Heinrich Schütz (1585-1672):
WEIHNACHTSHISTORIE
für Soli, Chor und Instrumente, SWV 435
Originaltitel des Erstdrucks von 1664:
HISTORIA, DER FREUDEN- UND GNADENREICHEN GEBURTH
GOTTES UND MARIEN SOHNES, JESU CHRISTI,
UNSERES EINIGEN MITLERS, ERLÖSERS UND SEELIGMACHERS.
Wie dieselbige Auff gnädigste Anordnung
Churfl. Durchl. zu Sachsen. ec. H. Johann Georgen des Andern,
Vocaliter und Instrumentaliter in die Musik versetzet worden ist
Von Henrico Schützen,
Churfl. Durchl. zu Sachsen ec. ältisten Capel-Meistern.
GESANGSSOLISTEN
Der Evangelist (Tenor)
Ein Engel (Sopran)
Drei Hirten (Alte)
Drei Könige (Tenöre)
Vier Hohepriester (Bässe)
König Herodes (Baß)
Gemischter vierstimmiger Chor
INHALTLICHE INFORMATIONEN
Schütz gliederte die „Historia“ in acht Intermezzi, die von einer Introduktion/Sinfonia
Die Geburt unsres Herren Jesu Christi,
wie uns die von den heiligen Evangelisten beschrieben wird
und dem Beschluß (der deutschen Fassung einer lateinischen Weihnachtssequenz)
Dank sagen wir alle Gott unserm Herrn Christo, der uns mit seiner Geburt hat erleuchtet und uns erlöset hat mit seinem Blute von des Teufels Gewalt.
Den sollen wir alle mit seinen Engeln loben mit Schalle, singen: Preis sei Gott in der Höhe
umrahmt werden, zwischen denen der Evangelist die Weihnachtsgeschichte nach Lukas und, zum kleineren Teil, nach Matthäus, vorträgt. Diese bekannten Texte hier inhaltlich zu beschreiben ist unnötig, weil gerade die Weihnachtsgeschichte Allgemeingut geworden und fest im Bewußtsein des Volkes verankert ist. Der die Rahmensätze begleitende Instrumentalkörper setzt sich aus Streichern, Fagotten, Posaunen und Orgel zusammen.
Die genannten acht Intermezzi sind die Wortäußerungen der „Interlocutori“, also der handelnden Personen wie der/die Engel, die Hirten, die drei Weisen, die Hohenpriester und König Herodes; ihre Worte lassen sich überschreiben mit
(1) Verkündigung der Engel an die Hirten (Fürchtet euch nicht, Lukas 2, 10 und 11)
(2) dem Lobgesang der Engel (Ehre sei Gott in der Höhe, Lukas 2, 14)
(3) die Hirten auf dem Felde (Lasset uns nun gehen, Lukas 2, 15)
(4) die Drei Weisen aus dem Morgenland (Wo ist der neugeborne König, Matthäus. 2, 2)
(5) die Hohenpriester (Zu Bethlehem im jüdischen Lande, Matthäus 2, 5 und 6)
(6) König Herodes (Ziehet hin, und forschet fleißig nach dem Kindlein, Matthäus 2, Vers acht)
(7) Traum Josephs zur Flucht (Stehe auf und nimm das Kindlein, Matthäus 2, 13)
(8) Der Traum zur Rückkehr (Stehe auf […] und zeuch hin in das Land Israel, Matth. 2, 20.
Für diese solistischen Einschübe verwendet Schütz mit großer musikalischer Phantasie ein charakteristisches Instrumentarium: Den Verkündigungsworten der Engel an die Hirten auf dem Felde ist nicht jubelnder, instrumentaler Glanz beigegeben, ebenso die Traumsequenzen, in der Joseph durch den Engel erst die Flucht nach Ägypten und dann die Rückkehr nach Israel befohlen wird, sondern sie sind immer durch volksliedhafte Klänge ausgedrückt. Nur das „Ehre sei Gott“, das von der „Menge der himmlischen Heerscharen“ verkündet wird, enthält weihnachtlichen Glanz: Der sechsstimmige, von Streichern umspielte Chorsatz, verströmt in weichen Akkorden eine wunderbare Leuchtkraft, wobei Schütz von der Haupttonart F-Dur aus durch verwandte und doch wieder kontrastierende Tonarten wie B-Dur, D-Dur, g-Moll, c-Moll und C-Dur wandert.
Die von drei Altistinnen vorgetragenen Hirtenworte untermalt Schütz mit Blockflöten, den typischen Hirten-Instrumenten (dem aber noch ein Fagott als Baß-Fundament beigegeben ist), die mit bukolisch-tändelnden Passagen die Rede begleiten. Die morgenländischen Weisen, von Tenören gesungen, erhalten ihre Würde durch die gemessene Begleitung von Violinen und Bässen. Die Aussage der vier Hohenpriester über den Geburtsort des Jesus-Kindes begleiten zwei Posaunen, die dadurch ihrer Rede Gewicht und Nachdruck verleihen. Herodes äußert sich mit Trompetenbegleitung, den „königlichen“ Instrumenten.
INFORMATIONEN ZUM WERK
Die Weihnachts-Historie gehört zu den Alterswerken von Heinrich Schütz; sie entstand, wie aus dem Originaltitel zu ersehen ist, auf Anregung von Kurfürst Johann Georg II. und besteht aus zehn einzelnen Konzerten (Introduktion, acht Intermedien und Beschluß), zwischen denen der Evangelist die Weihnachtsgeschichte vorträgt.
Anlaß für die Komposition war nicht nur die umfangreiche Neugestaltung der Dresdner Schloßkapelle, sondern auch die damit verbundene Neuordnung der Hofgottesdienste. Möglicherweise hielt es der Kurfürst auch für angebracht, die inzwischen 50 Jahre alten Weihnachtshistorien von Rogier Michael durch ein neues, moderneres Werk zu ersetzen. Und Johann Georg II. war Kenner genug, daß er seinen Kapellmeister Heinrich Schütz als den richtigen Mann für diese Aufgabe ansah. Tatsächlich ist das Werk von Heinrich Schütz zu einem seiner volkstümlichsten Kompositionen geworden.
Die Erstfassung dürfte um 1660 fertig gewesen sein; sie wurde vor der Freigabe zum Druck von Schütz überarbeitet und 1664 gedruckt. Doch auch diese Fassung hat der Komponist noch einmal überarbeitet. Dieser Erstdruck ist allerdings unvollständig, denn die Ausgabe weist lediglich die Noten und Textworte für den Evangelisten aus, alle übrigen Teile bieten nur den Text, aber keine Noten. Das vermutlich vom Dresdner Kantor Alexander Hering stammende Nachwort zu dieser Ausgabe gibt einen Hinweis auf den Hintergrund für diese Unvollständigkeit: Schütz war wohl der Meinung, sein Werk könne nur von fürstlichen Hofkapellen gut ausgeführt werden. Also hielt er die Stimmensätze absichtlich zurück, bot sie jedoch interessierten Musikern zum Kauf (über den Thomaskantor Sebastian Knüpfer oder auch den Kantor Hering) an.
Die Weihnachtshistorie war, wie der Kurfürst es erwartet hatte, tatsächlich „moderner“, denn der Evangelienbericht wurde nicht im alten Choralton, sondern in der Art eines Opernrezitativs mit begleiteten Harmonien, dem „Stylo Recitativo“, vorgetragen. Schütz selber äußert sich in seinem Vorwort folgendermaßen:
(...) Daß diese gantze Handlung von dem Authore auff zwey unterschiedene Chore eingerichtet worden ist, nemblich in den Chor des Evangelisten, und den Chor der Concerten in die Orgel. Des Evangelisten Chor, bestehet in denen dreyen hierbey sich befindenden Abdrücken, deren einer für die Vocal-Stimme, der andere für die Orgel, und der dritte für die Baß-Geige oder Violon gerichtet ist. Und wird der verständige Director zu des Evangelisten Partey eine gute, helle Tenor-Stimme zu erwehlen und gebrauchen wissen, von welcher die Worte (ohne einige Tactgebung mit der Hand) nur nach der Mensur einer vernehmlichen Rede abgesungen werden mögen. Und läßet Herr Author im übrigen, wie weit dieser des Evangelistens im Stylo Recitativo neue, und bißhero in Teutschland seines Wissens, im Druck noch nie herfür gekommene Aufsatz, beydes mit der über die Worte von Ihm geführten Modulation und Mensur, Ihm gelungen oder mißlungen sey, verständige Musicos gerne davon urtheilen. (...)
Nach einem jahrhundertelangen Dornröschenschlaf kam das Werk erst im Zuge der Schütz-Renaissance wieder an den Tag. Philipp Spitta brachte 1885 als Band I seiner Schütz-Gesamt-Ausgabe die Evangelistenpartien der Weihnachts-Historie in Anlehnung an den Erstdruck von 1664 heraus. Die handschriftlich überlieferten Teile wurden 1908 von Arnold Schering in einer anonymen Handschrift in der Universitätsbibliothek von Uppsala entdeckt und noch im gleichen Jahr veröffentlicht. Zwar sind in diesem Exemplar einige Teile doppelt vorhanden, zum Eingangschor fand sich jedoch nur eine Generalbaßstimme, die Arnold Schering für seine Rekonstruktion genutzt hat, um eine aufführungspraktische Fassung bei Breitkopf und Härtel herausgeben zu können.
Den nächsten Versuch einer Rekonstruktion einer Vervollständigung unternahm 1954 Fritz Schöneich für die „Neue Ausgabe Sämtlicher Werke“. 1933 fand Max Schneider in Berlin eine Kopie der Weihnachtshistorie, die als eine Überarbeitung von Schütz aus dem Jahr 1671 anzusehen, aber auch nur unvollständig überliefert ist. Dieser Rekonstruktionsversuch diente den Verlagen Bärenreiter und Eulenburg für ihre Taschenpartituren. Schließlich hat Paul Horn für die Stuttgarter Schütz-Ausgabe nochmals einen Anlauf für eine Neufassung unternommen, die im Jahre 1998 als Druck erschien.
Zu erwähnen ist noch eine Fassung von Arnold Mendelssohn, der 1901 das Werk der Allgemeinheit zugänglich gemacht hatte und in der er, den Anweisungen des Komponisten folgend, die fehlenden Stücke durch eigene Kompositionen ergänzte. Diese Einrichtung der Weihnachts-Historie wurde bis in die 1920er Jahre genutzt und aufgeführt.
© Manfred Rückert für Tamino-Oratorienführer 2012
unter Hinzuziehung folgender Quellen:
Text der Weihnachtshistorie
Oratorienführer von Pahlen, Oehlmann, Harenberg und Leopold
Die Musik in Geschichte und Gegenwart