HÄNDEL, Georg Friedrich: OCCASIONAL ORATORIO


  • Georg Friedrich Händel (1685-1759):


    THE OCCASIONAL ORATORIO
    (Das Gelegenheitsoratorium)


    Oratorium in drei Teilen für Soli (SATB), Chor (SATB) und Orchester, HWV 62
    Libretto von Hamilton Newburgh (?)


    Uraufführung am 14. Februar 1746 im Theatre Royal in Covent Garden.



    INHALT


    Part the first


    Nach der einleitenden Sinfonia, deren Grave-Teil mit anschließender Fuge der Ouvertüre zum Oratorium „Deborah“ in der Fassung von 1744 entstammt, und die mit einem Militärmarsch endet, übernimmt der Baß den kriegerischen Tonfall für das Arioso „Why do the gentiles tumult“ (Warum toben die Heiden). Daß sich die Völker gegen den Herrn und seinen Gesalbten verschworen haben, läßt den Chor zu Kampf und Sieg aufrufen.


    Da der Tenor Zweifel äußert, ob Gott hier helfen kann („O Lord, how many are my foes!“- O Herr, wie viele dringen auf mich ein) und deshalb Verzagtheit erkennen läßt, kehrt der Chor zu seinen Anfeuerungen zurück: „Him or his God we not fear!“ (Ihn oder seinen Gott fürchten wir nicht), denn „wir spotten der Furcht“.


    Der Herr im Himmel lacht und spottet über seine Feinde - der Baß meldet sich wieder zu Wort und verkündet: „For I, saith he, have annointed him my King“ (Ich selber, spricht er, habe meinen König bestellt). Es antwortet der Sopran zunächst mit sanften Klängen, übernimmt dann aber in der zweiten Arie den militärischen Ton für „Fly from the threat'ning vengeance, fly!“ (Entfliehe der drohenden Rache, fliehe!) - eine Entlehung aus „Samson“.


    Mit dem Accompagnato „Humbled with fear and awful reverence“ (Ergeben und voll Demut dienet dem Herrn) fordert der Baß gleichzeitig auch den Gehorsam und die Furcht vor dem Zorn Gottes ein. In der Arie „His sceptre is the rod of righteousness“ (Sein Zepter ist der Stab der Gerechtigkeit) kehrt nach langen Unisoni-Passagen von Gesangsstimme und Streichern die Harmonie zurück und Händel zeichnet bei der Erwähnung des „great Dragon“ recht anschaulich das „Ungeheuer“ instrumental nach.


    Eine friedliche Stimmung breitet sich kurzzeitig durch ein kleines Wunderwerk für den Sopran aus: „Be wise, be wise at length, ye kings averse“ (Wohlan, ihr Könige, kommt zur Einsicht), dessen Stimmungslage vom Chor zunächst übernommen wird, dann aber wieder in eine kriegerische Passage umschlägt, als von den Feinden, die einer „zerstreuten Schafherde“ gleich umherirren, die Rede ist. In der folgenden Tenor-Arie „Jehovah is my shield“ (Der Herr ist mein Schild) kommt das Gottvertrauen des gläubigen Menschen zum Ausdruck, wobei die Textzeile „I lay and slept“ (Ich legte mich zur Ruhe) von Händel in besonderer Weise musikalisch begleitet wird.


    Für den Schlußchor des ersten Teils, „God found them guilty“ (Gott sprach sie schuldig),
    entnahm Händel Material aus dem F-Dur-Konzert „a due cori“. Der Einsatz von Hörnern, die nur an dieser Stelle des Oratoriums gefordert werden, unterstreicht nicht nur das kriegerisch-martialische dieses Satzes, sondern vom Text her auch die Forderung nach dem vollkommenen Sieg über die Feinde.


    Part the second


    Am Beginn dieses Teils steht eine Folge von Sopran-Arien, darunter eine der berühmtesten aus Händels Feder: „O liberty, thou choicest treasure“ (O Freiheit, allerschönster Schatz). Ohne Freiheit, die ein Born der Freude ist, gibt es keinen Segen, ist das Leben nichts wert. Weiter versucht der Sopran in einem Rezitativ die Zweifelnden aufzurichten: „Who trusts in God“- Wer auf Gott vertraut, wird im Himmel gehört!


    Für die sehr lebendig auftrumpfende Arie „Prophetic visions strike my eye“ (Die Zukunft erscheint in meiner Sicht) zitiert Händel aus Thomas Arnes Oper „Alfred“ eine Phrase, die wir als „Rule Britannia“ kennen. Der anschließende Chor mit Solo „May God, from whom all mercies spring“ (Segne, o Gott, Schoß der Gnade) ist ein Zitat aus eigener „Werkstatt“: in dem Oratorium „Athalia“ wird der neugekrönte Joas sehr majestätisch mit „Around let acclamations ring“ begrüßt. Hier formt Händel auf einen Text, der um die Rettung des Königs und der Kirche bittet, einen spektakulären Satz mit achtstimmiger choraler Struktur und reichhaltiger Orchestrierung.


    Die große Lobpreisung Gottes, vorgetragen durch den Tenor, „Then will I Jehovah's praise“ stammt ebenso wie der anschließende Chorsatz „All his mercies shall endure“ (Seine Gnade soll bestehen) aus der Maske „Comus“. Das folgende Sopran-Solo “How great an many perils do enfold“ (Viele Gefahren bedrängen den Gerechten) und das bezaubernde Sopran-Alt-Duett „After long storms“ (Nach brausendem Sturm) hat Händel, nach einer Untersuchung von Robert King, den frühen italienischen Duetten entnommen.


    Ein wahres musikalisches Juwel ist das Baß-Solo „To God, our strength“ (Frohlockt dem Herrn): Die feierliche Einleitung präsentiert zunächst hohe Trompetenklänge über langsam dahingleitende Streicher, ehe plötzlich die Oboe in ein Duett mit der Trompete eintritt, und der Bassist endlich in das reichlich strömende musikalische Material einfällt. Man kann sich der großartigen Wirkung dieser Arie nicht entziehen; es ist eine jener Eingebungen Händels, die ihn unsterblich machen. Aber auch hier gilt: das Material ist gute dreißig Jahre alt und entstammt der Einleitung der Geburtstagsode für Queen Anne, „Eternal source of light“. Im B-Teil dieser Arie („Prepare the hymn“- Singt das Loblied) wird die musikalische Atmosphäre dichter, wirkt auf den Hörer wie eine Prozessionsmusik, ehe plötzlich die lutherische Choralmelodie „Ein feste Burg ist unser Gott“ aufklingt. Zunächst trägt der Bassist die Melodie vor, dann übernimmt sie der Chor und in einer grandiosen Steigerung fällt das volle Orchester mit Pauken und Trompeten ein.


    Die nächste Tenor-Arie „He has his mansion fix'd on high“ (Seine Wohnung errichtete er im Himmel) ist auch der Maske „Comus“ entnommen; sie fragt rhetorisch nach dem Schöpfer allen Lebens und alles dessen, was geschieht und leitet über zum ergreifenden choralen Schlußgesang des zweiten Teils „Hallelujah, your voices raise“ (Halleluja, erhebt eure Stimmen), in deren Mitte auf den Text „Jehovah, Lord of hosts“ Händel eine kunstvolle Fuge auftürmt und dabei gleichsam die Antwort auf die Frage des Tenors gegeben wird.


    Part the third


    Eine breit angelegte zweiteilige Sinfonia eröffnet den dritten Teil des Oratoriums. Der erste Abschnitt dieser Orchestereinleitung ist dem ersten Concerto grosso aus op.6 entnommen, der zweite dem 6. Concerto grosso.


    Der Chor „I will sing unto the Lord“ (Ich will singen dem Herrn) verkündet den Sieg des Herrn, der Roß und Reiter der Feinde ins Meer schleuderte. Er ist in Gänze aus „Israel in Egypt“ entlehnt, eine für Doppelchor komponierte hochdramatische Musik und somit eines der faszinierendsten Chorstücke Händels. Die Spartierung läßt den Eindruck aufkommen, daß die einzelnen musikalischen Themen von einer Stimme zur anderen geschleudert werden, ehe der geradezu aufsehenerregende Einsatz des Basses das Ganze zum Abschluß bringt.


    Die wundervolle Arie „Thou shalt bring them in“ (Bringt sie herbei) und der sich anschließende Chorsatz „Who ist like unto thee“ (Wer ist wie du, o Herr), beide ebenfalls aus „Israel in Egypt“ entlehnt, zeigen in eindrucksvoller Weise den Dramatiker Händel: Der Chor hebt nach der Arie, sensationell mit sechzehn Stimmen spartiert, an, und leitet zu einem der gewaltigsten Chorgesänge aus Händels Feder über: „He gave the Egyptians storms for rain“ (Er gab ihnen Hagel statt Regen). Die grandiose Wirkung wird durch den orchestralen Part erreicht, der in den Einsatz zweier konträrer Chöre hineinragt und beide Chorteile wild antreibt.


    Danach wird es durch Sologesänge wieder etwas ruhiger. Der Sopran beruhigt die Menschen, denn „Be calm, and Heaven will soon dispose to future good our present woes“ (Sei ruhig, der Himmel wird bald das heutige Böse in das Gute von morgen verwandeln). Der Tenor darf in seiner Arie nochmals vokal brillieren: „The enemy said: I will pursure, I will overtake, I will divide the spoil“ (Der Feind sprach: Ich werde verfolgen, ich werde stürmen, ich werde die Beute zerteilen). Der Baß antwortet mit einem ebenso stürmischen Satz: Er will mit „gezogenem Schwert“ das Land und „das Gesetz“ verteidigen: „The sword that's drawn“ - Händel läßt diese Arie in den beschwingten Chorsatz „Millions unborn shall bless the hand“ (Millionen Ungeborene sollen die Hand segnen) einmünden.


    Sopran und Tenor erinnern in ihren anschließenden Arien an die Knechtschaft Israels in Ägypten, wo sie von Tyrannen versklavt wurden und das Land für die Fürsten fruchtbar machen mußten, wobei die „Tränen die Flüsse“ Ägyptens anschwellen ließ. Danach fleht der Sopran, daß „balmy peace“ (lieblicher Friede) und Ruhm auf Englands Helden hernieder kommen möge - die Musik zu dieser Arie entnahm Händel abermals der Maske „Comus“.


    Nun ist es dem Chor vorbehalten, den Schlußpunkt mit „Blessed are all they that fear the Lord“ (Glücklich diejenigen, die den Herrn fürchten) zu setzen. Und Händel wählte, ganz sicher mit Bedacht, die Musik der Krönungshymne „Zadok the Priest“ (dabei den Mittelteil des Orginals auslassend) für diesen Schlußchor aus - wissend, womit man englische Herzen rühren kann.



    INFORMATIONEN ZUM WERK


    Nachdem er einer Probe von Händels neuem Oratorium beigewohnt hatte, schrieb ein gewisser William Harris an einen Bekannten: „Gestern früh war ich in Händels Haus, um der Probe dieses neuen Gelegenheitsoratoriums beizuwohnen. Es macht ihm große Ehre. (…) Er hat nur drei Gesangsstimmen für seine Lieder. (…) Seine Kapelle von Musikern ist nicht besonders bemerkenswert (…) Der Text ist biblisch (...)“


    Ganz anderer Meinung war Charles Jennens: „Das Oratorium, wie Sie es nennen, erweckte (…) nicht die geringste Leidenschaft in mir, es zu hören. Ich habe Unsinn und Frechheit satt und von dem Bericht, den mir Lord Guernsey davon gab, habe ich nichts anderes davon zu erwarten. Es ist ein Triumph über einen Sieg, der noch nicht errungen wurde. Und wenn der Herzog [von Cumberland] sich nicht beeilt, wird er bis zum Zeitpunkt der Aufführung auch noch nicht errungen worden sein. Es ist ein unvorstellbarer Mischmasch von Milton & Spencer (…)“


    Jennens Tirade kann man als Ausdruck beruflicher Eifersucht werten. Vielleicht fühlte er sich ja von Händel als Librettist übergangen. Konsequenterweise blieb er jedoch bei seiner einmal eingenommenen Haltung, keine Aufführung des Oratoriums zu besuchen. Doch selbst wenn wir seine kritischen Bemerkungen zum Libretto hinnehmen, sollten sie nicht dazu verleiten, das Oratorium in seiner Wirkung zu unterschätzen. Allerdings muß man sich von der Vorstellung frei machen, ein glutvoll-opernhaftes Drama zu hören - Händel bietet eine Reihe dramatischer Tableaux in einem sonst eher kontemplativ gestalteten Werk.


    Wer der für Händel tätige Librettist war, steht auch heute noch nicht mit letzter Sicherheit fest. Eine lange Zeit wurde an Thomas Morell gedacht, der zur gleichen Zeit am Text für „Judas Maccabaeus“ arbeitete. In einer Fußnote zur Arie „O liberty, thou choicest treasure“ in der ersten Ausgabe des „Judas“ heißt es nämlich, daß sie zwar für „dieses Oratorium entworfen“, dann jedoch aus unbekannten Gründen im OCCASIONAL ORATORIO landete, wo „sie unvergleichlich gesetzt und kunstvoll ausgeführt“ wurde. Heute denken Forscher aus stilistischen Gründen eher an Hamilton Newburgh als Librettisten und gehen davon aus, daß Händel selbst die Arie aus „Judas“ in das OCCASIONAL ORATORIO einfügte. An seinen originalen Platz kehrte „O liberty“ interessanterweise erst für die dritte Aufführung des „Judas“ zurück.


    Das OCCASIONAL ORATORIO ist von Händels englischen Oratorien das am seltensten aufgeführte Werk: 1746/47 wurde es nur sechsmal gegeben, dann nie wieder. Eine Erklärung ist sicherlich, daß es nie als Klavierauszug erschien, wodurch eine weitere Verbreitung bereits unterbunden war. Wichtiger aber ist vielleicht, daß die Entstehung mit einem aktuellen politischen Ereignis verknüpft war, nämlich der Bedrohung Englands durch den Angriff von Truppen eines fast vergessenen Thronprätendenten aus dem Hause Stuart, Prinz Charles Edward. Der war 1745 mit einem Heer in Schottland gelandet und zog langsam, aber doch stetig, nach Süden.


    Händel, der seit einiger Zeit eine königliche Pension bezog, wird sich verpflichtet gefühlt haben, ein Werk zur Hebung der Moral beizusteuern. Man darf ihm durchaus unterstellen, die aktuelle politische Lage richtig eingeschätzt zu haben: wäre der nunmehr zweite Jakobitenaufstand erfolgreich verlaufen, wäre er kein lokales britisches Ereignis geblieben, sondern hätte durchaus europäische Dimensionen angenommen mit unvorhersehbaren Konsequenzen.


    Die Uraufführung am 14. Februar 1746 nimmt in prophetischer Form den Sieg des Herzogs von Cumberland, der die Aufständischen aber erst im April in der Schlacht von Culloden besiegte und damit den Fortbestand des Hauses Hannover sicherte, vorweg. Es wurde am 19. und 26. Februar wiederholt und danach im März des folgenden Jahres nach kleineren Revisionen nochmals gespielt. Dann aber trat ein Oratorium seinen Siegeszug an, das damit dem OCCASIONAL ORATORIO endgültig den Rang ablief: „Judas Maccabaeus“.


    Wenn in dem weiter oben zitierten Brief von Mr. Harris von drei Solisten die Rede ist (üblicherweise Sopran, Tenor und Baß) muß man für das Duett „After long streams“ im zweiten Akt noch die Anwesenheit eines weiteren (ungenannten) Solisten unterstellen, wobei allerdings auch an ein versiertes Chormitglied gedacht werden kann. Robert King hat für seine bei Hyperion erschienene Aufnahme des OCCASIONAL ORATORIO als vierten Solisten einen Altus eingesetzt, der nicht nur in jenem Duett mitwirkt, sondern auch bei zwei der von Händel besonders tief gesetzten Sopran-Arien zum Einsatz kommt.


    Der Tamino-Werbepartner jpc bietet Händels Oratorium in der folgenden Hyperion-Aufnahme an:



    © Manfred Rückert für Tamino.Oratorienführer 2012
    unter Hinzuziehung der Textbeilage der bei Hyperion erschienenen Aufnahme

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    MUSIKWANDERER

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