Ästhetisierende Interpretationen - (??)

  • Wie so oft hier im Forum, ist auch diesmal Wolfram meine Muse - oder mein Stichwortgeber - je nachdem wie man es betrachten will. Das ist durchaus nicht ironisch gemein - wenngleich mir bewusst ist, dass fast alles was ich äussere einen ironischen Unterton hat - sei dies beabsichtigt oder nicht.


    Wolfram schrieb in einem anderen Thread:


    Zitat

    Hm. Bei Mozart besteht natürlich die Gefahr, dass man (vor allem bei Vorliebe für ästhetisierende Interpretationen à la Karl Böhm) an der Oberfläche hängen bleibt und gar nicht zu den Schichten vordringt, die Arbeit bedeuten könnten. Von Beethoven und Schubert mal ganz zu schweigen.

    Ich frage mich, ob dies nicht gerade den Reiz Mozarts ausmacht - aber das ist ein Nebenthema.
    Der Begriff "Ästhetisierende Interpretationen" war es , der mich quasi elektrisierte – und zu diesem Thread inspirierte
    Es tut mir wirklich leid, daß Karl Böhm nicht mehr zu einigen, sich hieraus ergebenden Fragen Stellung nehmen kann - Fragen die es zu seinen Lebzeiten scheinbar nicht gegeben hat - oder man hat sich nicht getraut sie ihm zu stellen.....


    "Ästhetisierende Interpretationen" klingt heute fast wie ein Schimpfwort – etwa vergleichbar mit „Elite“ oder „Bourgeoisie“ – Wertvorstellungen, auf die man einst stolz war.
    Wer wollte schon ein „Prolet“ sein oder der „breiten Masse“ angehören ?
    Wenn man jedoch heutige Interpretationen hört, heutige Kreationen jeglicher Sparte sieht oder hört, der wird sehen müssen, dass das Diktat der Hässlichkeit anscheinend die Oberhand gewonnen hat.


    Das Zitat enthält noch den Passus „..und gar nicht zu den Schichten vordringt, die Arbeit bedeuten könnten..“
    Ich meine, dass kein Hörer von Mozart zu diesen Schichten wirklich vordringen will – allenfalls ein ausführender Musiker. Mozarts Musik wurde für den Adel und das gehobene Bürgertum geschrieben – und zwar zu deren „Unterhaltung“ – Nur vereinzelte Kenner setzten sich mit den Werken tiefer auseinander – und kam dabei zu unterschiedlichen Ergebnissen …….


    Böhms Mozart galt zu dessen Lebzeiten übrigens nicht als „ästhetisierend“ – sondern als „sachlich“. Ich würde persönlich sagen, dass er den Werken ihre Eleganz lässt und sie leicht betont, während man bei heutigen Interpetationen oft den Eindruck hat, man wolle gewisse Komponisten durch „vulgäre!“ Interpretationen für ein Popmusikpublikum aufbereiten…..


    Neben Karl Böhm fällt mir noch Herbert von Karajan ein, dessen Interpretationen (erst nach seinem Tod) gelegentlich als „schönfärberisch“ bezeichnet wurden , als zu „poliert“.


    Ich bin gespannt ob man andere Dirigenten auch diesem "Vorwurf" aussetzen möchte...


    mit freundlichen Grüßen aus Wien
    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Böhms Mozart würde ich auch nicht als "ästhetisierend "charakterisieren (obwohl ich ebenfalls der Ansicht bin, dass zB bei den Sinfonien nicht annähernd das Potential der Werke erreicht wird).


    Aber ich finde "ästhetisierend" durchaus verständlich (auch wenn es kein Ausdruck meiner Wahl wäre).
    Man könnte mit guten Gründen dafür argumentieren, dass zB ein Lied von Schubert "schlichter" vorgetragen werden sollte als eines von Wolf. Eine bestimmte Art des Vortrags, die wir beim Wolf angemessen fänden, könnte uns beim Schubert übertrieben, verkünstelt, insgesamt verfehlt erscheinen.


    Das Problem ist hier, wie immer bei solchen Dingen, dass es um Nuancen geht, über die man schlecht pauschal urteilen kann. Außer in extremen Fällen wird man sich vielleicht nicht einmal auf der Beschreibungsebene einig werden. Ohne Frage ist Differenzierung und Aufmerksamkeit für Details oft etwas gutes und "bloßes Runterspielen" kann oft unangemessen sein.
    Aber es gibt m.E. klarerweise Fälle, in denen die Gefahr des "Wald vor Bäumen" nicht zu sehen besteht. Musik, die eine gewisse Schlichtheit oder einen kraftvoll-lapidaren Zugriff fordert oder eben auch Schroffheit. (Eine Pyramide mit Rankenwerk verziert wäre albern.). Klemperers Interpretationen zB wären für mich oft Musterbeispiele für "Nicht-Ästhetisieren".


    Natürlich gibt es auch Musik, die einen sehr nuancierten Zugriff verlangt und in manchen Fällen kann es sicher ein überzeugendes Spektrum unterschiedlicher Interpretationen geben. Wie gesagt, Nuancen. Auch bei Wolf, Chopin oder Debussy würden wir vielleicht manche Interpretationen als "überfeinert", "parfümiert" kritisieren, selbst wenn uns hier eine Weise der Verfeinerung angemessen scheinen mag, von der wir meinen würden, dass sie zB Beethoven oder Dvorak "verzärteln" würde. Freilich besteht die Gefahr, dass ein Interpret bei Beethoven eine solche Richtung einschlägt wohl weniger als bei Mozart oder Debussy.

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
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    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • Johannes differenziert nach Komponisten, die das vertragen und solchen, bei denen das weniger passt. Hier kann ich eher etwas beitragen. Ich kenne einen Komponisten, bei dem ich inzwischen "ästhetisierende Interpretationen" nicht mehr hören mag:
    Igor Strawinsky
    Seine Werke sollten so nüchtern und trocken vorgetragen werden, dass es den meisten (sich selbst verwirklichen wollenden?) Dirigenten wohl grausen mag. Fängt man hier an, delikat zu gestalten, verliert das Ergebnis an Stringenz und Direktheit. Ein angezuckerter Strawinsky ist für mich ungenießbar.
    Zum Glück gibt es diese Aufnahmen (unter Strawinsky/Craft):

    DAS ist Strawinsky.

  • Ich würde persönlich sagen, dass er den Werken ihre Eleganz lässt und sie leicht betont, während man bei heutigen Interpetationen oft den Eindruck hat, man wolle gewisse Komponisten durch „vulgäre!“ Interpretationen für ein Popmusikpublikum aufbereiten…


    Ich ersuche um ein Beispiel für eine "vulgäre" Interpretation.

    Ciao


    Von Herzen - Möge es wieder - Zu Herzen gehn!


  • Zitat

    Ich ersuche um ein Beispiel für eine "vulgäre" Interpretation.


    Kein Problem.


    Ich empfand Zinmans Gesamtaufnahme der Beethoven Sinfonien als ausgesprochen ruppig, ungehobelt, vulgär.
    Ähnliches gilt für zahlreiche Aufnahmen aus dem Hipp-Bereich. siehe Rosetti mit dem Concerto Köln.


    Der Liebreiz dieser Aufnahmen wird unter Bamert mit den London Mozart Players, Pasquet und der Neubarndenburger Philharmonie, und last but not least unter Moesus mit den Hamburger Symphonikern erst offenbar., während ich bei Concerto Köln ein schrilles, nervöse Gezapple vernehme, das zum Abdrehen reizt.....


    mit freundlichen Grüßen aus Wien
    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



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  • Ich empfand Zinmans Gesamtaufnahme der Beethoven Sinfonien als ausgesprochen ruppig, ungehobelt, vulgär.

    Völliger Quatsch. Die Adjektive ruppig und ungehobelt für ein Orchesterspiel bereits grenzwertig, aber unter vulgär verstand ich bisher was anderes (Literatur, Sprache, usw.). Vulgäres Orchesterspiel (Interpretation) von normalen Orchestermitgliedern, gibt es so etwas wirklich. Im Übrigen sind ist die GA der Beethoven-Sinfonien unter Zinman in der Kritik so schlecht nicht weggekommen und die Worte ruppig, ungehobelt und vulgär habe ich nirgendwo gelesen. Bei unserem Werbepartner amazon sind 13 Kundenrezensionen eingegangen. Positiv: fulminant, sensationell, lebendig, spritzig, frisch, nervig geladen, spürbar ambitioniertes Dirigat, brillant, erstklassig, absolutes Spitzenniveau, kleine Sensation. Aber auch: wenig überzeugend, ein Ärgernis, zu Tode geeilt.


    Alfreds Formulierungen sind hier nicht zu finden. Trotzdem ist das Orchester hervorragend, und nicht erst seit Zinman; auch Rosbaud, Kempe, Albrecht und Eschenbach waren hier Chefdirigenten.


    Eine Schlussbemerkung noch. Im Thread "Grandiose Troika? Das Tonhalle Orchester, David Zinman und Arte Nova" waren die Einlassungen von A. Schmidt verhaltener, beim Violinkonzert, den Klavierkonzerten und dem Trippelkonzert sogar positiv. Und nun das? ?(


    LG, Bernward


    "Nicht weinen, dass es vorüber ist
    sondern lächeln, dass es gewesen ist"


    Waldemar Kmentt (1929-2015)


  • Zitat

    Völliger Quatsch

    Ich würde eindringlich bitten sich wieder des tamino-üblichen Vokabulars zu befleissigen - vor allem im Umgang mit mir - aber natürlich auch allgemein. Es beginnt sich hier allmählich ein Ton einzuschleichen, der allenfals einer Kantine einer Fabrik angemessen ist.... und das gilt natürlich auch ganz allgemein....
    Ironisch ausgedrückt, könnte ich behaupten, da jemand , der sich dem Vorsitzenden eines Forum mit solchem Vokabular nähert, gar nicht in der Lage ist festzustellen was "vulgär" ist und was nicht.



    Zitat

    Im Übrigen sind ist die GA der Beethoven-Sinfonien unter Zinman in der Kritik so schlecht nicht weggekommen und die Worte ruppig, ungehobelt und vulgär habe ich nirgendwo gelesen.

    Das glaube ich gerne. Nicht nur beim Regietheater hat - vor allem die deutsche Kritik - eine Vorliebe fürs "Gemeine" - Schon das Wort "elitär" gilt heutzutage ja als negativ.....
    2005 war auch ich noch "verhaltener" und kleidete meine Kritiken - auch meine Verrisse - in Samt.
    Heute hätte ich Angst, daß das niemand mehr versteht....
    Es ging hier aber nicht darum, die Aufnahme zu rezensieren - sie wurde lediglich als Beispiel gebraucht...


    mit freundlichen Grüßen aus Wien
    Alfred Schmidt
    Forenleitung

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • "Ästhetisierende Interpretationen" klingt heute fast wie ein Schimpfwort

    Lieber Alfred, da Du den Begriff von mir aufgegriffen hast, will ich kurz etwas dazu sagen, wie es gemeint war.


    Eine Interpretation würde ich „ästhetisierend“ nennen, wenn sie einem Werk eine Ästhetik aufpfropft, die der des Komponisten nachweislich fremd ist. Zum Beispiel, wenn man Musik des Barock mit der Ästhetik des 19. Jhds. wiedergibt. Oder wenn man spätestromantische Klaviermusik auf einem Cembalo spielt, sofern der Tonumfang dies hergibt und das Pedal ausnahmswese verzichtbar ist. (Den umgekehrten Fall, die Wiedergabe Bachscher Klavierwerke auf einem Steinway des 20. Jhds., nehmen wir ja fast als Normalfall hin.)


    Also ungefähr so, als ob man eine Opernhandlung in ein anderes, werkfremdes Jahrhundert verlegt.


    Ich nenne mal ein paar Beispiele.



    Johann Sebastian Bach: Brandenburgisches Konzert Nr. 3 G-Dur BWV 1048
    Berliner Philharmoniker, Herbert von Karajan, August 1964


    Ich betrachte den Beginn ersten Satzes. Man hört ein großes Ensemble mit breiten Strichen, das Hauptthema wird in einer großen Linie vorgetragen, Wagners „unendliche Melodie“ scheint ganz nahe. Ein echter Einschnitt erfolgt erst beim Einsatz des Concertino. Da ist nichts zu hören von rhetorischem Musizieren, von sprechender Artikulation, von Klangrede, wie sie in allen einschlägigen Quellen – mit freilich unterschiedlichen Akzentuierungen – nachzuweisen sind. Es klingt, als wäre es eine Streicherserenade von Tschaikowsky mit Cembalobegleitung. - Hier wird dem Werk eine werkfremde Ästhetik übergestülpt.



    Ludwig van Beethoven: Sinfonie Nr. 1 C-Dur op. 21
    Wilhelm Furtwängler, Wiener Philharmoniker, November 1952


    Im zweiten Satz geht es mit Achtel = 80 los (Beethoven wollte 120). Das ist nun wirklich starker Tobak: Der ganze Witz der Musik geht flöten, es bleibt ein gemütlich-beschauliches Stück Musik im Dreiachteltakt übrig. Klar: Ist man bereit, die Entstellung des Charakters des Satzes zu akzeptieren, so ist es natürlich großartig gespielt. Dass die Musik einen völlig anderen Charakter erhält als den von Beethoven gewünschten, ist aber auch klar – man höre Einspielungen, die nahe an Beethovens Vorgaben sind (Gardiner, Krivine, Paavo Järvi).


    Natürlich gibt es auch den Fall, dass einem Werk eine Ästhetik einer früheren Zeit aufgesetzt wird, wenngleich dieser nicht so prominent ist wie die Kombination „Musik des 18. Jhds. mit spätromantischer Ästhetik“:



    Maurice Ravel: Diverse Werke
    Anima Eterna, Jos van Immerseel


    Man höre etwa den Anfang des „Prélude à la nuit“ aus der „Rapsodie espagnole“ oder die „Pavane pour une infante défunte“ – völlig vibratolos. Immerseel beruft sich darauf, dass dies zu Ravels Zeit in Frankreich so üblich gewesen sei. Diese Behauptung kann mühelos mit einschlägigen Aufnahmen widerlegt werden. Hier werden Klangvorstellungen und Spielweisen des späten 18. Jhds. und des frühen 19. Jhds. auf Ravels Musik angewendet. Klingt interessant, ist aber nicht den Werken gemäß. (Dass Immerseel Instrumente aus Ravels Zeit verwendet, beginnend bei Streichinstrumenten mit Darmsaiten über den Erard-Flügel bis zur Celesta, ist natürlich allen Lobes wert!)



    Wenn man jedoch heutige Interpretationen hört, heutige Kreationen jeglicher Sparte sieht oder hört, der wird sehen müssen, dass das Diktat der Hässlichkeit anscheinend die Oberhand gewonnen hat.

    Die Ursache von Alfreds Wahrnehmung scheint mir tiefer zu liegen. Jede Generation, die das gesetzte Mittelalter erreicht hat, findet die Kleidung und die Musik der dann heranwachsenden Jugend hässlich. Wieland Wagner wurde für seine Inszenierungen der frühen Nachkriegsjahre in Bayreuth angegriffen. Die Wiedergabe des Eingangschores in Harnoncourts erster Einspielung der Matthäus-Passion wurde als „Hexentanz“ bezeichnet - heute kann man diese Einspielung als völlig harmlos bezeichnen. Man könnte viele weitere Beispiele anführen.


    Das Phänomen ist zeitunabhängig ein allgemeines Phänomen älter werdender Menschen, denen es offenbar nicht gegeben war, ihre geistige Beweglichkeit zu bewahren. (Gegenbeispiele wären etwa Boulez und Messiaen.)


    Es ist Alfreds gutes Recht, zu sagen, dass „heutige Kreationen jeglicher Sparte“ unter dem „Diktat der Hässlichkeit“ stehen. Wenn das seine ehrliche Meinung ist – bitteschön! Er lebt in einem Land mit freier Meinungsäußerung und macht davon Gebrauch. Warum nicht.



    Das Zitat enthält noch den Passus „..und gar nicht zu den Schichten vordringt, die Arbeit bedeuten könnten..“
    Ich meine, dass kein Hörer von Mozart zu diesen Schichten wirklich vordringen will – allenfalls ein ausführender Musiker. Mozarts Musik wurde für den Adel und das gehobene Bürgertum geschrieben – und zwar zu deren „Unterhaltung“ – Nur vereinzelte Kenner setzten sich mit den Werken tiefer auseinander –

    Das ist eine üble Vereinfachung, denn Alfred weiß es besser. Mozarts Musik wurde nicht nur „für den Adel und das gehobene Bürgertum geschrieben – und zwar zu deren Unterhaltung“. Sicher dies auch – und Mozarts Vater schärfte dem jungen Komponisten ein, nicht das beim Komponieren zu vergessen, „was die langen Ohren (gemeint sind Esel) kitzelt“. Die Mozarts wussten schon, was sie für Kenner schrieben und was sie hinzufügten, damit auch andere zufrieden sind.


    Mozart schrieb über die Klavierkonzerte Nr. 11 und Nr. 12 an seinem Vater: „Die Concerten sind eben das Mittelding zwischen zu schwer und zu leicht. Sie sind sehr brillant - angenehm in die Ohren - natürlich ohne in das Leere zu fallen. Hie und da können auch Kenner allein Satisfaction erhalten - doch so - dass die Nichtkenner damit zufrieden sagen müssen, ohne zu wissen warum."


    In Sätzen wie „ohne zu wissen, warum“ klingt zumindest mal eine gewisse Distanz zu den „Nichtkennern“ an.


    Man höre Mozarts Haydn-Quartette, um zu hören, wie Mozart komponierte, wenn es für „Kenner“ gemeint war.

  • Wie es der Zufall will - kaum habe ich obigen Beitrag abgeschickt, schmökere ich ein wenig in "Kaisers Klassik". Das ist eine Zusammenfassung seiner Kolumnen in den "Bunten", in denen er Woche für Woche Einspielungen für Werke des Standard-Repertoires empfohlen hat, in der Regel jeweils drei.


    In dem Beitrag, der den "Vier Jahreszeiten" Vivaldis gewidmet war, schrieb er:

    Zitat von Joachim Kaiser

    Anne-Sophie Mutter, Herbert von Karajan und die Berliner Philharmoniker geben eine hochdifferenzierte, betörend schöne Deutung der Vivaldi-Konzerte. Man spielt weniger herb und barockstreng als vielmehr üppig, zart, sensibel. Die Reinheit des erlesenen Geigenspiels der Anne-Sophie Mutter ist unvergleichlich und kann süchtig machen. Da darf kein Köter laut dazwischen bellen. Luxuriöse Schönheit im Geist des 19. Jahrhunderts triumphiert.

    Kann man eine Interpretation auf liebevollere Weise "ästhetisierend" nennen? Und Kaiser fügt die notwendige ironische Brechung gleich hinzu: "Da darf kein Köter laut dazwischen bellen." Das wendet sich an diejenigen, die die Partitur kennen - denn Hundegebell ist laut Partitur darin vertont. Mit anderen Worten: Wenn man den Hund nicht bellen hört, dann stimmt etwas mit der Interpretation nicht.


    Und worin das Lob liegen soll, wenn die Wiedergabe eines Werkes von Vivaldi "im Geist des 19. Jahrhunderts" erfolgt, ist auch völlig unklar.


    So subtil kann man eine Aufnahme verreißen und gleichzeitig bei derjenigen Leserschaft, die nach "luxuriöser Schönheit im Geist des 19. Jahrhunderts" sucht, punkten - eine hohe Kunst! Herrlich!


    :hello:

  • Wolfram hat einige Beispiele genannt, die man mehr oder minder klar als "stilistisch unpassend" charakterisieren kann. Nun geht es sehr oft allerdings um feinere Unterschiede, bei denen man sich nicht so leicht einigen dürfte und natürlich sind wir meistens der Ansicht, dass es ein gewisses Spektrum stilistisch (oder überhaupt) angemessener Interpretationen gibt. Selbst wenn keine HIP-Einspielung so klingen wird wie Mutter/Karajan, so wird man auf denen auch nicht überall den Hund gleichermaßen deutlich bellen hören usw. Und was für den einen eine angemessene Umsetzung des Bellens ist, ist für den anderen eine "hässliche" Übertreibung.


    Wie man so etwas einordnet, ist häufig erst einmal schlicht Gewohnheitssache. Das Hören unterschiedlicher Interpretationen sollte einen allerdings für diese Vielfalt sensibilisieren und dazu bringen nicht gleich alles, was anders ist als gewohnt, als "falsch", "vulgär" usw. abzukanzeln.


    Zinmans Beethoven-Sinfonien halte ich zwar für interessant, aber auch eher überschätzt. Der Klang mag etwas ruppiger sein als Karajan, aber sicher kaum derartig wie bei einigen HIP-Aufnahmen. Meine Probleme sind hier eher, dass Zinman oft "nur schnell" ist, was auf mich oft etwas zu leichtgewichtig wirkt und etliche Manierismen, die teilweise wohl mit der kritischen Neuausgabe begründet werden, auf mich aber teils albern wirken. So etwa Solo-Streicher bei den ersten Variationen im Eroica-Finale und einige seltsame Verzierungen in Einleitung und larghetto der 2. Sinf.
    Aber natürlich sollte man bei Beethoven eher in Richtung "ruppig" und "vulgär" irren als in Richtung "parfümiert" und "verfeinert". :D

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  • Zitat

    Aber natürlich sollte man bei Beethoven eher in Richtung "ruppig" und "vulgär" irren als in Richtung "parfümiert" und "verfeinert". :D


    Werter Johannes,


    das ist schön ausgedrückt und passt.


    Vielleicht ist eine ästhetisierende Interpretation ja auch der Wille, eine bestimmte Musik einem großen Publikum "schmackhaft und verdaulich" zu machen.


    Nur: Wir sind kein großes Publikum mehr. "Wohlfühlgeschmäcker" werden durch andere Musikstile und Darstellungsarten bedient. Man flüchtet heute nicht mehr in eine Simphonie von Beethoven, um zu "chillen". Heute geht man in eine Wohlfühloase und lässt sich von Gedudel berieseln.


    Wenn Beethoven nicht nur in der Europa-Hymne in Zukunft gespielt werden will, dann müssen die Stärken seiner Musik in der Interpretation zum Tragen kommen. Und die liegen nun mal nicht im seichten Wohlfühlklang, mit dem man sowieso keine Generation locken kann, die mit elektronischer Musik und E-Gitarren groß geworden ist.

  • Zitat

    Aber natürlich sollte man bei Beethoven eher in Richtung "ruppig" und "vulgär" irren als in Richtung "parfümiert" und "verfeinert"


    Ich kenne eigentlich keine Interpretationen von Beethovens Sinfonien, die diesem - oftmals zitierten - Clicheé entsprechen würden. Den Gegenpol zu den "ruppigen" und "vulgären" stellen am ehesten "strahlende", "majestätische" und "gigantische" Realisierungen dar. Beethoven, der Titan - das ist was man damit verbindet - und dieses Beethovenbild ist meiner Meinung nach unauslöschlich. Ein Kritiker schrieb über Klemperers Aufnahmen: "Beethoven wie in Stein gemeisselt"......


    Aber auch Mozart wurde seltener als behauptet "parfümiert" dargestellt, am wenigesten von Karl Böhm, der zu den "sachlichen" Mozart Interpreten gehört. Wenn schon, dann eher von Neville Marriner.
    Krips dirigierte bei aller Tonschönheit, eine strengen, straffen Beethoven, Szell einen herben fast militärischen - aber dennoch nicht unangenehm klingenden. Man könnte die Liste fortsetzen. Und vielleicht sollten wir das in einem Thread über Interpretation von Mozart-Sinfonien auch machen.....


    mfg
    aus Wien
    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Zitat

    Beethoven, der Titan - das ist was man damit verbindet - und dieses Beethovenbild ist meiner Meinung nach unauslöschlich. Ein Kritiker schrieb über Klemperers Aufnahmen: "Beethoven wie in Stein gemeisselt"......


    Hallo Alfred,


    ist eine solche Steinverehrung heute noch zeitgemäß?


    Sollte man nicht die Qualität der Komposition in einer Interpretation im Zusammenhang mit einer der Qualität der Ausführenden angepassten Tempogestaltung in direkte Konkurenz zu anderen Komponisten setzen und dort bewähren lassen?

  • Ich empfand Zinmans Gesamtaufnahme der Beethoven Sinfonien als ausgesprochen ruppig, ungehobelt, vulgär.



    Zinman ist generell sehr flott unterwegs, manchmal für meinen Geschmack zu flott. Dabei geht das Tonhalle-Orchester nie über seine Möglichkeiten hinaus und spielt eigentlich sehr klangschön. Dennoch muss einem diese Art Interpretation nicht gefallen - aber da ist NICHTS ruppig, ungehobelt oder vulgär!

    Ciao


    Von Herzen - Möge es wieder - Zu Herzen gehn!


  • Seit wann sind denn die heutigen konservierten Interpretationen von Harnoncour, Christie, Muti, Abbado, Levine u.ä. , verglichen mit den frühen Mozartaufnahmen von Böhm, wo er noch Sänger wie Della Casa, Schwarzkopf, Ludwig und London zur Verfügung hatte, vulgär.
    Während die frühen Böhm Mozartinterpretation wenigsten noch spannend und durchdacht klangen, klingen die modernen doch höchstens noch langweilig.
    Vulgär mag hier höchsten noch das sein, was einem auf der Bühne visuell vor Augen geführt wird, und das sind zum größten Regisseure die keinen blassen Schimmer haben worum es in den Werken überhaupt geht, Haupsache sie können uns ihre verkorksten Kindheitstraumata vorführen, anstatt damit zum Psychater zu gehen, wo sie eigentlich hingehören.

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  • Maurice Ravel: Diverse Werke
    Anima Eterna, Jos van Immerseel


    Man höre etwa den Anfang des „Prélude à la nuit“ aus der „Rapsodie espagnole“ oder die „Pavane pour une infante défunte“ – völlig vibratolos. Immerseel beruft sich darauf, dass dies zu Ravels Zeit in Frankreich so üblich gewesen sei. Diese Behauptung kann mühelos mit einschlägigen Aufnahmen widerlegt werden. Hier werden Klangvorstellungen und Spielweisen des späten 18. Jhds. und des frühen 19. Jhds. auf Ravels Musik angewendet. Klingt interessant, ist aber nicht den Werken gemäß. (Dass Immerseel Instrumente aus Ravels Zeit verwendet, beginnend bei Streichinstrumenten mit Darmsaiten über den Erard-Flügel bis zur Celesta, ist natürlich allen Lobes wert!)


    Ich habe die Aufnahme der "Rapsodie espagnole" mit dem Cleveland Orchester unter Ashkenazy (auch bei YouTube zu hören) und habe mir div. weitere YouTube Aufnahmen angehört, die für mich ziemlich ähnlich klingen wie die Aufnahme aus dem Beitrag, aus welchem das Zitat stammt.


    Ich zitiere aus Wikipedia:
    "Am 15. März 1908 kam die Rapsodie espagnole im Rahmen der von Edouard Colonne geleiteten „Concerts Colonne“ erstmals zur Aufführung. Das Abonnement-Publikum hatte wohl angesichts des Musiktitels eine Darbietung in der Art von Saint-Saëns’ Havannaise oder Rimski-Korsakows Capriccio espagnol mit pseudo-folkloristischen, schmissigen Effekten erwartet und sah sich enttäuscht..."


    Könnte es sein, dass Ravel (seine Mutter war Baskin) span. inspirierte und von ihm auch so komponierte Musik (obwohl er zeitlebens in Frankreich lebte) klanglich anders zu Gehör bringen wollte, als seine sonstigen Orchesterwerke? Dann kämen einige Interpretationen seinem (möglichen?) Wunsch nahe.


    Viele Grüße
    zweiterbass (815)

    Wer die Musik sich erkiest, hat ein himmlisch Gut bekommen (gewonnen)... Eduard Mörike/Hugo Distler

  • Wir sind mit diesem Thread ein wenig vom usprünglich angedachten Thema abgekommen, welches zugegebenermaßen von mir auch nicht allzu scharf formuliert war. So stelle ich diesmal die Frage direkt: Welche Aufnahmen würdet Ihr zu den "ästhetisierenden" Interpretationen zählen. ?
    Nein - auch das ist zu allgemein, denn dahinter lauern noch einige weitere Fragen :


    Was versteht der einzelne unter einer "ästhetisierenden" Interpretaion ?
    Ist dies ein Negativ- oder ein Positivbegriff - oder ist er vielleicht sogar wertfrei ?
    Welche Auswirkungen hat das auf das Werk an sich?
    Wie steht jeder einzelne von Euch dazu ?
    Oder gibt es vielleicht gar keine "ästhetisierenden Interpretationen ?


    mit freundlichen Grüßen aus Wien
    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Oder gibt es vielleicht gar keine "ästhetisierenden Interpretationen ?


    Seine Werke sollten so nüchtern und trocken vorgetragen werden, dass es den meisten (sich selbst verwirklichen wollenden?) Dirigenten wohl grausen mag. Fängt man hier an, delikat zu gestalten, verliert das Ergebnis an Stringenz und Direktheit. Ein angezuckerter Strawinsky ist für mich ungenießbar.


    Also, ich kann mit dem Begriff wenig anfangen und finde ihn nicht hilfreich. Wenn ich die Vorgabe von KSM unter Beitrag 3 nehme, wären also die Stravinskyinterpretationen von Pierre Boulez "ästhetisierend". Was soll mir das sagen?

  • Ein passendes Beispiel hatte ich garade heute im Silvestre Revueltas-Thread anhand der Salonen-Aufnahme (SONY) beschrieben.


    Hier interpretiert Salonen auf der SONY-CD von 1998 sehr sachlich, sauber ästhetisch , sauber durchhörbar - aber langweilig indem er mehr "buchstabiert" ! - Emotionen, Gefühle bleiben aussen vor.
    Das hört sich für mich "ästhetisierend" an - - von daher klare Aussage, dass "ästhetisierend" für mich einen negativen Touch hat.
    :thumbsup: Ich will es packend mit Sidehitze hören, ja - von mir aus ohne Ästhetik !
    Deshalb schätze ich ja die russischen Orchester-Aufnahmen so hoch - weil die deutlich weniger Ästhetik haben, als die "Westorchester".


    Welche Auswirkungen hat das auf das Werk an sich ? Antwort: Für dieses Beispiel - auf jeden Fall = Langeweile !

    Gruß aus Bonn, Wolfgang

  • Das ist natürlich eine Geschmacks- und Mentalitätsfrage. "Ästhetisierend" ist in meinen Augen niemals "langweilig" sondern eben "schön", "erhaben","strahlend" oder "elegant"
    Hier kommen natürlich auch nationale Vorlieben zum Tragen. Ich erinnere mich, daß ich mich in meiner Jugend immer über die deutschen Kritiker ärgerte, welche es lobetn, wenn eine Interpretation "die Strukturen freilegte" oder "den Notentext hinterfragte" Völlig anders sind hier österreichische und englische Kritiker, wo die Schwerpunkte anders gesetzt sind.
    Ich erinnere mich dunkel, daß insbesondere berühmte Dirigenten kleine Korrekturen an der Partitur von Werken vorgenommen haben, insbesondere wurden "mißglückte Übergänge", also solche, die schroff oder unangenehm waren, abgemildert und für das P.T. Publikum genießbar gemacht.....


    mfg aus Wien
    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



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  • Teleton schrieb:

    Zitat

    Ich will es packend mit Sidehitze hören, ja - von mir aus ohne Ästhetik !


    Irgendwie vertritt Teleton hier eine Linie, die ich in meiner Jugend stets als "typisch Deutscher Kritikergeschmack" titulierte.
    Ein Haydn mit Siedehitze ?
    Mozart ohne Ästetik ?
    Ein "unwienerischer" Schubert ?
    Ein Chopin ohne "Parfüm ?"


    ist wie ein unpathetischer Schiller....... :P


    Deutsche Kritiker (und vermutlich nicht nur sie) haben es immer schon verstanden, Interpreten zu loben,die einen rauhen oder schrillen Klang, überhetzte Tempi und betonte Bruchstellen bevorzugten, ebenso wie das "Freilegen kompositorischer Strukturen" - währen österreichische und auch englische Kritike üblicherweise dem schönen Klang den Vorzug gaben. Schöner Klang hat mit Langeweile nichts zu tun, aber das Werk wirkt auf den Zuschauer auf andere Weise.


    MUSik leitet sich ja von den MUSen ab, auch das Wort MUSeal un MUSeum letet sich davon ab. Ich verbinde damit (überirdische) Schönheit, Erbauung, Eleganz (oder besser: Elegance) sowie generell positive Gefühle....


    mit freundlichehn Grüßen aus Wien
    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Musik und ihre Interpretation hat Gott sei Dank viele Facetten, Auslegungen und Möglichkeiten der Gestaltung. Auch ich bin ein Anhänger des Schönklangs - wobei Musik immer ästhetisch sein sollte. Erst kürzlich hörte ich Strawinskys "Feuervogel" unter Gustavo Dudamel im Rundfunk, das Orchester habe ich vergessen. Da wurde mit einer Rasanz, einem Tempo, einer Kraft, mit glühenden, brennenden Farben, mit einer wahrscheinlich gewollten Schroffheit und nahezu ungebändigten Wildheit musiziert, so dass die Verträumtheit des ersten Bildes völlig verloren ging. Von Schönklang also keine Spur. Dennoch war es eine Aufführung, die meine Frau und mich mitgerissen hat und das berühmte Gänsehautgefühl erzeugte und eine längere Diskussion auslöste. Wie also soll Musik sein?


    Herzlichst
    Operus

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