HÄNDEL, Georg Friedrich: ISRAEL IN EGYPT


  • Georg Friedrich Händel (1685-1759):


    ISRAEL IN EGYPT
    Oratorium in zwei Teilen für Soli (SSATBB), Chor (SSAATTBB) und Orchester, HWV 54
    Textzusammenstellung wahrscheinlich von Händel


    Uraufführung am 4. April 1739 im King's Theatre am Haymarket, London



    INHALTSANGABE


    Erster Teil: Exodus


    Nach einem kurzen Tenor-Rezitativ, das von einem neuen ägyptischen König berichtet, der über das Volk Israel Fronvögte zur Unterdrückung einsetzte, schildert der erste grandiose Chorsatz mit seinen schweren und gleichförmigen Bässen das Leiden des Volkes Israel - ein in Tönen gezeichnetes Bild von Hoffnungslosigkeit. Der Tenor weiß aber, daß Gott das Rufen seines Volkes erhörte und ihnen Moses und Aaron als Retter sandte.


    Dann beginnt unmittelbar in düsterer und tragischer Grundstimmung die Erzählung der sieben Plagen, die Jahwe über Ägypten kommen ließ und Händel versteht es meisterhaft, diese Plagen tonmalerisch zu zeichnen:


    die Verseuchung des Flußwassers mit Blut in einer großartigen g-Moll-Chorfuge -


    die Froschplage, von der uns der Solo-Alt berichtet, und die Krankheiten, die von den Amphibien ausgehen, werden durch hüpfende Figuren in den Violinen gemalt -


    „Und es kam der Fliegen Gewühl“ wird durch einen Doppelchor deklamiert, wobei die Zeiunddreißgstelläufe in den Violinen eindeutig das Schwirren der Insektenflügel ausdrücken, die gefräßigen Heuschrecken, die alle Früchte des Landes vernichten, werden anschaulich durch sprunghafte Bewegungen in den Bässen dargestellt -


    von Hagel und Feuersturm berichtet der anschließende Chorsatz und Händel malt das Geschehen durch entsprechende Figuren in den Violinen, die an Regenschauer erinnern, während Donner und Blitz durch kontrapunktische Finessen ausgedrückt werden -


    ein merkwürdig geformter Chorsatz, der von der Tonika C immer wieder in B-Tonarten wechselt und am Ende nach einer überraschenden Modulation bei E-Dur landet, erzählt von der Finsternis, die sich über das Land ausbreitet -


    „Er schlug die Erstgeburt Ägyptens“ ist ein staccatohaft vorwärts drängender a-Moll-Chor, den das Orchester mit repetierenden Akkordschlägen wie drohend begleitet.


    Nach diesen Schreckensschilderungen schlägt Händel einen ruhigeren Ton an, denn das Gottesvolk darf Ägypten unter Moses' Führung verlassen, aber der tatsächliche Führer ist Jehovah, der seine Herde wie ein Hirte heimwärts in das gelobte Land führt. Und sogar die Ägypter können dem Exodus nur Freude abgewinnen.


    Dann aber - so wissen wir - verstockte das Herz des Pharao und er setzte mit seinem Heer den Davonziehenden nach. Und mit einem zunächst nur aus acht Takten bestehenden Chor schildert Händel, wie Gott das Meer teilt, damit Israel trockenen Fußes durch den Meeresgrund dem Feind entkommen kann, ehe eine achtstimmige Fuge den Untergang der Soldaten in den zusammenstürzenden Fluten des Meeres den Chorsatz dramatisch beschließt.


    Mit einem mehrteilig-feierlichen Chor, den Händel zunächst wie eine Hymne gestaltet, der dann jedoch in einen strengen Schlußteil mündet, schließt der erste Teil des Oratoriums: das gerettete Volk erkennt nicht nur Jahwes Allmacht, sondern es erschauert auch in Furcht vor dieser Allmacht. Aber es sieht Moses als Diener des Allmächtigen, der sie in die Freiheit geführt hat.


    Zweiter Teil: Moses Gesang


    Der zweite Teil beginnt mit einem achtstimmigen Chorsatz, der zunächst das Diktum klar herausstellt: „Moses und die Kinder Israels singen also zum Herrn“. Darauf weitet sich der Satz zu einem kontrastreichen Lob- und Dankgebet mit einem jubelnd-ekstatischen Schluß aus: „Er hat geholfen wunderbar und Roß und Reiter gestürzt in das Meer“.


    Zwei Solo-Soprane bekennen intermezzoartig, daß sie Jehovah als Erlöser und Befreier aus der Knechtschaft lobpreisen, worauf das Volk in einer Doppelfuge im strengen Stil diesen Gedanken bestätigt: „Er ist mein Gott (…) ich will ihn preisen“.


    Danach führen zwei Solo-Bässe in einem breit angelegten Duett das Dank- und Preislied mit der Erinnerung an den Untergang des ägyptischen Heeres fort. Das Volk denkt in einem vierteiligen Chor-Komplex an die Schrecken der Verfolgung und die wunderbare Rettung zurück.


    Danach folgt sofort wieder ein jubelnder Doppelchor in freiem Fugato, der die Wunder des Herrn preist, ehe plötzlich, nach einem kurzen Adagio-Zwischenspiel, zu den Worten „Du sandtest deinen Grimm, der sie verzehrte wie Stoppeln“ eine herbe Wendung nach Moll den Chorsatz enden läßt.


    Naturalistisch zeichnet Händel im nächsten Chor durch wogende Terzen in den Violinen nochmals die Teilung des Meeres nach. Zwei Arien (für Tenor und Sopran) unterbrechen die Chorgesänge: der Tenor erinnert an den rachelüsternen Pharao, der seine Soldaten den Juden nachschickte und die dann, wie es der Sopran zu berichteen weiß, durch „Gottes Hauch“ in den zusammenstürzenden Fluten umkamen. Der anschließende zweiteilige Chor „Wer vergleicht sich Dir“ ist eine Variante des Chores „Er ist mein Gott“ (Nr. 3 des zweiten Teils).


    Nach dem Sopran-Tenor-Duett, in dem von der Heimführung in die heilige Wohnung des Herrn gesungen wird, wird ein neuer chorischer Höhepunkt erreicht: Zu pochenden und punktierten Rhythmen gestaltet Händel einen achtstimmigen Chor, der das Staunen und die Angst der Feinde Israels mit affektgeladenen Themen ausdrückt - ein großartiges Tongemälde aus Händels Feder!


    Nach diesem Ausbruch wirkt eine kontemplative Alt-Arie beruhigend auf den Hörer. Der von zwei kurzen Tenor-Rezitativen unterbrochene Lobgesang „Der Herr regiert auf immer und ewig“, von Pauken und Trompeten grundiert, kennzeichnet den Beginn des chorischen Schlußgesangs. Den führt allerdings zunächst die jüdische Seherin Mirjam mit den Worten „Singet dem Herrn, denn er siegte wunderbar“ an, wobei sie die Thematik aus dem „Introitus“-Chor Nr. 14 am Beginn des zweiten Teils aufnimmt, an den Chor weitergibt und damit das Oratorium zu einem zyklisch zu nennenden Abschluß bringt.



    INFORMATIONEN ZUM WERK


    Händels Oratorium ISRAEL IN EGYPT war seinerzeit ein Flop. Was seinen Nachruhm begründete, galt zu des Komponisten Lebzeiten als Mißerfolg: zu wenige Arien, dafür aber ein Übergewicht groß angelegter Chöre. Das war einem Publikum, das noch immer farbige und virtuose Arien-Dramatik bevorzugte, mehr als befremdlich.


    Die Entstehungsgeschichte des Oratoriums ist merkwürdig: Das Werk hatte zunächst drei Teile, wobei der letzte Teil, den Händel „Moses Song“ nannte, zuerst komponiert wurde. Als Textgrundlage diente der Lobgesang der Israeliten am Roten Meer, wie er im 2. Buch Mose geschildert wird. Danach entstand der zweite Teil, den der Komponist mit „Exodus“ überschrieb, dessen Textauswahl etwas komplizierter darzustellen ist. Die ausgewählten Psalmen 78, 105 und 106 sind nämlich wechselweise der Bibel und der anglikanischen Gebetbuch-Version der Psalmen entnommen und mit Sätzen aus dem Buch „Exodus“ der Bibel kombiniert worden. Die Musik für Teil I, den Händel selber mit „Lamentation of the Israelites for the death of Joseph“ überschrieb, wurde aus dem „Funeral Anthem“ für Königin Caroline extrahiert, das er zwei Jahre zuvor geschrieben hatte. Für die neue Aufgabe mußte nur wenig geändert werden, auf jeden Fall aber fügte Händel eine einleitende Sinfonia hinzu.


    Doch bereits für die Drucklegung der Partitur wurde dieser erste Teil wieder eliminiert, so daß aus ISRAEL IN EGYPT jetzt ein zweiteiliges Oratorium geworden war, noch dazu ohne eigenständige Ouverture. In dieser Form wird es auch heute zumeist aufgeführt und hier auch so beschrieben. Die Partitur ist mit Doppelchor und einem Orchester aus Trompeten, Posaunen, Pauken, Holzbläsern sowie Streichern mit Continuo recht farbig besetzt.


    Die erste vollständige Aufführung von ISRAEL IN EGYPT fand am 4. April 1739 im King’s Theatre am Londoner Haymarket statt. Die schwache Aufnahme des Werkes muß Händel klargemacht haben, daß er die Situation falsch eingeschätzt hatte. Für die nächsten Aufführungen straffte er die Chöre und fügte vier Arien für die damals sehr populäre Sopranistin Francesina hinzu. Doch auch dieser opportunistische Trick half nicht. Sieht man von einer Darbietung im Jahre 1740 ab, wurde das Oratorium erst 1756 wiederbelebt. Dazu wurde eine gekürzte Fassung von „Salomo“ mit Material aus dem „Occasional Oratorio“ und dem „Peace Anthem“ an den Anfang gestellt. Auch in den Teilen II und III wurden Änderungen vorgenommen.


    Trotz aller Mängel ist ISRAEL IN EGYPT in mehrfacher Hinsicht verblüffend: keines der Oratorien Händels ist, wie schon weiter oben erwähnt, so klar als Chorwerk konzipiert worden. Neu war zum damaligen Zeitpunkt auch die Verwendung biblischer Texte auf dem Theater (wenngleich ISRAEL IN EGYPT nicht szenisch gegeben wurde), was beim puritanisch gesinnten Londoner Publikum den Mißerfolg begünstigt haben könnte. Und keineswegs ungewöhnlich, weil zu seiner Zeit durchaus üblich, war Händels Arbeitsweise, fremdes Material zu verarbeiten - soll nach heutigen Vorstellungen heißen: geistigen Diebstahl zu begehen. ISRAEL IN EGYPT ist sogar ein extremes Beispiel für dieses Vorgehen. Litt Händel an so großer Ideenarmut, daß er nicht nur Anleihen, sondern ganze Sätze aus eigenen Werken und denen anderer Komponisten nahm?


    Die Komponisten, aus deren Werken er sich bediente, waren Jean-Philippe Rameau (aus „Hippolyte et Aricie“), Nicolaus Adam Strungk (Capriccio sopra „Ich danke dir schon“), Johann Kaspar Kerll (Canzona 4 aus „Modulatio organica super Magnificat“), Francesco Antonio Urio („Te Deum“) und Friedrich Wilhelm Zachow (Kantate „Triumph, Viktoria“). An erster Stelle steht jedoch Dionigi Erba, dessen „Magnificat“-Musik fast vollständig in ISRAEL IN EGYPT aufging, unmittelbar gefolgt von Musik aus Alessandro Stradellas Serenata „Qual prodigio è ch'io sento“.


    Für die Rezeptionsgeschichte von ISRAEL IN EGYPT in Deutschland muß vor allen Dingen ein Name genannt werden, der schon bei der Wiederentdeckung von Johann Sebastian Bach eine wichtige Rolle spielte: Felix Mendelssohn Bartholdy. Der hatte in London das Notenmaterial entdeckt, war begeistert und schuf eine Bearbeitung, die er am 26. Mai 1833 beim Niederrheinischen Musikfest in Düsseldorf (und drei Jahre später auch in Leipzig) zur Aufführung brachte.


    © Manfred Rückert für Tamino-Oratorienführer 2012
    unter Hinzuziehung folgender Quellen:
    Hallische Händel-Ausgabe Serie I, Band 14.1 (Bärenreiter-Verlag)
    Harenberg Chormusikführer
    Basil Lam über ISRAEL IN EGYPT

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    MUSIKWANDERER

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  • Die Angebote beim Werbepartner jpc beweisen, dass ISRAEL IN EGYPT heute, im Gegensatz zu Händels Lebzeiten, ein durchaus beliebtes Oratorium ist:



    in dieser Virgin-Aufnahme singen und spielen Argenta, Evera, Wilson, Rolfe Johnson, Thomas; Taverner Choir and Players, unter der Leitung von Andrew Parrott -


    mit Doyle, Grimson, Blaze, Oxley; Arsys Bourgogne, Concerto Köln, Leitung Pierre Cao -


    (zusätzlich wurden eingespielt „Zadok the Priest“ und „The King shall rejoice“) mit Holton, Priday, Deam, Chance, Kenny; Monteverdi Choir, English Baroque Soloists, Leitung John Eliot Gardiner -


    (hier in der drieteiligen Version) mit Joshua, Suzuki, van Rensburg, Pauly; Chor des Bayerischen Rundfunks, Concerto Köln, Leitung Peter Dijkstra -


    mit Cornelius, Bourve, Mead, Berchtold, Sander, Kares; Chamber Choir of Europe, Orchester der Deutschen Händel-Solisten, Leitung Anthony Bramall -


    (ebenfalls in der dreiteiligen Fassung) mit Bourve, Winter, Wey, Kobow, Wolff, Flaig; Vocalensemble Rastatt, Les Favorites, Leitung Holger Speck -


    mit Stille, Bruun, Jensen, Hal, Lawaetz; Akademisk Orchestra, Akademisk Kor, Leitung Morten Topp -


    Fassung von Felix Mendelssohn Bartholdy) mit Frimmer, Winter, Grötzinger, Mammel, Abele, Finke; Rheinische Kantorei, Das Kleine Konzert, Leitung Hermann Max -


    John Eliot Gardiner dirigiert 4 Händel-Oratorien -


    mit Albino, Brown, Enns Modolo, Mahon, McLeod, Nedecky; Aradia Ensemble, Leitung Kevin Mallon -


    mit Allan, Wegener, Allsopp, Hulett, Balbach, Raschinsky; Maulbronner Kammerchor, Hannoversche Hofkapelle, Leitung Jürgen Budday -


    mit Jenkin, Dunkley, Trevor, MacKenzie, Evans; The Sixteen, The Symphony of Harmony and Invention, Leitung Harry Christophers

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    MUSIKWANDERER

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  • Parrotts Aufnahme hat auch die dreiteilige Urfassung. Die Musik des ersten Teils ist zwar auch "geklaut", aber immerhin von Händel selbst. Es müssen aber die meisten der verarbeiteten Vorlagen ziemlich stark bearbeitet worden sein. Eine Serenata von Stradella war kein Chorwerk. Das Stück von Erba sollte einen interessieren, aber ich finde nichts zu dem Komponisten. Solche Anleihen waren damals nicht selten. Seltsam ist in diesem Falle aber schon, dass einem die Chöre doch durchgehend wie "typischer" Händel vorkommen.
    Und interessant, dass dem Publikum das Stück nicht zusagte und es bei Wiederaufführungen mit zusätzlichen Arien gegeben wurde, während man 20-30 Jahre nach Händels Tod besonders die Chöre bewunderte.


    Ich habe drei Aufnahmen, von denen ich keine ideal finde. Parrott ist jedenfalls lohnend wg. der Fassung und auch ziemlich gut, die Solisten nicht alle ideal. Für den Preis als Einstieg in jedem Falle geeignet. Die dramatischen Chöre kommen angemessen dramatisch, bei den Arien lässt er oft etwas nach. "The lord is a man of war" zu schwächlich.
    Meine erste Einspielung war die unter Mackerras (moderne Instrumente zweiteilig mit der Ouverture zu Solomon), dessen Solisten sind teils besser als Parrotts, aber der Chor riesig und etwas verwaschen. ("The lord is a man of war" auch nicht viel besser, zumal mir einer der Bässe nicht besonders zusagt.)



    Dann noch Gardiner/Philips (zweiteilige Fassung). Der beste Chor, aber die schlechtesten, oft ganz unzureichende Solisten (aus dem Chor rekrutiert. Es ist dieselbe Aufnahme wie oben gezeigt (identisch mit der in der bläulichen Box), meine hat das Philips Duo Cover. Es gibt noch eine ältere Erato-Einspielung unter Gardiner, die kenne ich nicht.



    PS: Das Magnificat Erbas als Quelle ist tatsächlich als Supplement der Chrysanderschen Händel-Ausgabe angefügt (Händel-Gesellschaft, Leipzig 1888) . Das Werk wird auf ca. 1690 datiert, war also, als Händel sich daraus bediente, schon beinahe 50 Jahre alt. Eine Einspielung scheint es aber nicht zu geben.


    "http://petrucci.mus.auth.gr/imglnks/usimg/7/7b/IMSLP19089-PMLP44880-HG_Band_Supplement_1.pdf"

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • Manchmal sieht der Mensch den Wald vor lauter Bäumen nicht. Soll in diesem Fall heißen: die von Johannes eingestellte Archiv-Produktion vom Leeds Triennial Musical Festival 1970 unter der Leitung von Mackerras steht auch in meinem Regal. Warum ich daran nicht gedacht habe, kann ich nicht erklären. Ich habe sie jetzt mal wieder hervorgeholt...


    Liebe Grüße vom

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    MUSIKWANDERER