Ihr in Europa habt die Uhr - wir in Afrika haben die Zeit.
Das Bonmot ließe sich abwandeln zu: Ihr in Deutschland habt die Musik - wir in al Andalus haben den Gesang.
Savall ist, weit mehr als bloß ein Dirigent oder der Leiter eines spezialisierten Renaissance- und Barockensembles, ein Phänomen der Synergie. Er ist ein Crossover-Spezialist, der den iberischen Kulturraum als Wiege der abendländischen Musik inszeniert, ein Gechichtenerzähler und Archäologe des Klangs, und die Magie und Aura des längst Verflossenen schlägt bei ihm jederzeit um in eine Art von H.I.P.-Pop mit Rhythmen, deren sich die Ethno-Jazz-Crossoverprojekte z.B. beim label ECM nicht zu schämen bräuchten.
Die besondere Sogwirkung, die von Savalls Produktionen ausgeht, beruht nicht zum mindesten auf einem ungemein vielfarbigen und sinnlichen Klang, unter Einbezug sämtlicher Lauten- und Zupfinstrumente, deren man im Mittelmeerraum habhaft wird, archaischen Blasinstrumenten und delikatestem Schlagwerk.
Ein zweiter Ast der bezwingenden Musikalität Savalls ist die Spiritualität. Er gestaltet seine instrumentalen und vokalen Kosmen innerhalb ihrer religiösen Horizonte, was ihn seine Musik zuweilen mit einem zelebrierten Geläut wie einen Gottesdienst einsetzen läßt. Dem mediterranen Raum vaste extension entspricht daher im engeren Sinn der Kirchenraum mit seinen vielfältigen Hallmöglichkeiten und seiner individuellen Klanglichkeit. Die große Nähe des Weltlichen zum Extramundanen kommt immer wieder zur Darstellung, als Kontrast oder allmähliche Emanzipation der Musik aus ihrer liturguschen Bedingtheit.
Savall schlägt gewaltige Bögen durch Zeiten und Räume, er ist ein Botschafter kommunikativer Zusammenhänge, deren Verschüttung er freilegt. Zugleich ist er ein Ursprungsdenker, der den frühen Formen höfischer Unterhaltungsmusik ihre orientalischen Archetypen entgegenstellt und in der Liebespoesie der Trobaritz die arabischen Modelle mitvergegenwärtigt. Und seine Rettungsversuche an nie gedruckter oder kanonisierter Musik symbolisiert zugleich den humanen Einsatz für unterdrückte und vertriebene Kulturgruppen wie die Sepharden oder die Albigenser.
Jordi Savall, selbst ein meisterhafter Gambenspieler, hat, mit seinem Ensemble Hespèrion XXI und dem Chor La Capella Reial de Catalunya, den zahllosen Gastspielern aus Nordafrika und dem Nahen Osten, mit seiner Familie, allen voran seiner Ehefrau Montserrat Figueras, der viel zu früh Verstorbenen, und Arianna und Ferran Savall, den hochbegabten Kindern, ein kulturelles Werk geschaffen, dem man als staunender Hörer nur allerhöchsten Respekt, tiefe Dankbarkeit und liebevolle Teilnahme entgegenbringen kann.