie in anderen Aufnahmen vermisse.


    Ich würde diese Aufnahme irgendwie in einer Liga sehen mit Barbirollis letzter Aufnahme der 2. von Mahler (1970). Es hat schon ein wenig was vom spätesten Bernstein und Swetlanow. 100%ig kann ich nicht dafür bürgen, daß du restlos begeistert sein wirst. Aber beim Neupreis von etwa 13 EUR (Import) bis knapp über 20 EUR (aus Deutschland) kann man eigentlich recht wenig falsch machen. Immerhin erhält man 5 CDs. Und wie gesagt: Auch die Aufnahmen der Orchesterwerke sind z. T. absolut referenzträchtig (besonders "Finlandia").


    Was die Tonqualität anbelangt, so würde ich mal spontan sagen: Mindestens auf einer Ebene mit Roschdestwensky. Auf jeden Fall aber natürlicher als die BBC-Live-Mitschnitte aus dieser Zeit. Classics Today gab bei der Tonqualität 7/10.


    :hello:

    »Und besser ist's: verdienen und nicht haben,

    Als zu besitzen unverdiente Gaben.«

    – Luís de Camões

  • Für Ulrich wäre die Barbirolli-Aufnahme sicher nicht die Richtige ...


    Lieber Wolfgang, is' ja putzig :D . Schönen Dank auch für Deine Fürsorge, aber dass Du noch nicht gemerkt hast, dass ich vergleichsweise wenig festgelegt bin und mir regelmäßig unterschiedlichste Alternativen gönne, wundert mich dann doch ein wenig.


    Barbirollis war meine erste Sibelius-GA, und hat für mich bis heute von ihrem Reiz und ihrer Faszination nichts verloren. Trotzdem steht Berglund/COE für mich völlig gleichberechtigt neben Barbirolli - eine Auslegung von unfassbarer Kargheit und Klarheit, für mich das Beste, was Berglund dirigiert hat, und gerade in der Zweiten stark. Das lässt Barbirollis Bedeutung, wie gesagt, völlig unberührt. Nach wie vor - am Legendenstatus von Barbirollis Sibelius hat Berglund nicht gerüttelt, Segerstam auch nicht, nicht Vänskä ... wie sollten sie alle auch, sie alle haben selbst gültige Interpretationen neben Barbirolli abgeliefert.


    Trotz Barbirolli "darf" Aadland das ruhig ganz anders machen und kann trotzdem überzeugen - was spricht aus Deiner Sicht dagegen?

  • Lieber Ulrich,


    ich hatte deinen zitierten Beitrag so gedeutet, dass der 2. und 3.Satz für Dich zum Teil an die Grenzen des Erträglichen gingen und Du im letzten Satz allgemein eine "Explosivität" im vierten Satz verfehlt findest. Das galt offenbar nur bei Aadland !
    Sorry, das habe ich falsch verstanden.
    Ich hatte mich schon gewundert, denn nicht nur ich finde auch im letzten Satz muss "die Lucy abgehen" !



    Ich habe mehrfach in deine geschätzte Berglund-Aufnahmen der Sibelius-Sinfonien reingehört. Ich kann deine Vorliebe für diese "unfassbarer Kargheit und Klarheit" schon nachvollziehen; konnte aber mit dieser Sicht nie so richtig warm werden.
    Wie Du sicher ohne Zweifel verstehen wirst ist dass klar, wenn man Bernstein als seinen Favorit im Ohr hat !



    Lieber Josef,


    es ist zwar wie immer 8| totaler Blödsinn was ich eben gemacht habe, da ich ja mit Sibelius auf CD bestens ausgestettet bin:
    :!: Habe die Barbiroli-GA für den Preis einer CD bestellt.


    Bonus: Die Box enthält ja eine ganze Menge weiterer Sibelius-Orchesterwerke. Finlandia soll mit Barbirolli gut sein !
    Besser und wahnsinniger als mit Ashkenazy aber mit sicherheit nicht - denn mehr geht nicht !
    Pohjohlas Tochter ist auch dabei; höre ich gerne. Kennst Du die Bernstein-Aufnahme ? daran ist schwer vorbei zu kommen...


    Aber auch wegen der Sinfonie Nr.2 ist mir das den Kauf der Barbirolli-Box wert ! :) Die Einzel-CD mit der Sinfonie Nr.2 wäre deutlich teurer gewesen.

    Gruß aus Bonn, Wolfgang

  • Diesen Thread habe ich heute wieder entdeckt und muss gleich etwas los werden, was noch ausstand.


    Die Barbirolli-GA (EMI) - Abb in Beitrag 1 - gehört für mich zu den ganz grossen Bereicherungen in meiner inzwischen stark aufgestockten Sibelius-CD-Sammlung.
    Besonders die Sinfonie Nr.2 gehört für mich zu den ganz extreem wichtigen Aufnahmen - hier mit dem Halle Orchestra, das nicht zur ganz grossen Spitze gehört; Spitze ist aber, was diese Musiker an Emotion bereit sind am Limit hörbar zu machen und alles an Gefühl und Spielfreude geben, was nur möglich ist.
    Josef in Beitrag 4 hat es mit anderen Worten genau so empfunden.


    :hail: Packender geht es kaum noch -
    da kann nur noch Bernstein mit seinen beiden Aufnahmen (SONY und DG) wirklich mithalten und nicht zu vergessen Szell´s grosse und leztzte Aufnahme mit dem Cleveland Orchstra von 1970 (die leider Klangtechnisch nicht so mitkommt und deshalb auch Szell´s Amsterdamer Aufnahme (Philips) nicht unvergessen macht) - aber die Emotionen werden bei Barbirolli höher ausgespielt als bei Szell in Holland.

    Gruß aus Bonn, Wolfgang

  • Schön, dass Du diesen alten Thread wiederbelebst, lieber Wolfgang.


    Ich kenne mittlerweile eine solch unüberschaubar große Zahl an Aufnahmen dieses Werkes, dass Barbirolli (mein Einstieg) manchmal etwas in den Hintergrund rutscht. Natürlich zu Unrecht, dann am Ausnahmecharakter dieser Einspielung mit dem Hallé Orchestra von 1966 gibt es aus meiner Sicht auch heute nichts zu rütteln.


    2013 erschien Barbirollis letzte Aufnahme dieses Werkes, eine Rundfunkproduktion des WDR von 1969 mit dem damaligen Kölner Rundfunk-Sinfonie-Orchester (heutiges WDR SO):



    Müsste ich mich entscheiden, würde ich dieser vielleicht sogar noch den Vorzug geben, auch wenn sich die Interpretation nicht grundlegend unterscheidet. Das ist "ganz später Barbirolli". Er holt wirklich das Letzte aus dem damals noch nicht allgemein auf diesem hohen Niveau spielenden Orchester. Besonders die Behandlung der am Ende aufheulenden Blechbläser bereitet mir immer wieder Gänsehaut: Barbirolli hatte es wirklich drauf! Solch einen geschickten, hochemotionalen Spannungsaufbau im Finale bekommt längst nicht jeder Dirigent hin. Die Kölner spielen regelrecht ums Leben und legen eine absolute Sternstunde hin. Tontechnisch ist das mindestens ebenbürtig mit der EMI-Aufnahme.


    (Bei Spotify kann man reinhören. Sehr gut übrigens auch die selten gespielte Vierte von Schubert, die ebenfalls enthalten ist.)

    »Und besser ist's: verdienen und nicht haben,

    Als zu besitzen unverdiente Gaben.«

    – Luís de Camões