Liedgesang der Gegenwart - gemessen am Standard von Dietrich Fischer Dieskau

  • Liebe Forianer


    Das Ableben von Dietrich Fischer Dieskau hat uns vor Augen geführt, wie zeitlich beschränkt auch die grösste Karriere ist.
    Und wenngleich Fischer-Dieskau schon seit jahren nicht mehr aktiv als Sänger agiert - so war er doch da.
    Er konnte unterrichten und Interviews geben, andere Stimmen bewerten etc.
    Nun bleiben uns nur noch seine Aufnahmen......


    Vielelicht ist es grade die richtige Zeit ein wenig in die Vergangenheit zu blicken - und auch die Gegenwart in Hinsicht auf den Liedgesang kritisch unter die Lupe zu nehmen. Vor Fischer Dieskau, gab es vor allem Hans Hotter der eine ganze Genertion Prägte, vielleicht noch Karl Erb, Peter Anders uns Heinrich Schlußnus. Ich kenne deren Aufnahmen - aber wie ihr absoluter Stellenwert zu ihren Lebzeiten gesehen wurde, daß weiß ich in letzter Konsequenz nicht.


    Franz Schubert: Liedinterpreten von vorgestern
    Liedinterpreten vor Fischer Dieskau
    Interpretationen des Schubertlieds im Wandel der Zeit


    Interessant ist auch eine Bestandaufnahme der gegenwärtigen Gesangsszene. Ich meine, sie ist recht bunt, es stehen uns etliche gute Liedinterpreten (und mein Focus liegt bei Schubert) zur Verfügung. Aber - so möchte ich einschränkend bemerken - Dietrich Fischer Dieskau kann keiner das Wasser reichen - und ich beziehe mich hierbei nicht nur auf das Stimmfach Bariton. Das war eins ganz anders. Lange Jahre gab es zwei Schubertsänger, welche vom Publikum als annähernd gleichwertig empfunden wurden - Dietrich Fischer Dieskau und Hermann Prey. Dazu kommt noch Fritz Wunderlich, der uns immerhin zwei Aufnahmen der "schönen Müllerin " hinterlassen hat, so wie einige Einzelveröffentlichungen von Liedern.


    Ist meine Betrachtung eine rein nostalgische - oder ist es in der Tat so, daß diese Ausnahmeerscheinungen derart herausragend waren, wie einst Caruso oder die Callas im Bereich der Oper ? - immer wieder als Referenz herangezogen - aber nie erreicht......


    mit freundlichen Grüssen aus Wien
    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Der Liedgesang der Gegenwart ist meinem Eindruck nach sehr stark geprägt durch Fischer-Dieskau als Lehrer oder als Vorbild, ein Zurück zu "bardenhaften", opernnahen oder eher unreflektiert-spontanen Lied-Interpretationen wird es wohl nicht geben. (Auch vom Typus her scheinen die jüngeren Sänger Intellektuelle, viel eher Fi-Di als Wunderlich, Prey oder gar Schock.) Aber es herrscht mehr Vielfalt, weniger Übertreibung des "intellektuellen" Ansatzes und einige Sänger mit schöneren Stimmen als Fi-Dis nach ca. 1965.
    Bei allem Respekt und dem kaum zu unterschätzenden Rang und Einfluss Fi-Dis im Liedgesang; zumindest was die üblichen Tondokumente vom Ende der 1950er bis Ende der 1970er betrifft, herrschte praktisch eine Monokultur.

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • Zitat

    Zit. Johannes Roehl: "Der Liedgesang der Gegenwart ist meinem Eindruck nach sehr stark geprägt durch Fischer-Dieskau als Lehrer oder als Vorbild, ein Zurück zu "bardenhaften", opernnahen oder eher unreflektiert-spontanen Lied-Interpretationen wird es wohl nicht geben."


    So ist es. Und das ist hier im Forum schon in vielfältiger Weise nachgewiesen. Die moderne Liedinterpretation - etwa durch Prégardien, Goerne oder Gerhaher, um nur drei Namen zu nennen - steht in der Nachfolge der Lied-Interpretationskultur, die durch Fischer-Dieskau im wahrsten Sinne des Wortes gegründet wurde.


    Das, was sich in der Zeit vor Fischer-Dieskau liedinterpretatorisch ereignete, ist eine andere, eine vergangene Welt. Man kann sie vermissen. Wiederkommen wird sie nicht mehr. Auch in Sachen Liedinterpretation bewegt sich die Welt weiter. Und das ist gut so. Die "Initialzündung" - um es mal ein wenig salopp zu formulieren - kam von Dietrich Fischer-Dieskau.


    Darin besteht - unter anderem - sein historisches Verdienst.

  • Natürlich kann das liedinterpretatorische Schaffen von Ks. Prof. Dr. h. c. mult. Dietrich Fischer-Dieskau gar nicht überschätzt werden.


    Rein quantitativ hat er wohl so ziemlich alles erschlossen, was seiner Stimme und seinem Geschlecht erreichbar war („Frauenliebe und –leben“ sang er nicht, ebensowenig einige klar weibliche Schubert-Lieder). Das ist ein großes und kaum überbietbares Verdienst.


    Doch dies alleine würde seinen Ruhm nicht erklären; man bedenke, dass es Pianisten und Streichquartett-Ensembles gibt, die vergleichbar enzyklopädisch angelegte Diskografien vorweisen können, ohne auch nur entfernt an die Berühmtheit Fischer-Dieskaus heranzureichen.


    Noch höher als die schiere Quantität ist darum das qualitative Element zu werten. Selbst die vielkritisierten späten Aufnahmen der immer selben Werke boten dem aufgeschlossenen Hörer immer noch eine Fülle vorher unerhörter Details und Schattierungen, die diese CDs zu mehr als nur einem interessanten Diskussionsbeitrag machten.


    Bereits hingewiesen wurde darauf, dass mit Dietrich Fischer-Dieskau eine neue Kultur der Programmgestaltung von Liederabenden begonnen hat. Anstelle einen nur vordergründig publikumsfreundlichen „best of“-Blumenstrauß zu binden, setzte Fischer-Dieskau auf zyklische und/oder inhaltliche Zusammenhänge. Er testete auch diesbezüglich fragwürdige Zyklen wie den „Schwanengesang“ oder die „Kerner-Lieder“ auf ihre programmdramaturgische Tauglichkeit – mit Erfolg! – und stellte bei nichtzyklisch angelegten Programmen oft überraschende und erhellende Zusammenhänge her. Spätere Liedsängerinnen und Liedsänger werden andere intelligente Lösungen suchen und finden, doch hinter diesen Standard der Konzertgestaltung wird man kaum zurückgehen wollen.


    Der andere Standard, den Dietrich Fischer-Dieskau gesetzt hat, ist der, dass er das Wort an den Beginn seiner interpretatorischen Erwägungen und Entscheidungen setzte. Er verstand die Textvorlage nicht als Vehikel für gefällige Melodien oder als Einsatzgeber für dramaturgische Kontraste, sondern nahm die zugrunde liegende Dichtung ernst, wie sie wohl auch viele Komponisten ernst genommen haben. (Wir wollen nicht verallgemeinern.)


    Es wäre erheblich zu kurz gegriffen, wenn man seinen kopflastigen Interpretationsstil als Notlösung betrachten würde, die lediglich mangelnden betörenden Qualitäten seiner Stimme geschuldet sei. Und doch: Selbst gestandene Experten der vokalen Künste wie John Steane geben offen zu, dass sie, wenn sie nicht aus beruflichen Gründen, sondern zum eigenen Vergnügen eine Gesangs-CD aus dem Regal holen, die Wahl so gut wie nie auf Dietrich Fischer-Dieskau fällt. Und Jürgen Kesting lässt mit Andrew Potter einen Bewunderer Fischer-Dieskaus zu Wort kommen: „Wie kommt es nur, dass einen das, was in jedem Betracht und nach allen denkbaren Maßstäben als nahezu perfekt bezeichnet werden muss, in Bewunderung versetzt, aber ungerührt lässt? Fehlt da etwas, was Gérard Souzay oder Peter Pears dem Zyklus geben konnten? Ich lasse das als Fragen offen … Beim detaillierten Lied-zu-Lied-Vergleich mit anderen Interpreten zeigt sich, dass Mr. Fischer-Dieskaus Einsicht in das Werk durchweg tiefer ist als bei allen anderen Interpreten, und seine klanglichen Mittel und Reserven sind durchweg größer … Doch am Ende hatte ich kaum das Gefühl, dass ich mit dem Dichter und dem Musiker jene Winterreise gemacht hatte; vielmehr hatte ich Hunderte von Details einer exquisiten Aufführung wahrgenommen …“


    Mir fällt ein früher gehörtes Bonmot ein: Bei Fischer-Dieskau hört man nicht das Lied, sondern einen Vortrag darüber, wie das Lied zu singen sei. Da ist schon etwas dran. Fischer-Dieskau nimmt den Hörer an der Hand und entfaltet vor dessen staunenden Augen die Architektur des Liedes und argumentiert mit Dutzenden Details die Kongruenz von Wort und Ton. Man versteht, „wie es gemacht ist“, man hat nach dem Hören etwas über das Lied gelernt. Doch es bleibt oft beim Lernen und beim Staunen über die Baupläne und die Architektur – man beginnt nicht, in dem Lied zu wohnen, wie dies sonst schon mit den ersten Tönen passieren mag.


    Das Pendel der Liedinterpretation hat mit Dietrich Fischer-Dieskau weit in die kopflastige, in die intellektuelle Richtung ausgeschlagen. Dies war in der Rückschau vielleicht sogar historisch notwendig. Doch werden andere Interpreten kaum diesen Stil mit derselben Einseitigkeit weiter pflegen können. Zum einen wäre Fischer-Dieskau als übermächtiger Schatten stets präsent. Zum anderen braucht das Lied vielleicht auch wieder die Sinnlichkeit, das Betören, den Wohlklang. Es muss ein Weg hinausführen aus der Ecke der kopfgesteuerten Analytik, aus dem intellektuellen Elfenbeimturm, hin zu einem ganzheitlichen Zugang auf Wort und Musik.


    Nach 1945 herrschte ein anderes geistiges Klima. Große Gefühle und Pathos galten als suspekt. Der intellektuelle Zugriff auf Musik – sei es in der Neuen Musik, sei es in der Interpretation – war angesagt. Es war die Zeit der Entdeckung der Zweiten Wiener Schule, es war die Zeit von Boulez und Stockhausen. Interpreten wie Friedrich Gulda und Glenn Gould kamen hinzu, auch Alfred Brendel und eben ein Dietrich-Fischer-Dieskau. Wir sind dankbar, dass es sie gab, wir sind dankbar, dass sie uns etwas zu sagen hatten und unser musikalisches Erleben bereichert haben.


    Geschichte lehrt, dass es keinen Stopp in der Entwicklung gibt. Die Maßstäbe der Vorgeneration sind oft genau das, was in der Folgegeneration als verpönt gilt. Nicht zuletzt profitierte Dietrich Fischer-Dieskau davon, dass ein betont intellektueller Interpretationsstil den Bedürfnissen vieler Hörer perfekt entsprach. Wir werden sehen, welche Lösungen folgende Sängergenerationen finden werden.

  • Ich will wegen der fortgeschrittenen Zeit nur kurz auf deinen ausfürhlichen Beitrag eingehen, lieber Wolfram.


    Ich glaube nicht, dass Fischer-Dieskaus Interpretationsstil (nur) kopflastig und intellektuell war, sondern m.E. auch hochemotional. Wenn man die Musik, die er machte, mit dem Herzen hört, dann merkt man das. Das merkt man (merkte ich) in jeder einzelnen meiner zahlreichen Winterreisen von ihm, angefangen mit der 1952 mit Hermann Reuter bis zur 1985 mit Alfred Brendel, sowie in seinen zahlreichen anderen Aufnahmen Schuberts, Schumanns, Beethovens, Brahms', Strauss', Wolffs u.a..


    Liebe Grüße


    Willi :)

    1. "Das Notwendigste, das Härteste und die Hauptsache in der Musik ist das Tempo". (Wolfgang Amadeus Mozart).
    2. "Es gibt nur ein Tempo, und das ist das richtige". (Wilhelm Furtwängler).

  • Vielleicht sollte man, so denke ich, statt sich hier noch einmal langatmig über den nun – leider - verstorbenen Dietrich Fischer-Dieskau auszulassen und dabei doch nur zu reproduzieren, was alles in vielfältiger Weise schon längst da und dort gesagt ist, die Zielsetzung dieses Thread beachten und umsetzen. Sie verdichtet sich für mich in der Bemerkung von Alfred Schmidt:


    „Interessant ist auch eine Bestandaufnahme der gegenwärtigen Gesangsszene. Ich meine, sie ist recht bunt, es stehen uns etliche gute Liedinterpreten (und mein Focus liegt bei Schubert) zur Verfügung. Aber - so möchte ich einschränkend bemerken - Dietrich Fischer-Dieskau kann keiner das Wasser reichen - und ich beziehe mich hierbei nicht nur auf das Stimmfach Bariton.“

    Da ist doch wohl einiges diskussionswürdig. Zum Beispiel solche Fragen:


    Wie stellt sich die „gegenwärtige Gesangsszene“ eigentlich dar und welche Namen wären hier zu nennen, die als wirklich ernstzunehmende Liedinterpreten gelten können?
    Worin unterscheidet sich – vom interpretatorischen Ansatz her – deren Liedgesang?
    Sind – von der Liedinterpretation Fischer-Dieskaus her betrachtet – bei diesen Interpreten neue Ansätze erkennbar?
    Wenn ja, - worin bestehen sie ganz konkret?
    Können diese Ansätze als Weiterentwicklung des Liedgesangs in der Richtung verstanden werden, die Fischer-Dieskau eingeschlagen hat?
    Oder ereignet sich bei diesem oder jenem der gegenwärtigen Liedinterpreten eine Art Rückgriff auf Traditionen des Liedgesangs aus der Zeit vor Fischer-Dieskau?
    Ist es wirklich so – wie Alfred Schmidt meint – dass keiner der gegenwärtigen Interpreten Fischer-Dieskau „das Wasser reichen“ könne?


    Über die Frage, was mit Fischer-Dieskau Neues in den Liedgesang gekommen ist, gibt es inzwischen einiges an konkreten Beiträgen. Die von Alfred Schmidt aufgelisteten Threads
    Franz Schubert:
    "Liedinterpreten von vorgestern"
    "Liedinterpreten vor Fischer Dieskau "
    "Interpretationen des Schubertlieds im Wandel der Zeit"


    ...enthalten dazu eine Menge an Material, zum Teil in recht konkreter, nämlich analytisch ausgerichteter Form. Was hier im Forum – wie mir scheint -tatsächlich bislang zu kurz gekommen ist, das ist der Blick auf die Gegenwart.
    Mir scheint es angesichts des Todes von Dietrich Fischer-Dieskau überaus reizvoll, diesen Blick auf die Gegenwart des Liedgesangs aus der Perspektive dessen vorzunehmen, was er sozusagen hinterlassen hat.


    Er war übrigens gegen Ende seines Lebens diesbezüglich alles andere als optimistisch. Einige wenige Interpreten der Gegenwart schätzte er, - aber eben nur wenige (Thomas Hampson oder Christian Gerhaher zum Beispiel). Warum? Weil viele andere heutige Liedinterpreten, wie er es einmal formulierte, am Wesen und am musikalischen Kern des Liedes „vorbeibelkantisieren“.


    Dieses überaus originelle Wort „vorbeibelkantisieren“ könnte man doch, so denke ich, wie so eine Art Angelhaken benutzen, um in der „gegenwärtigen Gesangsszene“ (wie Alfred Schmidt das nennt“) diejenigen herauszufischen, die liedinterpretatorisch wirklich etwas zu sagen haben.

  • Sagitt meint:


    Die Zahl der Interpreten ist klein, die Nachfrage nach Liederabenden sehr gering.Viele Veranstalter trauen sich dazu gar nicht mehr.


    Wenn ich an Alternativen denke, fallen mir zwei Namen ein, Quasthoff und Goerne.


    Warum? Quasthoff hat bei weitem nicht die "schöne" Stimme eines FD, aber teilweise einen Zugang zu den Liedern, einen unmittelbar emotionalen Zugiff, den ich bei FD nicht höre. Ich denke jetzt vor allem an Lieder aus dem Schwanengesang, wie etwa der Doppelgänger.


    Goerne hingegen hat eine sehr wohltönende Stimme, kommt zum Lied aber eher über die Musik als den Text. Ich glaube, in irgendeinem Interview sagte er auch mal, wohl in einer gewissen Abgrenzung zu FD, dass ihm der musikalische Ausdruck wichtiger sei als die umfassende Textverständlichkeit.


    Missen möchte ich keinen dieser drei Interpreten.

  • Wenn sagitt meint: "...einen unmittelbar emotionalen Zugiff, den ich bei FD nicht höre. "


    ... würde ich ihm gerne widersprechen. Besonders nachdem ich gerade eine Schilderung eines Liederabends von Fischer-Dieskau durch den an der Royal Academy of Music lehrenden Richard Stokes gelesen habe. Er geht darin auf das Schubert-Lied "Nacht und Träume" ein und merkte abschließend an: "Als das Nachspiel ... ausklang, verharte das Publikum in Schweigen. Nach einer gefühlten Ewigkeit flüsterte eine ältere Deutsche mit tränenüberströmte gesicht hörbar ins weite Rund der riesigen Arena >Schluss jetzt!<. Von diesem Augenblick an waren meine Schüler der Liedkunst verfallen."


    Aber wenn ich sagitt widersprechen würde, machte ich einen Fehler. Ich würde von der Ebene des persönlichen Empfindens und Hörens her argumentierten. Und das wäre keine wirkliche Argumentation, weil sie nicht sachlich fundiert ist.


    Eine meiner Fragen war: Sind – von der Liedinterpretation Fischer-Dieskaus her betrachtet – bei diesen Interpreten neue Ansätze erkennbar? Wenn ja, - worin bestehen sie ganz konkret?


    Man müsste, so denke ich, solche "Ansätze" konkret - etwa an Beispielen - aufzeigen, wenn man nicht auf der Ebene reiner Meinungsäußerung verbleiben will.

  • Sind – von der Liedinterpretation Fischer-Dieskaus her betrachtet – bei diesen Interpreten neue Ansätze erkennbar?
    Wenn ja, - worin bestehen sie ganz konkret?
    Können diese Ansätze als Weiterentwicklung des Liedgesangs in der Richtung verstanden werden, die Fischer-Dieskau eingeschlagen hat?
    Oder ereignet sich bei diesem oder jenem der gegenwärtigen Liedinterpreten eine Art Rückgriff auf Traditionen des Liedgesangs aus der Zeit vor Fischer-Dieskau?


    Für meinen Geschmack wird hier die Weiterentwicklung des Liedgesangs zugespitzt auf eine Entscheidung zwischen zwei diametral entgegengesetzten Möglichkeiten:


    a) Weiterentwicklung des Liedgesangs in der Richtung, die Fischer-Dieskau eingeschlagen hat
    b) Rückgriff auf Traditionen des Liedgesangs aus der Zeit vor Fischer-Dieskau


    Ich frage: Wären nicht mehr Möglichkeiten denkbar?


    Gäbe es nicht die Möglichkeit, die intellektuelle Tiefe und das präzise Aufzeigen der Wort-Ton-Kongruenz zu verbinden mit einem sinnlicheren, in naivem Sinne „schönerem“, einem selbstvergesseneren Singen, als es bei Dietrich Fischer-Dieskau zu hören war?


    Nehmen wir – wie unlängst von Helmut gefordert – ein konkretes Beispiel. Robert Schumann, „Frühlingsnacht“ aus op. 39.


    Die Aufnahme mit Dietrich Fischer-Dieskau stammt aus dem Monat März 1954, am Klavier spielte Gerald Moore. Eine andere Aufnahme aus dem Jahre (ca.) 1975 vereint Peter Schreier und Norman Shetler.




    Frühlingsnacht


    Über’m Garten durch die Lüfte
    Hört‘ ich Wandervögel zieh‘n,
    das bedeutet Frühlingsdüfte,
    unten fängt’s schon an zu blüh’n.


    Jauchzen möchte‘ ich, möchte weinen,
    ist mir’s doch, als könnt’s nicht sein!
    Alte Wunder wieder scheinen
    mit dem Mondesglanz hinein.


    Und der Mond, die Sterne sagen’s,
    und im Traume rauscht’s der Hain,
    und die Nachtigallen schlagen’s:
    „Sie ist Deine, sie ist Dein!“


    Die Vortragsvorschrift „Ziemlich rasch. Leidenschaftlich.“ gibt den emotionalen Rahmen für die Wiedergabe vor. Betrachten wir die Nomen: Frühlingsnacht, Garten, Lüfte, Wandervögel, Frühlingsdüfte, Wunder, Mondesglanz, Mond, Sterne, Traum, Hain, Nachtigallen. Wir stellen fest: Sie sind entweder aus der Sphäre der Natur oder aus der Sphäre der Fantasie (Wunder, Traum) entnommen. Der Dichter gestaltet damit ein naturmystisches Bild, verschränkt die vorgenannten Sphären in Metaphern: „Wunder scheinen mit dem Mondesglanz“, „im Traume rauscht‘s der Hain“.


    Er beschreibt den Ausnahmezustand der Seele, die vor lauter Glück nicht weiß, wie ihr ist: „Jauchzen möcht‘ ich, möchte weinen“ und die ihr Glück kaum fassen kann: „ist mir’s doch, als könnt’s nicht sein!“ (Es klingt ein Lied aus der „Schönen Müllerin“ an: „Ich schmiert es gern auf jedes Butterbrot“ – oder so ähnlich.)


    Fischer-Dieskau macht natürlich alles richtig. Er beginnt mit zartem Vibrato, in dem sich die innere Erregung spiegelt und gestattet sich eine minimale Expansion auf den beiden initialen aufsteigenden Dominantseptakkorden seiner Linie, nimmt die zweite Phrase ganz leicht kräftiger als die erste, was durch die harmonische Sequenz naheliegend ist. Bei „das bedeutet“ legt er einen ersten Schwerpunkt des Nachdenkens, legt gleichsam die Stirn in Falten, betont die Silben „das bedeutet Frühlingsdüfte“. Bei „unten fängt’s schon an zu blühn“ wird er ganz schwärmerisch und nimmt ein vergleichsweise großes Ritardando, das er auch früher als notiert beginnt und damit den Impetus ausbremst.

    Dem „Jauchzen“ fehlt selbiges, betont wird stattdessen das „Weinen“; dies alles eher Portato, um das folgende „ist mir’s doch, als könnt’s nicht sein“ bis zum Ende der Strophe mit „Wunder“ und „Mondesglanz“ umso lyrischer im äußerst dichten Legato vorzutragen.


    Die dritte Strophe hebt wie die erste mit einem erregten Vibrato an, was allerdings keine Steigerung bedeutet. Gegen Ende der Strophe gestattet er sich nochmal eine dynamische Expansion, setzt das vorgeschriebene Forte durchaus um.


    Alles richtig? Ja. Doch dass das Entscheidende fehlt, wird nach wenigen Tönen der Einspielung mit Schreier/Shetler ohrenfällig.


    Die Vortragsbezeichnung „Leidenschaftlich“ ist sofort zu hören, das Vibrierende dieses Liedes bleibt nicht auf ein zartes Vibrato am Anfang beschränkt, das ganze Lied pulst und flirrt den frühlingsnächtlichen Wunderzauber. Dies ist gar nicht so direkt zu greifen wie die Fischer-Dieskauschen Vortragsmittel, es ist eher das „Treffen des Zauberwortes“, das mit geradezu traumwandlerischer Sicherheit sich vollziehende Finden der dem Lied eigenen Atmosphäre, die nicht erst mit Mittelchen hier und da nach und nach konstruiert wird, sondern vom ersten Ton an da ist und den Hörer mitnimmt.


    Klar: Wenn man mit dem Kopf versucht, zu beschreiben, was „der Sänger macht“, dann fällt dies bei Fischer-Dieskau viel leichter. Vieles ist mit Händen zu greifen. Was Schreier macht, wie er von Anfang an die Atmosphäre herstellt, das entzieht sich ein Stück weit dem intellektuellen Zugriff – und gerade darum ist es dem Eichendorff/Schumannschen Zauberton vielleicht auch so angemessen und wirkt so stimmig. Mögen Berufenere beschreiben, was Schreier „macht“, um in diesem Lied so zu überzeugen.


    Mit meinen schwachen Worten kann ich es nur so ausdrücken: Der eine ringt um den rechten Ausdruck, er will die Schönheit des Liedes zeigen und überzeugen – und verfehlt vor lauter Wollen die Wirkung. Der andere „ist“ einfach das Lied, er hat es zutiefst begriffen, nicht nur mit dem Kopf, sondern auch mit Herz und Bauch. "Und so sang er, wie er musst, und wie er musst, so konnt er's."


    Insoweit gebe ich Sagitt recht:

    aber teilweise einen Zugang zu den Liedern, einen unmittelbar emotionalen Zugiff, den ich bei FD nicht höre.


    Darf man - um auf die eingangs erwähnte Scheinalternative zurückzukommen - davon träumen, dass ein Sänger, eine Sängerin Fischer-Dieskausches intellektuelles Be-deuten mit sinnlicher Darstellung der Atmosphäre zur Synthese bringen könnte?


    :hello:

  • Lieber Wolfram,


    die Aufnahme aus 1954 habe ich nicht, dafür eine aus 1974 mit Eschenbach und die Aufnahme mit Schreier habe ich mir als Schnipsel bei jpc angehört.


    Das Eichendorffgedicht ist verstehe ich als hoch romantisch - und es ist die Frage, ob ein solches, im Ausdruck schon sehr stark gezeichnetes Gedicht, der die musikalische Vertonung folgt, auch noch in der Interpretation stark nachzeichnen soll - könnte es "des Guten zu viel sein"?


    In der Aufnahme 1974 von Fischer-Dieskau wird "weinen" nicht betont, es ist eine im romantischen Stimmausdruck und der sprachlichen Textbetonung etwas zurück genommenen Interpretation. Fischer-Dieskau wählt das schnellere Tempo gegenüber Schreier und bringt so den Gefühlsüberschwang zum Ausdruck.


    Dieser Beitrag ist weit davon entfernt, eine Wertung der Höreindrücke vorzunehmen; er soll nur auf die Möglichkeit hinweisen, dass Fischer-Dieskaus diesen "unterkühlten" Stimmausdruck bewusst gewählt haben könnte.


    Für mich ist Fischer-Dieskau (insgesamt) der überragende Liedinterpret und Schreier der überragende Bachinterpret (seine stimmlichen Möglichkeiten und seine Textverständlichkeit sind unbeschreiblich).


    Viele Grüße
    zweiterbass


    Nachsatz: Deinen Traum darf man träumen - ich halte die Verwirklichung allerdings für sehr unwahrscheinlich - was auf Erden ist schon vollkommen?

    Wer die Musik sich erkiest, hat ein himmlisch Gut bekommen (gewonnen)... Eduard Mörike/Hugo Distler

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  • Alfred Schmidts Bemerkung in der Threaderöffnung:
    „Aber - so möchte ich einschränkend bemerken - Dietrich Fischer Dieskau kann keiner das Wasser reichen - und ich beziehe mich hierbei nicht nur auf das Stimmfach Bariton.“
    … hat mich beschäftigt, seitdem ich sie gelesen habe. Auch wenn sie vielleicht nur als eine ganz subjektive Meinungsäußerung hier eingebracht wurde, stelle ich mir die Frage, ob sie objektiv haltbar ist.


    Ich versuche, dieser Frage hier nachzugehen. Dazu habe ich – um ganz aktuell zu sein, was den heutigen Liedgesang betrifft – auf den Mitschnitt eines Liederabends zurückgegriffen, den Christoph Prégardien am 7. Mai dieses Jahres in Schwetzingen gab. Speziell ausgewählt habe ich daraus das Schubert-Lied „Im Frühling“ (D 882) auf ein Gedicht von Ernst Schulze. Ich werde diese Interpretation mit der von Dietrich Fischer-Dieskau (aus der großen Schubert-Lied-CD-Kassette der DG) vergleichen.


    IM FRÜHLING
    Still sitz ich an des Hügels Hang,
    Der Himmel ist so klar,
    Das Lüftchen spielt im grünen Tal,
    Wo ich beim ersten Frühlingsstrahl
    Einst, ach so glücklich war.


    Wo ich an ihrer Seite ging
    So traulich und so nah,
    Und tief im dunklen Felsenquell
    Den schönen Himmel blau und hell
    Und sie im Himmel sah.


    Sieh, wie der bunte Frühling schon
    Aus Knosp und Blüte blickt!
    Nicht alle Blüten sind mir gleich,
    Am liebsten pflückt ich von dem Zweig,
    Von welchem sie gepflückt!


    Denn alles ist wie damals noch,
    Die Blumen, das Gefild;
    Die Sonne scheint nicht minder hell,
    Nicht minder freundlich schwimmt im Quell
    Das blaue Himmelsbild.


    Es wandeln nur sich Will und Wahn,
    Es wechseln Lust und Streit,
    Vorüber flieht der Liebe Glück,
    Und nur die Liebe bleibt zurück,
    Die Lieb und ach, das Leid.


    O wär ich doch ein Vöglein nur
    Dort an dem Wiesenhang,
    Dann blieb ich auf den Zweigen hier,
    Und säng ein süßes Lied von ihr,
    Den ganzen Sommer lang.


    In diesem Gedicht erfährt das lyrische Ich in der Begegnung mit der frühlingshaften Natur die Vergangenheit einer Liebe, die sich an bestimmten Orten und Situationen ereignet. Permanent wechselt die lyrische Perspektive zwischen Vergangenheit und Gegenwart. Gleichwohl erweist sich die Beziehung zwischen erinnertem Glück und in der Gegenwart erfahrener Idylle als ambivalent. In der fünften Strophe bricht die Vergänglichkeit in die lyrischen Bilder ein, und dem lyrischen Ich wird bewusst, dass am Ende nur noch „Lieb und auch das Leid“ bleiben.


    Schubert hat mit seiner Komposition – wie das ja ganz typisch für ihn ist – die lyrische Sprache in musikalische verwandelt. Das kann im einzelnen hier nicht aufgezeigt werden. Wichtig ist nur, dass es sich hierbei um ein variiertes Strophenlied handelt, in das das Rondoprinzip einbezogen ist. Die Strophen stellen musikalische Einheiten dar, die allerdings durch den sie tragenden und musikalisch ausleuchtenden Klaviersatz und die Wiederkehr melodischer Figuren miteinander verbunden sind. Der lyrische Perspektivwechsel schlägt sich auch in der musikalischen Faktur nieder. Auf den Einbruch der Reflexion in das Gedicht (fünfte Strophe) reagiert Schubert mit einer deutlichen rhythmischen und harmonischen Modifikation des Klaviersatzes und der Wandlung des Tongeschlechts von Dur nach Moll (g-Moll).


    Es ist nicht möglich – weil dies den Umfang des Beitrages über Gebühr ausweiten würde – die beiden sängerischen Interpretationen in ihrer Eigenart durch das ganze Lied hindurch zu verfolgen und zu beschreiben. Das scheint mir auch nicht erforderlich. Eine Beschränkung auf die erste Strophe genügt, um die wesentlichen Unterschiede im interpretatorischen Ansatz und seiner stimmlichen Realisierung aufzuzeigen.


    Dietrich Fischer-Dieskau
    Fischer-Dieskau interpretiert das Lied von der Aussage des ersten Verses her, diesem „Hier sitz ich…“. Seine Interpretation gewinnt von daher etwas Situativ-Impressionistisches. Die lyrischen Bilder werden in ihrer dichterisch-musikalischen Aussage sängerisch voll ausgeleuchtet. Gleichwohl fällt auf, dass die Strophe als musikalische Einheit gewahrt bleibt: Das Lied zerfällt bei ihm nicht in musikalische Einzel-Impressionen, sondern die Phrasierung der Melodiezeilen ist auf ihre innere Zusammengehörigkeit angelegt und auf das Strophenende hin ausgerichtet.


    Das sängerisch-artikulatorische Ausleuchten der lyrisch-musikalischen Bilder ist gleich bei den Versen der ersten Strophe sehr deutlich zu vernehmen. Das „Hier sitz ich“ wird in einem gleichsam konstatierenden Ton gesungen. Bei der mit einem Sextsprung ansteigenden melodischen Linie des Verses „Der Himmel ist so klar“ kommt Lebhaftigkeit und Frische in den Ton der Stimme, und das Wort „klar“ leuchtet in der Art, wie der Vokal „a“ artikuliert und eingefärbt wird, regelrecht klanglich auf.


    In fast tänzerischer Weise rhythmisiert er die fallenden Sechzehntel der melodischen Linie des dritten Verses: „Das Lüftchen spielt im grünen Tal“. Die Stimme vibriert hier leicht, so dass man dieses „Spielen“ des „Lüftchens“ hörend mitzuerleben meint.


    Das innere Bewegt-Sein von der Begegnung mit Situationen und Bildern, an denen liebe Erinnerungen hängen, kommt auch darin zum Ausdruck, dass Fischer-Dieskau in gleichsam beschwingter Weise melodische Bögen singt, die im Notentext gar nicht stehen. So beispielsweise an der Stelle „Frühlingsstrahl / einst“ oder bei dem Schritt vom fermatierten hohen „f“ auf dem Wort „hell“ (Ende dritter Vers zweite Strophe) hinab zu dem „d“ auf dem Wort „und“ (Anfang vierter Vers).


    Der Lebendigkeit der Sechzehntel-Bewegung bei den Worten „ach so glücklich war“ (letzter Vers, erste Strophe) wird mit überaus beweglicher Deklamation voller Ausdruck verliehen. Eine Steigerung in der Expressivität erfährt das dadurch, dass das kurze Innehalten auf der Silbe „ü“ (bei „glücklich“) mit einem lieblichen Ton versehen wird.


    Es wird, und das ist eine spezifische Eigenart dieser Interpretation, aus der Haltung eines Sich-Hineinversetzens in die seelischen Regungen des lyrischen Ichs gesungen. Zu vernehmen ist dies auf eindrucksvolle Weise etwa bei der Art, wie die lyrische Aussage „nicht alle Blüten sind mir gleich“ im Sinne der Innerlichkeit eines Eingeständnisses tonlich eingefärbt ist.



    Christoph Prégardien
    Prégardien wählt ein langsameres Tempo als Fischer-Dieskau. Der heitere und beschwingte Ton von dessen Interpretation ist hier nicht zu vernehmen. Dadurch, dass der Sänger sehr stark der rhythmischen Akzentuierung des Liedes folgt, wie sie im Klaviersatz vorgegeben ist, wirkt seine Interpretation gewichtiger und deklamatorisch markanter. Man könnte auch sagen: Weniger das Impressionistische der lyrischen Augenblickssituation wird betont, als vielmehr das Gewicht der Erinnerungen, die durch Begegnung mit der frühlingshaften Natur herbeigerufen werden.


    Schon die Art, wie der erste Vers gesungen wird, macht den ganz anderen interpretatorischen Ansatz sinnfällig: Die fast über eine ganze Oktave fallende melodische Linie bekommt deklamatorisch auf jeder Silbe einen Akzent, der ihr Gewicht und Bedeutsamkeit verleiht. Das „Hier sitz ich“ wirkt nicht wie eine das Lied einleitende Bemerkung, die einen Sachverhalt wiedergibt, der sich nun eben mal so ergeben hat. Es wirkt in der Gewichtigkeit seiner Artikulation wie eine Exposition für das, was im Folgenden an lyrischen Aussagen kommt.


    Dementsprechend wird auch der Vers „Das Lüftchen spielt im grünen Tal“ nicht aus der Haltung eines an diesem lyrischen Bild innerliche Teilhabenden Ichs gesungen, sondern eher rein deskriptiv: Nichts Spielerisches haftet dem sängerischen Ton hier an.


    Gewicht hingegen bekommt aber der nächste Vers („Wo ich beim ersten Frühlingsstrahl“), und zwar deshalb, weil nun die Erinnerung sich meldet. Schon dadurch, dass eine winzige Pause vorgeschaltet wird, erhält er musikalische Bedeutsamkeit. Aber auch dadurch, dass jede Silbe mit deklamatorischem Gewicht versehen wird. Die Worte „beim ersten“ und „glücklich“ werden in der gesanglichen Artikulation auf markante Weise herausgehoben.


    Das geschieht zum Beispiel auch bei dem Wort „hell“ (dritter Vers, zweite Strophe). Hier setzt Schubert zwar auf das hohe „f“ eine Fermate, aber Prégardien hält den Ton ungewöhnlich lang. Und er gibt dieser Stelle auch dadurch noch zusätzliches Gewicht, dass er keinen fallenden Bogen zu dem tieferen „d“ schlägt, sondern dort neu ansetzt.


    Ich meine, dass man einer solchen Stelle den Wesensunterschied zwischen Fischer-Dieskaus und Prégardiens interpretatorischem Konzept in gleichsam exemplarischer Weise zu fassen bekommt.


    Der eine – Fischer-Dieskau nämlich – lässt sich sehr stark von der Einfühlung in das lyrische Ich tragen. Die Erinnerung an den blauen und hellen Himmel damals, die Vision der Geliebten darin, die sich damals ereignete – all das ist im Augenblick so gegenwärtig, dass es nicht nur einen zugleich zärtlichen und beschwingten Ton in die melodische Linie bringt (Schubert lässt bei den Worten „Himmel blau“ Sechzehntel tanzen!), die der Sänger voll zum Ausdruck bringt. Nein, dieses Beschwingt-Sein verführt Fischer-Dieskau sogar dazu, bei dem Wort „hell“ zwar die Fermate zu singen, sich danach aber mit einem fallenden Bogen zum nächsten Ton hinüber zu schwingen.


    Im Vergleich dazu interpretiert Prégardien viel stärker – und, wie ich meine, auch strenger – vom Wortlaut des lyrischen Textes her. Dessen Aussagen werden sängerisch umgesetzt, und das in perfekter Weise. Nicht die Einfühlung in das lyrische Ich ist sein interpretatorisches Leitmotiv, sondern das, was der lyrische Text in den Bildern der einzelnen Verse zu sagen hat. Die Aussage „und sie im Himmel sah“ ist eine eigenständige. Also leistet sich Prégardien nach „hell“ keinen Bogen, sondern setzt nach der Fermate mit dem Ton „d“ auf dem Wort „und“ neu an.


    An der Interpretation des Verses „Nicht alle Blüten sind mir gleich“, auf den ich bei Fischer-Dieskau einging, ist dieser andersartige Ansatz Prégardiens auch sehr schön zu erkennen. Wo Fischer-Dieskau etwas Bekenntnishaftes in die stimmliche Artikulation einbringt, indem er deutlich hörbar leiser und wie in sich hinein singt (Schubert schreibt an dieser Stelle ein Decrescendo vor!), hat die Interpretation Prégardiens an dieser Stelle eher einen gleichsam konstatierenden Gestus.


    Bilanz
    Es sind hier nicht mehr viele Worte erforderlich, wie ich denke. Der Unterschied in interpretatorischen Ansatz dürfte deutlich geworden sein. Beide Interpreten werden dem Lied sängerisch und interpretatorisch voll gerecht. Ich vermag hier keinen Niveauunterschied zu hören und zu erkennen.


    Das Lied bietet in seiner den lyrischen Text in der Duplizität der dichterischen Perspektive reflektierenden kompositorischen Faktur nun einmal tatsächlich diese beiden interpretatorischen Strategien. Fischer-Dieskau und Prégardien realisieren sie in ihrer jeweiligen Art auf perfekte Weise.


    Mich selbst spricht Fischer-Dieskaus Interpretation persönlich stärker an. Aber das ist ein ganz und gar subjektives Urteil. Objektiv, das heißt von den Anforderungen her betrachtet, die die Faktur des Liedes an den Sänger stellt, steht Prégardiens Interpretation der von Fischer-Dieskau in nichts nach.

  • Zitat

    das heißt von den Anforderungen her betrachtet, die die Faktur des Liedes an den Sänger stellt, steht Prégardiens Interpretation der von Fischer-Dieskau in nichts nach.


    Stimmt! Ich saß an diesem Abend gerademal fünf Meter vom Vortragenden entfernt und habe ganz genau zugehört ... war übrigens ein recht anspruchsvolles Programm.


    Aber das ändert an der Größe von Dietrich Fischer-Dieskau nichts.

  • Zit.: "Ich saß an diesem Abend gerademal fünf Meter vom Vortragenden entfernt...


    Und ich hatte so etwas ähnliches angenommen, ohne es natürlich zu wissen. So läuft man vielleicht aneinander vorbei, sitzt möglicherweise in einem Konzert nebeneinander, ohne eine Ahnung davon zu haben. Das sind die Wunderlichkeiten dieser Kommunikation hier in einem Internet-Forum.


    (Ich vermute mal, dass hart mit der Bezeichnung "anspruchsvolles Programm" auf den Rihm-Zyklus "Ende einer Handschrift" anspielt. Aber das ist nicht Gegenstand dieses Threads)

  • Wie im Falle von Christoph Prégardien, versuche ich auch bei Mattias Goerne ganz aktuell zu sein, - den Ansatz des Threads ernst nehmend. Ich beziehe mich im folgenden auf einen Liederabend, den Matthias Goerne – zusammen mit Alexander Schmalcz – am 13. Juni dieses Jahres in Schwetzingen gegeben hat. Auf dem Programm standen ausschließlich Schubert-Lieder.


    Das Wesen der Liedinterpretation Fischer-Dieskaus kann man – zugegeben ein wenig formelhaft - auf den Nenner bringen:
    Die Semantik des lyrischen Wortes findet in gleichsam kompromissloser Weise Eingang in die stimmliche Artikulation der Melodik des Liedes, - von der klanglichen Färbung bis hin zur rhythmischen Akzentuierung der Elemente des dichterischen Textes.


    Nimmt man dieses als Bezugspunkt, so kann man sagen:


    Christoph Prégardien hat diesen interpretatorischen Ansatz Fischer-Dieskau weiterentwickelt, - bis hin zu einem Einfließen-Lassen von subjektivistischer Emotionalität, die dieser sich nicht gestatten wollte.
    Matthias Goerne hingegen schlug einen anderen Weg ein. Bei ihm wird der Stimme und ihrer gesanglich vollen Entfaltung absolute Priorität eingeräumt, - durchaus unter Inkaufnahme einer Reduktion der artikulatorischen Komponente.


    Ich möchte das am Beispiel der Interpretation von „Jägers Abendlied“ ein wenig konkretisieren.
    Man vernimmt eine stimmlich überaus beeindruckende, weil klangschön und in perfektem Legato gesungene Interpretation, die aber artikulatorisch und rhythmisch wenig differenziert ist. Der durchgehende Eindruck ist: Sie wird dem lyrischen Text in der Form, wie er sich in der Faktur des Liedes niedergeschlagen hat nicht voll gerecht. Alles ist in einen einheitlichen stimmlichen „Sound“ gebettet.


    In wenig konkreter.
    Beim ersten Vers wird das „schleich ich“ in keiner Weise von den Worten „im Felde“ abgehoben. Der stimmlich melodische Fluss geht in einheitlicher Weise über diese Worte hinweg. Deutlicher wird das noch dort, wo ein lyrischer Perspektivwechsel stattfindet, etwa bei der kleinen Sekunde und der harmonischen Rückung an der Stelle „Da schwebt so licht…“. Diesen Perspektivwechsel, der ja nicht nur ein lyrischer, sondern auch ein musikalischer ist, kann man bei Goerne nicht hören.


    Auffällig ist, dass er häufig melodische Bögen singt, die sich in den Noten nicht finden, nur, um den stimmlich-melodischen Fluss zu wahren: Etwa bei „süßes Bild“. Bei „du wandelst“ wird aus dem gleichen Grund die Silbe „wan“ so gedehnt, dass die Aussage des lyrischen Wortes fast verloren geht. Und an bei dem Vers „Und ach, mein schnell verrauschend Bild“ ist die Pause nach dem „ach“ nicht zu hören, so dass der Klageruf-Charakter nicht zur Geltung kommt.


    Ich möchte betonen:
    Diese analytischen Feststellungen erfolgen auf dem Raster des interpretatorischen Ansatzes von Fischer-Dieskau. Sie sind also in dieser Weise perspektivisch einseitig und subjektiv. Versteht man Liedinterpretation in anderem Sinne, wird man im Falle von Matthias Goerne zu einem ganz und gar anderen Urteil gelangen.

  • Im Nachtrag scheint mir noch folgender Hinweis wichtig:


    Dieser Thread fragt ja nach dem Liedgesang der Gegenwart - gemessen am Standard von Fischer-Dieskau. Ich habe also die einzelnen Liedinterpretationen von Matthias Goerne auf dem Hintergrund jener gehört, die ich von Fischer-Dieskau im Kopf hatte. Die Interpretation des Liedes "Jägers Abendlied" wurde unter diesem Aspekt in gleichsam exemplarischer Weise dargestellt. Sie ist also nur unter diesem Vorbehalt zu lesen und zu nehmen.


    Es besteht für mich keinerlei Zweifel daran, dass Matthias Goernes Liedinterpretationen allerhöchstes sängerisches Niveau haben. Wer Liedgesang vorwiegend unter dem Aspekt "schöne Stimme" hören und erleben will, konnte über die Art und Weise, wie Goerne etwa das Lied "Nacht und Träume" sang (erstes Lied an diesem Abend), wahrlich in Entzücken geraten.

  • Lieber Helmut,


    ich möchte dazu nur ergänzend anmerken, daß Lyriker und Schriftsteller in unserer Zeit, beim Lesen ihrer eigenen Texte (soweit ich das als Ohrenzeuge beurteilen kann) einen förmlichen horreur davor haben, die Worte wie ein Schauspieler zu intonieren, Stimmfarben (in Dialogstellen) rollenhaft einzusetzen oder die Musikalität einer Phrase eigens hervorzuheben oder gar bewußt zu gestalten. - Vielmehr sind die meisten bestrebt, über diese Schmuckhaftigkeit des gelesenen Textes beinah flüchtig hinwegzuspielen.


    :hello:

    Zerging in Dunst das heilge römsche Reich


    - uns bliebe gleich die heilge deutsche Kunst!

  • ich maße mir nicht an, die sängerische Qualität von DFD zu beurteilen. Er ist jedenfalls einer der Sänger mit der größten Textverständlichkeit - und das ist nicht selbstverständlich.


    La Roche

    Ich streite für die Schönheit und den edlen Anstand des Theaters. Mit dieser Parole im Herzen leb' ich mein Leben für das Theater, und ich werde weiterleben in den Annalen seiner Geschichte!

    Zitat des Theaterdirektors La Roche aus Capriccio von Richard Strauss.

  • Das mag sein, lieber farinelli, aber ich frage mich: Warum?


    Bei Lyrik scheint mir diese Haltung geradezu unsinnig. Aber auch bei einem Roman oder einer Erzählung vermag das Lesen durch einen fähigen Schauspieler dem dichterischen Text zusätzliche Aussagedimensionen abzugewinnen. Ich erinnere mich gut daran, wie ich zum ersten Mal Fontanes "Stechlin" durch Gert Westphal gelesen gehört habe. Obgleich ich dieses Werk recht gut kannte, meinte ich, ihm ganz neu zu begegnen.


    In diesem Fall, der Interpretation von Schubertliedern durch Matthias Goerne hatte ich im ersten Augenblick den Eindruck: Viel schöne Stimme, wunderbares Legato, aber zu wenig artikulatorische Binnendifferenzierung. Vielleicht stellt sich ein solcher Eindruck bei demjenigen, der mit Fischer-Dieskau im Kopf in ein solches Konzert läuft, mit einem gewissen Automatismus ein. Ich möchte diese Goerne-Interpretation ja auch gar nicht kritisieren. Es ging mir nur darum, eine Antwort auf die Frage des Threads anhand eines weiteren Beispiels zu geben. Und diesbezüglich meine ich nun, dass Matthias Goerne auf der Grundlage, die Fischer-Dieskau gelegt hat, neue Wege der Liedinterpretation beschreitet.


    Freilich fühle ich mich wenig kompetent in Sachen Liedgesang. Meine Aussagen sind also mit allem Vorbehalt zu nehmen.

  • Ich habe mich, angeregt durch diesen Thread, ein wenig durch die Interpretationen dieses berühmten Schubertliedes gehört. Nahe an Goerne kommen m.E. auch Bostridge und - in einer Fassung für Orchester durch M. Reger, unter Abbado - Renée Fleming heran.


    Es gibt eine Grammatik der Sprache, wie es eine der Vokallinie gibt. Dieses Lied nun, mit seinem gedehnten Zeitmaß, der verhaltenen Expansion, den schier endlosen Vokalsilben, den Pinanissimi und den schmelzenden Bögen über verschleiernden Septakkorden ist eine Herausforderung für jeden Sänger. Man hört jedes Wackeln, jedes Vibrato, jede atemtechnische Unebenheit sofort heraus.


    Nun glaube ich, daß viele, die dieses Lied zu kennen meinen (es ist ja eines der bekanntesten Lieder Schuberts), seinen Inhalt nur ungenau wiedergeben könnten. Die Aussage des Textes wird überlagert durch die wiegenliedhafte Atmosphäre, die schwankenden Begleitung und den weitgespannten Rhythmus einer Art Systole und Diastole, der mehr "des Weltatems wehendem All" gleicht als einer Reflexion über den Schlaf. Ironischerweise führt dieses Stück, obwohl es dem Solisten allerhöchste Konzentration abfordern dürfte, in einen Grenzbereich zwischen Traum und Wachen, Bewußtem und Unbewußtem, der so betörend wie ungreifbar bleibt. Ich glaube, daß die Melodik hier eine deutlichere Sprache spricht als die Textdeklamation (wenn ich so sagen darf).


    Heil’ge Nacht, du sinkest nieder;
    Nieder wallen auch die Träume
    Wie dein Mondlicht durch die Räume,
    Durch der Menschen stille Brust.


    Die belauschen sie mit Lust;
    Rufen, wenn der Tag erwacht:
    Kehre wieder, heil’ge Nacht!
    Holde Träume, kehret wieder!

    Ich möchte wetten, daß hier Goethes "An den Mond" Pate gestanden hat. Die Aussage des Gedichts streift fast das Banale; eine entmystifizierte Novalissche Hymne an die Nacht, cirkulär wie der Tageslauf selbst. Zudem hält es manche Chriffren bereit, die in Schuberts Liedschaffen Widerhall finden - man denke an das "Kehre wieder, holdes Blütenreich der Natur!", an das "Labyrinth der Brust". Das einzige wirklich poetische Bild ist das des mondlichthaften Gleitens der Träume, und dieses Hingleiten durch die Räume der Nacht scheint für Schuberts Musik den Anstoß gegeben zu haben.


    Die Binnenbewegung, die Schubert diesem Text abgewinnt, die harmonischen Rückungen und leisen Spannungen über verminderte Septimenakkorde sprechen tatsächlich eher eine tristanische Sprache, sie üben eine Verzauberung und Entrückung über den Hörer aus, die das Gedicht bei Licht besehen nicht besitzt. Denn alle beschwörenden Formeln in Collins Versen haben nicht die evokative Kraft von Schuberts Musik.


    :hello:

    Zerging in Dunst das heilge römsche Reich


    - uns bliebe gleich die heilge deutsche Kunst!

  • Zitat

    Alles ist in einen einheitlichen stimmlichen „Sound“ gebettet.

    Das ist fein beobachtet ...


    Es war dem engen Bühnenaufbau geschuldet, dass ich diesmal nur zwei Meter von Matthias Goerne entfernt saß. Er ist mit Abstand der unruhigste aller Liedersänger, die ich kenne, und diese wirklich extremen Körperbewegungen während des Vortrags haben mit Sicherheit großen Einfluss auf das was man am Radio hört. Er presst seinem Körper diese wunderschönen Töne regelrecht ab.


    Nacht und Träume habe ich noch nie so verhalten gesungen gehört, wie an diesem 13. Juni 2012 und natürlich erinnerte ich mich an einen Abend mit Dietrich Fischer-Dieskau (vor etwa 30 Jahren) das sind in der Tat ganz große Unterschiede der Interpretation.

    Zitat

    Denn alle beschwörenden Formeln in Collins Versen haben nicht die evokative Kraft von Schuberts Musik

    Da ist "Nacht und Träume" aber nur ein Beispiel von vielen, so mancher Text hätte kaum "überlebt", wenn sich kein genialer Komponist seiner angenommen hätte.

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  • Ergänzend zu dem Beitrag von hart:
    Was es bedeutet, Matthias Goerne in zwei Metern Abstand als Liedersänger zu erleben, ist mir wohlbekannt. Es kann einem passieren, dass man vor lauter Stimme keine Lieder mehr hört. Dafür kann er aber nichts. Größere Distanz ist empfehlenswert.


    In der Tat:
    "Nacht und Träume" wurde in einer Weise "verhalten" gesungen, wie ich das auch zuvor noch nicht gehört habe. Ich bin mir noch immer nicht sicher, ob das nun eine "große" Interpretation ist oder nur eine, die einen in Bann schlagen kann. Denn das tat sie!

  • Die Frage, ob die Interpretation des Liedes „Nacht und Träume“ von Matthias Goerne (bei seinem Schwetzinger Liederabend) nun eine „große“ oder eine nur in Bann schlagende ist – denn diesbezüglich möchte ich einen Unterschied machen – hat mich nicht losgelassen. Also habe ich einen kurzen Hörvergleich angestellt zwischen dieser und den Interpretationen von Christoph Prégardien / M. Gees und Fischer-Dieskau / A. Brendel. Auf Details möchte ich mich hier nicht einlassen, nur das Wesentliche referieren.


    Schuberts Lied liegt in zwei Fassungen vor. Bei der zweiten hat er das Tempo von „langsam“ auf „Sehr langsam“ verbreitert. Die Dynamikvorschrift lautet durchgängig: „Pianissimo“. Es finden sich nirgendwo im Notentext dynamische Abstufungen. Für den gesanglichen Vortrag scheint mir nun sehr wesentlich, dass die Klavierbegleitung durchgehend aus in Bass und Diskant alternierenden Achteln besteht, die der Singstimme eine homogene, nur in der Harmonik, nicht aber in der Rhythmik und der melodischen Binnenstruktur differenzierte Klanggrundlage liefert.


    Warum ist dies für den Interpreten von Bedeutung? Er muss, so denke ich, darauf achten, dass die melodische Linie sich in diesem klanglichen Bett so deutlich und markant abzeichnet, dass sie sich als Trägerin des lyrischen Wortes hinreichend klar artikulieren kann. Ansonsten besteht Gefahr, dass das für Schubert so wesentliche Strukturmerkmal seiner Lieder – dass sie nämlich lyrischen in musikalischen Text umsetzen – verloren geht. Dies war für mich das entscheidende Kriterium für die Beurteilung der drei Interpretationen.


    Auf einen Nenner gebracht.
    Sowohl Fischer-Dieskau als auch Chr. Prégardien lassen die melodische Linie in ihren spezifischen Bewegungen hinreichend markant hervortreten. Sie singen dort Bögen, wo Schubert sie vorschreibt, meiden sie aber dort, wo sie das lyrische Wort in seiner Aussage verwischen würden. Genau hier liegen aber die „Schwächen“ von Goernes Interpretation. Er legt so viel Wert auf das legatoförmige Durchhalten der Stimmsubstanz, dass die für die Interpretation dieses Liedes erforderliche Binnendifferenzierung im Einsatz der Stimme nicht geleistet wird.


    Im einzelnen:
    Bei „Heil´ge“ singt er einen leichten Bogen. Der ist von Schubert aber nicht gewollt. Denn er nimmt dem Wort seine Aussagekraft, weil es diese in Klang ertränkt. Dasselbe wiederholt sich bei dem Wort „Träume“. Hier ist von Schubert ein Terzfall vorgesehen, der keinen Bogen aufweist und von einer Pause gefolgt wird. Beides soll diesem Wort sein Gewicht lassen. Der Vers „Wie dein Mondlicht durch die Räume“ ist eine einzige, viel zu wenig deklamatorisch akzentuierte, und deshalb fast larmoyant fallende melodische Linie.


    Bei dem Vers „Die belauschen sie mit Lust“ erfolgt bei Schubert eine klanglich überaus beeindruckende mediantische Rückung. Es kommt ein neuer, ein wenig frischer wirkender Ton in das Lied, der durch den lyrischen Perspektivwechsel bedingt und für Schubert damit gefordert ist. Der Interpret sollte dies hörbar werden lassen. Goerne singt aber im gleichen Ton weiter.


    Besonders auffällig wird die viel zu geringe Wortorientiertheit seiner Interpretation an der Stelle „Rufen, wenn der Tag erwacht“. Hier hat Schubert eine rhythmisch markante Sechzehntel-Bewegung in die melodische Linie eingearbeitet, die von einer kleinen fallenden Terz eingeleitet wird, die dieser melodisches Gewicht verleiht. Auch damit reflektiert er ja nur dieses lyrische Wort „rufen“. Bei Goerne ist diese kleine, aber höchst wichtige Spur von musikalischer Lebendigkeit an dieser Stelle nicht zu vernehmen.


    Das muss nicht weiter im Detail fortgesetzt werden. Das „Kehre wieder, heil´ge Nacht“ verliert zum Beispiel seinen lyrischen Aufforderungscharakter dadurch, dass der Sekundfall, den Schubert in das Wort „Kehre“ gelegt hat, durch einen gesanglichen Bogen abgeschwächt wird.


    Man kann eine solche Beurteilung einer sängerischen Leistung auf der Grundlage des Notentextes als Beckmesserei abtun. Ich meine aber, dass dies nicht berechtigt ist. Höre ich mir nämlich die Aufnahmen dieses Liedes mit Prégardien oder Fischer-Dieskau an, so habe ich den ganz gewissen Eindruck, dass ich hier mehr von dem höre, was Schubert mit diesem Lied musikalisch zum Ausdruck bringen will.


    Von diesem Lied liegt übrigens auch eine Aufnahme auf CD (harmonia mundi) vor, die den Titel „Nacht und Träume“ trägt. Begleiter ist auch hier Alexander Schmalcz. Die Interpretation unterscheidet sich nicht in irgendwie relevanten Details von der des Liederabends. Trotz meiner Vorbehalte gegen diese Interpretation von „Nacht und Träume“ halte ich diese CD für hörenswert. Es ist etwas dran an dieser Feststellung von „Opera News" (Juli 2010):
    Goerne is a singer who, without dramatic gesture, is able to make the emotion tangible.“

  • Ohne den offensichtlich sehr sorgfältig durchgeführten Vergleich nachvollziehen zu können (mangels CD) - aber ich kenne Goernes Stimme, den Stimmausdruck, die Art seiner Stimmführung - besser kann das wohl m. E. nicht ausgedrückt werden.


    zweiterbass

    Wer die Musik sich erkiest, hat ein himmlisch Gut bekommen (gewonnen)... Eduard Mörike/Hugo Distler

  • Ich möchte zweiterbass ausdrücklich zustimmen und noch einmal darauf verweisen, dass ich Goerne für einen großartigen Liedinterpreten halte. Aus diesem Grund hatte ich ja auf die CD "Nachtund Träume" verwiesen und sie ausdrücklich als hörenswert hervorgehoben. Meine obige "Kritik" bezog sich auf ein einziges - und eben nur dieses! - Lied "Nacht und Träume".


    Goerne verfügt über einen überaus klangvollen und tonal reichen Bariton, den er perfekt zur gesanglichen Ausleuchtung der Lieder einzusetzen vermag. Man kann das in der erwähnten CD zum Beispiel bei dem Lied "Totengräbers Heimweh" (D.842) auf eindrucksvolle Weise erleben.


    Ich habe ihn mehrfach im Konzert erlebt. Seine Interpretation von Schuberts "Schwanengesang" ist mir unvergesslich, - vor allem die Heine-Lieder betreffend.

  • Es tut mir leid, mich unklar ausgedrückt zu haben - das "besser kann wohl..." wollte ich beziehen auf Deinen Vergleich - was mir nicht gelungen ist - weil auch "aber" nicht hingehört.

    Wer die Musik sich erkiest, hat ein himmlisch Gut bekommen (gewonnen)... Eduard Mörike/Hugo Distler

  • Nein, der Fehler lag mal wieder bei mir, wie ich eben beim nochmaligen Lesen feststelle. Das sehr wohl klar ausgedrückt. Ich hätte genauer hinschauen müssen.


    Aber bei der Gelegenheit: Es ging und geht mir hier ja nicht um die kritische Beurteilung dieses oder jenes Interpreten an sich. Vielmehr versuche ich - der Fragestellung des Threads folgend - herauszufinden, worin sich heutige Liedinterpretation von der Fischer-Dieskaus unterscheidet und in welchem Maß auf dem aufgebaut wird, was er als interpretatorische Standards gesetzt hat.

  • Sehr, sehr, sehr überspitzt ausgedrückt (und in der Hoffnung, keinem der Sänger Unrecht zu tun): Fischer-Dieskau unterordnet/gibt seine Stimme ganz den Liedinterpratationen/hin - Goerne gibt den Liedinterpreationen seine Stimme dazu.

    Wer die Musik sich erkiest, hat ein himmlisch Gut bekommen (gewonnen)... Eduard Mörike/Hugo Distler

  • Zit. zweiterbass: "Fischer-Dieskau unterordnet/gibt seine Stimme ganz den Liedinterpratationen/hin - Goerne gibt den Liedinterpreationen seine Stimme dazu. "


    Ja, das trifft es durchaus, - gerade in seiner Zuspitzung auf das Wesentliche. Einmal abgesehen davon, dass Goerne über einen tieferen und gleichsam "körperreicheren " Bariton verfügt als Fischer-Dieskau (der seinen Bariton ganz gerne als einen von Natur aus "kleinen" bezeichnete): Er setzt seine Stimme beim Liedgesang anders ein als Fischer-Dieskau.


    Als sängerischer Laie würde ich sagen:
    Fischer-Dieskau lässt die Wortdeklamation stärker in die stimmliche Substanz durchschlagen. Goerne hingegen - das ist in dem Lied "Nacht und Träume deutlich zu hören - ordnet die Stimme weniger der Deklamation als der melodischen Linie zu. Man kann zwar nicht von einem Primat der melodischen Linie bei ihm sprechen, aber doch wohl von einer Präferenz. Insofern ist bei ihm durchaus eine neue Tendenz in der Liedinterpretation zu erkennen.


    Und doch ist er auch "Fischer-Dieskau-Schüler".
    Es ist nämlich keineswegs so, dass er die Aussage des lyrischen Textes nicht in der jeweils angemessenen Weise reflektierte. Jeder Sänger, dem es primär auf die Entfaltung seiner Stimme ankäme, würde bei Schuberts Lied "An Silvia" glatt der Versuchung erliegen, die Emphase, die die melodische Linie dort entfaltet, voll auszukosten. Das tut Goerne keineswegs. Beeindruckend ist zum Beispiel, mit welcher Behutsamkeit er die Anfänge der melodischen Halbverse artikuliert: Die Worte "was", "saget", "schön". Und auch die immer größeren Intervalle, die die melodische Linie von Strophe zu Strophe umgreift, verführen ihn in gar keiner Weise zur vollen Entfaltung seines Stimmorgans.

  • Natürlich habe ich Euren Sängerdialog verfolgt, nachgedacht – und im Gedächtnis und Altpapier gekramt … Mit dem Schubertlied „Lob der Tränen“ hatte ich weit vor der Jahrtausendwende Matthias Goerne „entdeckt“ (eine Aufnahme vom März 1995) und wusste gleich nach den ersten Tönen, dass das nicht irgendein neuer Bariton ist.


    Da liegen nun 17 Jahre dazwischen, logisch, dass ich heute eine andere Stimme höre, was sowohl aus der rein stimmlichen Veränderung als auch aus einem künstlerischen Reifungsprozess oder einer anderen künstlerischen Auffassung zu erklären ist. Selbstverständlich hörte ich mir die angesprochene Aufnahme mit Graham Johnson nochmals an, bevor ich diesen Text eingetippt habe.


    Aber ich fand auch einen kleinen Konzertbericht von den „Schwetzinger Festspielen“ (6. Juni 2003), wo u. a. folgendes gesagt wird:


    „ … dieser Bariton kann mit Pfunden wuchern, und das heißt: Im Zweifelsfall setzt Goerne auf die musikalische Gesamtwirkung, auf Atmosphäre, Stimmungsdichte, inneren Zusammenhalt. Das Einzel-Wort ist ihm nicht ganz so wichtig. Sich wie Fischer-Dieskau dem Text zu nähern, jede Silbe hin- und her zu wenden, ist an diesem Abend seine Sache eher nicht. Er meidet allzu kühle, intellektuelle Höhen und gestaltet aus dem Bauch heraus. Oder erweckt doch immerhin den Eindruck – das ist Goernes Kunst.“

  • Hallo,


    auf den Text - "Nacht und Träume"- was er mir sagt, will ich mich nicht einlassen, das würde zu ausführlich.



    Ausnahmsweise habe ich von diesem Lied 3 Einspielungen - die ich kurz, nach meinem "Ohr", charakterisieren will. Dabei beschränke ich mich auf die Interpretation durch den Sänger. (Aus dem was ich zutreffend, gut interpretiert finde, ist nat. mein Textverständnis z. T. erkenntlich.)


    1. Fischer-Dieskau, Moore, 1970 (Laufzeit 3.27)


    Textverständlichkeit, wie gewohnt, hervorragend; die Stimme in den tiefen Lagen hörenswert, was bei ihm nicht stets der Fall ist, hier aber m. E. durch das getragene Tempo unterstützt wird.
    "Wie dein Mondlicht" einheitliches piano - "Menschen" cresc. dann dimm. - "belauschen" dunkle Stimmfärbung - Akzent auf "rufen" - der klare aber dennoch weiche Stimmausdruck ist für "holde Träume" nat. passend.


    2. Bostridge, Drake, 1998 (Laufzeit 3.37)


    Tenorlage, äußerst legato (mit vielen Bindebögen), Dynamik dem Umfang des Stimmvermögens angepasst? - dadurch Textverständlichkeit eingeschränkt - die Textinterpretation scheint mir, im Gegensatz zu Fischer-Dieskau, etwas mehr dem Wohl-/Schönklang angepasst und verstärkt (ist das wünschenswert?) die Hochromantik des Liedes/Textes.


    3. Schreier, Ragossnig (Laute, auf deren Besonderheit ich nicht eingehe), 1986 (Laufzeit 2.17)


    Tenorlage? - nein, 1 Ganzton unter Fischer Dieskau! - die Tiefen für den "Bach-Tenor" erstaunlich (Aufnahmetechnik?)- wesentlich schnelleres Tempo, ohne Einfluss auf die Textverständlichkeit, Textinterpretation durch das Tempo vermindert.


    Die Reihenfolge entspricht meiner als passend empfundenen Interpretation durch den Sänger.


    Viele Grüße
    zweiterbass

    Wer die Musik sich erkiest, hat ein himmlisch Gut bekommen (gewonnen)... Eduard Mörike/Hugo Distler

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