Gibt es Programmmusik? Sorry für die neue Orthographie

  • Vor einigen Jahren dirigierte L. Bernstein in einem seiner ´Young People´s Concerts´ für sein zum großen Teil junges Publikum ein kleines Orchesterstück (weiß nicht mehr was) und stellte daraufhin eine rhetorische Frage:


    ´Was sagt diese Musik aus? ´ und beantwortete sie gleich selbst:
    ´Nichts, gar nichts, das sind Noten, Musik erzählt keine Geschichten! ´


    Seitdem gibt mir die Pastorale immer ein schlechtes Gewissen und ich frage mich, was Beethoven mit seinen Satzüberschriften gemeint haben kann.


    Oder habe ich den guten Bernstein missverstanden?



    Grüße aus Stockholm

  • Bernstein sagte viel. Ich habe ein Buch von ihm, wo er so etwas ähnliches sagt, dass nämlich Musik nicht lustig sein könne.
    Ein paar Seiten später beschreibt er, wie er als Junge vor Lachen auf dem Boden gelegen habe, als er die Klassische von Prokoffiev gehört habe.
    Er sagt halt, wie´s grad passt.
    Und das ist ja oft auch sehr unterhaltsam.
    Tschö
    Klaus

    ich weiß, dass ich nichts weiß. Aber ganz sicher bin ich mir da nicht.

  • Ich habe, im Gänsehaut-Thread, glaube ich, versucht zu erfassen, wie die Klimax der Durchführung von Tschaikowskys VI.,1 in einer großen Beweinungsszene mündet, die den Schmerz, das Haraufwürgen der Tränen und den sich lösenden Krampf sozusagen auch körperlich ausdrückt.


    Musik hat unzweifelhaft eine gestische Ausdrucksebene. Niemand kann sich, nachdem die Marschallin ihr "In Gottes Namen" gesungen hat und aus dem Saal rauscht, der sprechenden Gestik der Crecsendo-Phrase entziehen, zu der die Liebenden - endlich allein! - einander in die Arme sinken.


    Wagner liebt es, große Gefühle mit breitem Pinsel auszumalen. - Verdi hat, mit einfachsten Mitteln, oftmals suggestivste Wirkungen erzielt. Ich denke an das Trompetenterzen-Motiv nach dem tödlichen Schuß auf Posa, in dem das ganze Schwinden des Lebensgefühls anklingt. Oder das insistierend unruhige Streicherthema zu Beginn des Kartenspiels im dritten Bild der Traviata.


    In der Weidenbaum-Szene der Desdemona oder dem Ella-giammai-Monolog des Philipp hat Verdi mit höchster Kunst etwas wie Leere vertont. Und zwar die innere Leere der todesbangen Venezianerin, die sich in ihrer Liebe so beirrt, so tief getäuscht sieht, wie auch die Hoffnungslosigkeit des alternden Königs. Wie die erst getrennt gespielten Weisen des Solocellos und der in sich kreisenden Geigenmelodie zueinanderfinden, sich ineinander verschlingen, bis die Stimme Philipps tonlos dazutritt, das hat in seiner Transparenz und Zufälligkeit kaum seinesgleichen.


    Großes Tonkino ist auch Isoldes Liebstod mit seinen ins Offene ausbrechenden Ozeanwogen in E-Dur und H-Dur usw., wo das auskomponierte Ritardando mit den überhängenden Vorhalten cis-(h) bzw. gis-(fis) auf halben Noten die aufgestaute Gewalt in den ausatmenden Entladungen zerdehnt, was von ungeheurer Wirkung ist.


    Schwer beschreiblich dagegen ist die suggestive Palette Debussys z.B. in La Mer, wo ein Ganzton-Glissando der Harfen sich anhört wie der Wind, der durch Schilf streicht. - Ich oute mich hiermit als Gestalt-Hörer, wohl wissend, daß es Taminos gibt, die auf den Ohren farbenblind sind.


    :hello:

    Zerging in Dunst das heilge römsche Reich


    - uns bliebe gleich die heilge deutsche Kunst!

  • Hallo,


    ich habe mal vor ca.50 Jahren den (deutsch übersetzten) Text des Gedichts "Nachmittag eines Fauns" als Untermalung unter die Musik Debussys gesprochen. Bei dem Text adäquaten Sprechtempo kam ich zufälligerweise gleichzeitig genau zu dem "Höhepunkt" von Gedicht und Musik, wohl wissend, das es keine echte Programmmusik ist, allerdings: Ich kann mir schon vorstellen, dass Debussy bei seiner Musik den "schwülen" Charakter der Szene vor Augen hatte und für mich … (ich finde kein genau passendes Adjektiv) zu Musik gemacht hat.


    Bei Programmmusik wird natürlich eine Geschichte erzählt, man denke nur an die "Moldau", und bei textgebundener Musik meist- nicht immer - sowieso.
    Berlioz' Symphonie fantastique ist m. E. keine direkte Programmmusik, aber bei Kenntnis des Anlasses zur Entstehung? Ich glaube, es gibt in (vielen?) Fällen eine Grauzone.


    Viele Grüße
    zweiterbass

    Wer die Musik sich erkiest, hat ein himmlisch Gut bekommen (gewonnen)... Eduard Mörike/Hugo Distler

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  • ´Was sagt diese Musik aus? ´ und beantwortete sie gleich selbst:
    ´Nichts, gar nichts, das sind Noten, Musik erzählt keine Geschichten! ´


    Bernstein hat Recht.


    Noten erzählen keine Geschichten. Buchstaben übrigens auch nicht. Nur, wenn Menschen Buchstaben zu Wörtern zusammenfassen und diese Wörter mit einer Grammatik versehen, in einer Weise, die mit Wörtern plus Grammatik erlaubt, einen Sinn zu kommunizieren, der nicht in den Buchstaben selbst liegt, dann kann eine Geschichte erzählt werden. Kennt jemand die Buchstaben, die Wörter und die Grammatik nicht, kann er die Geschichte nicht verstehen.


    Japanischen Geschichten im Originaltext kann ich nicht verstehen. Die Schriftzeichen erzählen mir nichts. Bernstein hat recht.


    Gebt jemanden eine Partitur von Beethovens Pastorale, der keine Noten lesen kann. Was soll sie ihm erzählen? Nichts.


    Spielt demselben den vierten Satz vor und sagt ihm, Beethoven hätte hier einen Streit mit seinem Verleger um eine Honorarforderung musikalisch ausgedrückt. Was sollte er Euch argumentativ entgegenhalten? Nichts.


    Gerade fällt mir ein: Jemand hörte Mendelssohns 3. Sinfonie in a-moll ("Schottische") und meinte, die "Italienische" zu hören. Er lobte geradeheraus, wie gut Mendelssohn die italienischen Charaktere getroffen hätte!


    Die Geschichte ist immer nur die, die der Hörer beim Lesen oder Hören konstruiert. Ein Finanzbeamter liest eine Gesetzesvorlage zur Besteuerung von Erbschaften als Handlungsanweisung. Ein Normalmensch liest sie als Realsatire. - Ein Ungläubiger liest die Schöpfungsgeschichte als Märchen ...


    "Ceci n'est pas une pipe"


    :hello:


  • Bernstein hat Recht.


    Noten erzählen keine Geschichten. Buchstaben übrigens auch nicht. Nur, wenn Menschen Buchstaben zu Wörtern zusammenfassen und diese Wörter mit einer Grammatik versehen, in einer Weise, die mit Wörtern plus Grammatik erlaubt, einen Sinn zu kommunizieren, der nicht in den Buchstaben selbst liegt, dann kann eine Geschichte erzählt werden. Kennt jemand die Buchstaben, die Wörter und die Grammatik nicht, kann er die Geschichte nicht verstehen.


    Was mindestens schwierig an Bernsteins Äußerung ist, dass er fröhlich Noten und Musik mehr oder weniger miteinander gleichsetzt. Insofern wäre es interessant zu erfahren, ob das gegebene Zitat tatsächlich dem genauen Wortlaut entspricht!? - Ob nun aber Noten genauso, wie Buchstaben keine Geschichten erzählen ... ich bin mir nicht ganz sicher:
    Zumindest ist es anscheinend so, dass beide Formen Informationen enthalten. Denn auch, wenn ich keine Noten/Buchstaben lesen kann, bin ich doch in der Lage zu erkennen, dass eine Partitur oder ein Buch Informationen enthält. Das aber wahrscheinlich auch nur, weil ich vielleicht ähnliche Systeme kenne Informationen festzuhalten. Mehr noch vermag ich zumindest theoretisch sogar abzuleiten, wie hoch der Informationsgehalt z.B. einzelner Buchstaben ist. Dies macht man sich etwa dadurch klar, dss mn n dtschn Txtn d Slbstlt wglssn knn nd trtzdm mstns nch n dr Lg st, dn Txt z vrsthn. Insofern ist anzunehmen, dass der Informationsgehalt von Vokalen kleiner ist, als der von Konsonanten. Man müsste sich mal überlegen, ob dies auch bei Noten funktioniert?


    Was nun die Musik angeht (Die im übrigen nicht zwingend Noten benötigt. Analog funktioniert ja auch Sprache, also verbaler Kommunikationsaustausch bzw. Geschichtenerzählen durchaus ohne Buchstaben. Kinder beispielsweise erfassen die Bedeutung und den Inhalt von Sprache lange, bevor sie etwas mit Buchstaben anfangen können. Und wenn es dann tatsächlich in Richtung "Buchstaben" geht, so ist die erste Erkenntnis bei Kindern wiederum, dass es sich dabei offenbar um einen Informationsträger handelt, der nur noch nicht entschlüsselt werden kann.); was also die Musik angeht, so ist sie doch zumindest bezogen auf das "Noten-Alphabet" die Manifestation der zugehörigen Wörter, der Grammatik, Semantik und Syntax. Dann aber kann Musik einen Sinn kommunizieren, eine Geschichte erzählen - und auch, wenn ich diese Geschichte vielleicht nicht verstehe, bin ich wahrscheinlich in der Lage, zu erkennen, dass da eine Geschichte ist (So jedenfalls die Hoffnung derjenigen, die eine Aufnahme der Arie der Königin der Nacht aus Mozarts Zauberflöte ins All geschossen haben :angel: ). Wäre es anders, wäre etwa auch die Frage, warum Musik Gänsehaut erzeugen kann, vollkommen sinnlos!

    mfG Michael


    Eine Meinungsäußerung ist noch kein Diskurs, eine Behauptung noch kein Argument und ein Argument noch kein Beweis.

  • Insofern ist anzunehmen, dass der Informationsgehalt von Vokalen kleiner ist, als der von Konsonanten. Man müsste sich mal überlegen, ob dies auch bei Noten funktioniert?


    Der Informationsgehalt von Vokalen ist absolut gesehen an sich nicht kleiner als der von Konsonanten. Deren geringere Anzahl im Alphabet ist es, was sie sozusagen 'entbehrlicher' macht. Indem es weniger Möglichkeiten gibt, ist das Gehirn einfach schneller in der Lage, diese durchzuspielen und das Fehlende zu ergänzen.


    Wo wäre aber die Analogie zu den Noten? Da gibt es keine Unterteilung ähnlicher Art, oder?

    'Architektur ist gefrorene Musik'
    (Arthur Schopenhauer)

  • Hallo Wolfram,


    vielleicht erzählt eben ein gewisses Stück viele Geschichten??


    Einen Streit könnte ich dem 4. Satz der Pastorale nicht abgewinnen, auch wenn´s der Höchstgewinn wäre.


    Ich möchte zugeben, dass die meisten Menschen von den allgemeinen Vorstellungen ihres jeweiligen Kulturkreises geformt werden und in unserem ist Moll meist traurig.


    Die Frage ist, ob es auf diesem Gebiet nicht doch einen gemeinsamen Nenner gibt, gleichsam ein atavistisches Gemeingut wie bei gewissen Instinkten, Klaustrophobie, Höhenangst, Angst vor der Dunkelheit usw.


    Man sagt ja zum Beispiel, Musik atmet. Es soll auch Versuche geben, die beweisen, dass harmonische Musik positiver auf den Menschen wirkt als dissonante und hat auch ziemlich allgemeingültige Kriterien gefunden für die Beurteilung der Schönheit; der Goldene Schnitt wird da unter anderem genannt.


    Übrigens, Bernstein meinte nicht die Noten, sondern die Musik. Ob ich jetzt serbisch mit kyrillischen Buchstaben schreibe oder mit lateinischen hat ja keinen Einfluss auf die Sprache selbst.
    Was die Schottische anbelangt, so ist sie sicher leichter mit der Italienischen zu verwechseln, als das ruhig fließende Finale der Sechsten mit einem hitzigen Streit.
    Wenn du meinst, argumentativ könnte man dem nicht beikommen, so will ich meinen, dass schon das Tempo einiges verrät, wer sucht, findet sicher noch mehr.


    Ich bin also (noch) nicht von Deinen Einwänden überzeugt, gebe Dir aber 10 Punkte für die Gesetzesvorlage zur Besteuerung als Realsatire.


    Grüße :jubel:

  • Hallo MSchenk,


    Noten kann Bernstein ja nur gemeint haben als Umschreibung für die Musik, alles andere gäbe für mich keinen Sinn.


    Ich werde mir jedenfalls die Mühe machen, unter allen ´Young Peaple´s Concerts´ die besprochene herauszusuchen.



    Grüße

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  • Lieber Hami,


    vielleicht wollte Bernstein ja nur einen provokativen Einstieg.


    Es soll auch Versuche geben, die beweisen, dass harmonische Musik positiver auf den Menschen wirkt als dissonante


    Hm - was heißt "positiver"? In einem Polizeistaat könnten sowohl "beruhigend" als auch "agitierend" als "positiv" bezeichnet werden, je nach Sichtweise. Der auf der Seite der Macht wird bestrebt sein, sein Volk ruhig zu halten, die Opposition wird zur Agitation neigen.


    Was die Schottische anbelangt, so ist sie sicher leichter mit der Italienischen zu verwechseln, als das ruhig fließende Finale der Sechsten mit einem hitzigen Streit.


    Oh - ich meinte den vierten Satz (die Gewitterszene) von Beethovens 6. Sinfonie, nicht den fünften Satz.


    :hello:

  • Lieber Wolfram,


    beinahe das Gegenteil ist der Fall: Wir könne gar nicht anders, als Fragmente in Form einer Geschichte zu apperzipieren. Ich weiß noch, wie ich, des Lesens unkundig, den Sinn von Wilhelm Buschs "Naturgeschichtlichem Alphabet" als fortlaufende Bildergeschichte zu erfassen versuchte (es war eine sehr undurchsichtige Angelegenheit). Auch uns selbst begreifen wir ja in der der Bewußstseins-Retrospektive als Zusammenhang (und nicht etwa als disparate Ansammlung von Unzusammenhängendem). Wir füllen ständig irgendwelche Löcher mit dem aus, was uns passend scheint. Einbildungskraft.


    :hello:

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    - uns bliebe gleich die heilge deutsche Kunst!

  • Hallo novecento,



    Der Informationsgehalt von Vokalen ist absolut gesehen an sich nicht kleiner als der von Konsonanten. Deren geringere Anzahl im Alphabet ist es, was sie sozusagen 'entbehrlicher' macht. Indem es weniger Möglichkeiten gibt, ist das Gehirn einfach schneller in der Lage, diese durchzuspielen und das Fehlende zu ergänzen.


    na ja, ich bin auf dem Gebiet kein Experte und erinnere mich im Wesentlichen auch nur daran, dass ich im Zusammenhang mit dem Informationsgehalt von Buchstaben einem Erstsemester-Informatiker mal erklärt habe, was es mit dem Logarithmus so auf sich hat. Aber eine Internet-Suche mit den Stichwörtern Informationsgehalt und Shannon läßt mich glauben, dass die Zusammenhänge doch etwas komplexer sind :pfeif:


    Wo wäre aber die Analogie zu den Noten? Da gibt es keine Unterteilung ähnlicher Art, oder?


    Genau dass ist die Frage! - Einfach formuliert: Kann ein guter Klavierspieler die Waldstein-Sonate auch spielen, wenn er das Stück nicht kennt und ich in den Noten jeden dritten Takt gestrichen habe? Oder komplexer formuliert: Wie verhält es sich z.B. mit der Rekonstruktion oder Vervollständigung von Mahlers 10ter oder dem Finalsatz von Bruckners 9ter? Wie bei den Affen an der Schreibmaschine, die irgendwann auch den Hamlet tippen, wäre es zumindest theoretisch denkbar, dass die Rekonstruktion/Vervollständigung des Mozart-Requiems durch Süßmayr genau, d.h. bis in die letzte Note dass war, was Mozart komponiert hätte, wenn er noch dazu in der Lage gewesen wäre ...

    mfG Michael


    Eine Meinungsäußerung ist noch kein Diskurs, eine Behauptung noch kein Argument und ein Argument noch kein Beweis.

  • Es soll auch Versuche geben, die beweisen, dass harmonische Musik positiver auf den Menschen wirkt als dissonante [...]


    Dazu ein unqualifizierter Einwurf: Kühe sollen bei Stallbeschallung mit Mozart ja auch mehr Milch geben und Kinder (im Laufstall?) intelligenter werden. Inzwischen gibt es aber auch da wohl Studien, die solcher "Ergebisse" nevellieren oder gar negieren; denn was heute richtig ist, kann morgen schon wieder falsch sein und umgekehrt und umgekehrt und umgekehrt und umge ... :stumm:

    mfG Michael


    Eine Meinungsäußerung ist noch kein Diskurs, eine Behauptung noch kein Argument und ein Argument noch kein Beweis.

  • Die Geschichte ist immer nur die, die der Hörer beim Lesen oder Hören konstruiert.


    War dann Smetana der Hörer der "Moldau"? Oder nicht doch evtl. der Komponist? Man könnte dagegen einwenden, dass die Bezeichnung "Moldau" und gleich der Name des ganzen Werks "Mein Vaterland" absatztechnische Gründe gehabt hätte - das ist bei der Namensgebung für moderne Werke heute sicher denkbar - damals???
    Selbstverständlich kann ich die "Moldau" auch als "Pegnitz" - an diesem Fluß liegt Nürnberg und ich kenne beider Flüsse Quellen - verstehen. Man kann das noch weiter verallgemeinern und nur Naturbilder usw. hören -oder:
    Wenn ein Hörer die Moldau zum 1. Mal hört und nicht gesagt bekommt, da hat Smetana skizzenhaft den Lauf der Moldau musikalisch nachgezeichnet, dann wird er, unbeeinflußt von Smetanas Kompositionsvorlage und mit einer Prägung für klassische Musik, gewiß ein leicht verständliches (hübsches, nettes?) Musikstück hören und dabei wahrscheinlich ganz andere Vorstellungen entwickeln als Smetana, aber: Ohne den Beweis antreten zu können, meine ich, wenn der Moldaukenner beschreiben soll und kann, welche Empfindungen bei ihm ausgelöst werden, wenn er bestimmte Passagen aus der Moldau hört, so dürften diese mit denen des Nicht-Moldaukenners vergleichbar sein, vorausgesetzt Beide haben in etwa ähnliche musikalische Prägung.


    Und dass Bernstein bei seinem Ausspruch nicht die Noten/Partitur, sondern die Musik gemeint hat, ist für mich keine Frage, wahrscheinlich ein Lapsus. Was die Lichtimpulse der zu Papier gebrachten Buchstaben und Worte für die Augen sind, sind die zum tönenden Klingen gebrachten Noten für die Ohren (hier wird noch zwischengeschaltet der Interpret gebraucht); die weitergeleiteten Infos beider Sinnesorgane werden von ähnlichen, z. T. identischen Gehirnstrukturen verarbeitet.


    Viele Grüße
    zweiterbass

    Wer die Musik sich erkiest, hat ein himmlisch Gut bekommen (gewonnen)... Eduard Mörike/Hugo Distler

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  • Insofern ist anzunehmen, dass der Informationsgehalt von Vokalen kleiner ist, als der von Konsonanten.


    Das hängt natürlich auch von der Definition des Informationsgehaltes von Buchstaben ab, aber grundsätzlich meine ich, dass man diese Schlussfolgerung nicht treffen kann.


    Es ist nämlich so, dass man den Text ohne Vokale NICHT versteht, das Verständnis kommt ja erst dadurch, dass man beim Lesen der Konsonantenfolge die fehlenden Vokale in Gedanken rekonstruiert. Da es nur fünf Vokale gibt, gelingt dies fast zu 100%. Nimm als Gegenbeispiel eine beliebige Fünfergruppe von Konsonanten, die weggelassen werden. Jetzt hängt es von der Zusammenstellung dieser Gruppe ab, man könnte z.B. als "Maß" die Summe der relativen Häufigkeiten der einzelnen Buchstaben in einer Sprache einführen. Auf jeden Fall wird bei der großen Mehrheit dieser fehlenden Buchstabengruppen der verbleibende Text wesentlich leichter zu lesen sein, als der gleiche ohne Vokale. Damit würde sich deine Aussage ins Gegenteil umkehren...


    :hello:

    Ciao


    Von Herzen - Möge es wieder - Zu Herzen gehn!


  • Lieber Wolfram,



    Deine Verstocktheit hat mich heute um den Schlaf gebracht, ich habe die ganze Nachte gegrübelt, wer von uns beiden nun recht hat und kam zu dem Schlusssatz, wenn nicht Du, wer dann?


    Doch zuerst, wie konnte ich glauben, dass Du das Finale der Sechsten meinen könntest?


    Grobe Unterschätzung des Gegners würde ich sagen, soll nicht wieder vorkommen.



    Fünf Sätze? Ich höre da immer nur vier. Es freut mich jedenfalls für die Dorfmusikanten, die dann wohl noch trocken nach Hause gelangten.



    Dass Beethoven seine eigenen Werke so wenig kannte? War da seine bekannte Zerstreutheit mit im Spiele oder wollte er nur mehr bezahlt haben?



    Zur Sache:


    Das Gegenständliche steht ja oft stellvertretend für das Abstrakte und Begriffe wie Gewitter und Streit liegen bedeutungsmäßig nicht weit auseinander.
    Ob man nun das Erwachen auf dem Lande als Naturschilderung sieht oder als Beschreibung einer Seelenstimmung macht da keinen Unterschied.


    Wenn sich jetzt also ein Gewitter über mir zusammenbraut, denke ich da eher an Deine Antwort als an Löwenbräu.


    Ein Statistiker würde das Verhältnis der Menge der Interpretationsmöglichkeiten eines Stückes zur Wahrscheinlichkeit einer korrekten Deutung als negative Korrelation betrachten, also je mehr vom Einen, desto weniger vom Andern.
    Vielleicht kommt das der Sache am nächsten.


    Die Pastorale gibt mir jedenfalls weniger Assoziationsmöglichkeiten als die Eroica, den Trauermarsch ausgenommen.


    Jetzt kann man natürlich weiterbohren und sagen, dass das eben angelernte Reaktionen sind und man diese Debatte den Perzeptionspsychologen überlassen sollte.
    Gut möglich, haben wir denn einen solchen im Forum?


    Übrigens, wenn ich vom positiven Einfluss der harmonischen Musik sprach, war damit das eigene, gefühlte Wohlbefinden gemeint, nicht das von der Umwelt erwartete.



    Viele Grüße

  • Ein Statistiker würde das Verhältnis der Menge der Interpretationsmöglichkeiten eines Stückes zur Wahrscheinlichkeit einer korrekten Deutung als negative Korrelation betrachten,


    ... was ist eine "korrekte Deutung"? Was wäre Dein Maßstab dafür?


    Übrigens, wenn ich vom positiven Einfluss der harmonischen Musik sprach, war damit das eigene, gefühlte Wohlbefinden gemeint, nicht das von der Umwelt erwartete.


    Oh - es gibt Menschen, die funktionieren ungefähr so: "Ich bin gut, wenn ich böse bin". Meinst Du, diese würde mit "harmonischer Musik" (was zum Teufel ist das?) positiv stimuliert?


    :hello:

  • Zur Pastorale gibt es einen thread, in dem schon einiges zu den "absoluten" und "programmatischen" Elementen und ihrem Verhältnis gesagt wurde.


    Was Bernstein in dem Jugendkonzert (auf youtube) zu finden, macht, ist folgendes: Er erfindet eine alternative Geschichte zur Musik einiger Passagen aus Strauss' Don Quixote" und meint dann, damit gezeigt zu haben, dass Musik "nichts" bedeutet, weil man ja zu einer Episode, die etwas bestimmtes bedeuten sollte, etwas Alternatives erfinden kann. Das hat er damit natürlich nicht gezeigt. Es ist doch offenbar ein Unterschied, ob man alternative Geschichten erfinden kann oder ob man beliebige Geschichten erfinden kann.
    Ein wichtiger Punkt hier, der im thread nicht angemessen berücksichtigt wurde, ist der Unterschied zwischen "symbolischen" und "ikonischen" Zeichen. Symbole repräsentieren rein konventionell: "3" , "11", "three", "tres" sind Symbole für die Zahl drei. Keines davon ist der Drei ähnlicher als das andere.
    Drei Striche oder Punkte oder Steinchen "I I I" sind dagegen nicht bloß ein konventionelles, "beliebiges" Zeichen, sondern ein Ikon, das sozusagen den elementaren Abzählvorgang imitiert, mit dem man zur Drei gelangt.
    Oder aus der Zeit, als man Zugfenster noch öffnen konnte: En Schild mit der Aufschrift "Keinen Müll aus dem Fenster werfen" gegenüber dem durchgestrichenen Bild einer Flasche im roten Kreis.
    Sicher sind bei vielen Zeichen, wie auch dem letzteren, beide Aspekte vermengt. Dass ein roter Kreis oder ein Durchstreichen ein Verbot bedeutet, ist konventionell. (Und historisch haben sich oft symbolische Zeichen wie Buchstaben aus ikonischen einer Bilderschrift entwickelt.)
    Unser Notensystem ist konventionell und symbolisch (gleiche Abstände im Notensystem bedeuten nicht einmal gleiche Tonabstände, solche Konventionen, wo Halbtonschritte sind, muss man zusätzlich wissen). Das heißt aber nicht, dass Musik, wenn sie denn überhaupt etwas Außermusikalisches repräsentiert, dies symbolisch tut.


    Daher ist m.E. nicht ganz korrekt, wenn Bernstein und Wolfram (sofern ich sie recht verstanden habe) meinen, dass die "Bedeutung" von Musik beliebig rekonstruiert werden kann. Ungeachtet vieler konventioneller und symbolischer Elemente hat Musik sicher auch ikonische. Die Vogelstimmen in der Pastorale (oder am Beginn von Mahlers 1.) sind ikonisch, auch wenn sie nicht so exakt reproduziert werden wie vielleicht bei Messiaen (ob der Kuckuck nun in großer Terz oder Quarte ruft, mögen die Ornithologen entscheiden). Ähnlich das Gewitter. Oder das Fließen des Bachs oder des Rheins im Rheingold oder die plump-stampfenden Riesen dort usw.


    Interessant und strittig wird es, wenn man versucht, das Verhältnis von "reinen Strukturanteilen", symbolischen und ikonischen Aspekten herauszuarbeiten. Die Emotionen, die wir in der Musik wiederfinden, sind ziemlich sicher nicht rein konventionell kodiert. Es scheint eine Ähnlichkeit von klanglichen Verläufen und gestischen Gestalten zu psychischen und physischen Prozessen zu geben ("Musik geht ins Blut", "zu Herzen", "der Rhythmus geht in die Beine" usw.) Unter solchen Gesichtspunkten wäre es vielleicht interessant, sich, wie im verlinkten thread angesprochen, zB unterschiedliche Gewitter- und Sturmmusiken anzusehen, inwiefern diese Gewitter ikonisch imitieren oder stärker symbolisch repräsentieren.

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • Hallo Wolfram,


    das Wort korrekt ist nicht korrekt, sagen wir halt ´allgemein akzeptiert´, was natürlich ebenso blödsinnig ist.


    Mit harmonisch meine ich nach heutigen Begriffen sonant. Es wird jedenfalls gesagt, dass Berufsmusikern zu viel dissonante Musik gesundheitlich abträglich sein kann.
    Wie oft das der Psyche des betreffenden Musikers zuzuschreiben ist oder der physikalischen Einwirkung der Musik, ist mir nicht bekannt, wäre aber wichtig zu wissen.




    Du kommst mir jetzt mit Professor Moriarty. Dagegen kann man nichts sagen.


    Es läuft eben doch dahin hinaus, dass sich jeder Hörer seine eigene Vorstellungswelt schafft und man ergo auch die Anweisung der Komponisten nicht allzu ernst nehmen sollte.


    Viel Grüße

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  • Lieber Hami!

    Mit harmonisch meine ich nach heutigen Begriffen sonant. Es wird jedenfalls gesagt, dass Berufsmusikern zu viel dissonante Musik gesundheitlich abträglich sein kann.
    Wie oft das der Psyche des betreffenden Musikers zuzuschreiben ist oder der physikalischen Einwirkung der Musik, ist mir nicht bekannt, wäre aber wichtig zu wissen.


    Hm - was dissonant ist und was nicht, ist doch eine Frage der Sozialisation, oder? Wer in einem indischen Tonsystem mit einer 22fach geteilten Oktave aufgewachsen ist, wird ganz andere Dinge als dissonant empfinden als wir, oder?


    Du kommst mir jetzt mit Professor Moriarty. Dagegen kann man nichts sagen.


    Wer ist Prof. Moriarty?


    :hello:

  • Was dissonant bedeutet und welche Intervalle dissonant sind, ist jedenfalls nicht Thema dieses threads... Was Berufsmusiker krank macht, ist in erster Linie Stress, Lautstärke und einseitige Belastung bestimmter Muskeln und Gelenke. Aber auch das ist hier nicht das Thema!

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    (Bob Dylan)

  • Ich habe die Aufzeichnung mit Bernstein jetzt vor mir.



    Er spielte den Kindern den Galopp aus der Wilhelm Tell Ouvertüre vor und fragte:


    ´was glaubt ihr wovon diese Musik handelt´ ?



    Die Antwort war Reiter, Cowboys, Wilder Westen. (Interessant, nicht?)



    Bernstein: ´ich enttäusche euch ungern, aber darum geht es gar nicht. Es geht um Noten. Um es und fis.


    Was man euch auch über Musik erzählen mag, vergisst es, es geht nie um Geschichten.


    Weiter wörtlich:


    ´Music is never about anything. Music just is.


    Music is notes, beautiful notes and sounds, put together in such a way that we get pleasure …´



    Soviel Bernstein, wobei die Mischung von Noten und Klängen ja auch barer Unsinn ist.



    Das ist also die Ausgangslage.


    Grüße


  • ... was ist eine "korrekte Deutung"? Was wäre Dein Maßstab dafür?


    Das, was sich anhand des Titels, des Verweises auf die Literatur, die damals als bekannt verausgesetzt werden konnte, und dessen, was der Komponist dazu verlautet hat, herleiten lässt.
    :hello:

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  • Na, das ist ja doch eher peinlich, wenn Bernsteins These schon widerlegt wird, bevor er sie ausbreitet.
    :D

  • Hallo kurzstueckmeister,


    ich war undeutlich, das mit den Reitern und Cowboys kam von den Kindern. Das ´interessant, nicht?´ von mir.



    Viel Grüße

  • Don Quixote kommt meiner Erinnerung nach später in demselben Konzert.
    Der Geschwindmarsch aus Wilhelm Tell diente in den USA in den 1950ern als Titel/Begleitmusik zu einer Radio und/oder Fernsehserie aus dem Wilden Westen namens "The Lone Ranger". Die kennen die Kids Anfang der 1960er in dem Jugendkonzert natürlich alle, deswegen assoziieren sie Cowboys.


    Aber es ist wohl kaum ein Zufall, dass gerade diese Musik für die Wildwest-Serie genommen wurde und nicht "Träumerei" oder "Siegfrieds Tod"...

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
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    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • also ich nehme an, bernstein wollte die kinder in die richtung bewegen, nicht NUR assoziativ geschichten zu hören, sondern AUCH mal "absolut" und etwas genauer aufs rein musikalische. ob er das pädagogisch geschickt bewerkstelligt hat, will ich nicht beurteilen, ich habe da meine zweifel.

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