In seinem Ursprung war der Conductus ( = „Geleit“, Mehrzahl „Conductus“ mit langem „u“ am Ende) entsprechend der Bedeutung des Wortes ein liturgischer Geleitgesang, genauer: ein Gesang zur Begleitung von Ortsveränderungen im Ablauf der Liturgie. Ein Conductus wurde beispielsweise angestimmt, wenn im Gottesdienst das Lektionar feierlich von seinem üblichen Platz zum Ambo (Lesepult) getragen wurde. Später wurden auch Auftrittslieder in „geistlichen Spielen“ als Conductus bezeichnet. Der Conductus konnte schließlich sogar weltliche Funktionen übernehmen.
Die frühesten Exemplare dieser Gattung stammen aus dem frühen 12. Jahrhundert. Der Text ist nicht biblisch, aber zunächst geistlich-erbaulich und meist in Strophen organisiert. Anders als das Organum nimmt der Conductus keinen vorgegebenen Gregorianischen Choral als Grundlage, er ist cantus-firmus-frei. Sehr wohl ist aber der Ausgangspunkt der Komposition der mehrstimmigen Gattungsexemplare die Unterstimme (Tenor), zu der eine bis drei Oberstimmen komponiert werden. Dies verbindet den Conductus mit dem Organum jener Zeit.
Ein weiteres Kennzeichen des Conductus ist der syllabische Stil, d. h. jeder Silbe der Tenorstimme entspricht genau eine Note. Bei sehr festlichen Conductus können Anfang und Ende durch melismatische Abschnitte hervorgehoben sein, d. h. auf eine Silbe kommen mehrere Noten.
Im Unterschied zu mittelalterlichen Motette haben die mehrstimmigen Conductus in allen Stimmen denselben Text, ferner haben die Oberstimmen von kleinen verzierungsartigen Melismen abgesehen auch denselben Rhythmus wie der Tenor.
Insgesamt kennen wir 390 Conductus. Dabei sind die Rundelli, kleine ein- bis zweistimmige geistliche oder weltliche strophische Gesänge, mitgezählt. Es sind allerdings nur drei vierstimmige Conductus überliefert („Vetus abit littera“, „Mundus vergens“, „Deus misertus“).