HÄNDEL, Georg Friedrich zugeschrieben: JOHANNES-PASSION

  • Georg Friedrich Händel (1685-1759) zugeschrieben:


    PASSIONSMUSIK NACH DEM EVANGELISTEN JOHANNES
    für Soli, Chor (SATTB) und Orchester - Libretto von Christian Heinrich Postel


    Erstaufführung am 17. Februar 1704 in Hamburg


    SOLILOQUENTEN


    Evangelist, Tenor
    Jesus, Baß
    Pilatus, Countertenor
    weitere: 2 Soprane, 1 Mezzosopran oder Alt, 1 Tenor und 1 Baß.



    INHALTLICHE INFORMATIONEN


    Nach einer nur sechs Takte kurzen Sinfonia, die mit Grave überschrieben ist, eröffnet ein Choral die Passion

    Ach, wie hungert mein Gemüte/Menschenfreund nach deiner Güte.
    Ach, wie pfleg’ ich oft mit Tränen/mich nach diese Kost zu sehnen!
    Ach, wie pfleget mich zu dürsten/nach dem Trank des Lebensfürsten!
    Wünsche stets, daß mein Gebeine/Sich durch Gott mit Gott vereine!

    der sich allerdings nur in Postels Libretto findet, jedoch nicht vertont wurde.


    Danach trägt der Evangelist in rezitativischer Form den Text der Leidensgeschichte streng nach dem 19. Kapitel des Johannes-Evangeliums vor, und die beginnt mit der Geißelung Jesu. Die Vorgeschichte, die Gefangennahme nach dem Verrat des Judas, Jesu Vorstellung vor dem Hohen Rat, die Verleugnung des Petrus und das erste Verhör vor Pilatus, die im 18. Kapitel berichtet werden, ist ausgelassen. Eingefügt in den Evangelisten-Bericht sind betrachtende Arien, die wörtlichen Äußerungen der im Evangelium genannten Personen wie Jesus und Pilatus, die Chöre der Kriegsknechte und des Volkes.


    Die durch Pilatus befohlene Geißelung Jesu reflektiert der Solo-Sopran mit der F-Dur-Arie (mit einer kurzen Abweichung nach g-Moll, die in dieser Passionsmusik - wie oft beim späten Händel - eine zentrale Rolle spielt):

    Unsre Bosheit ohne Zahl/Fühlt der Heiland, der Gerechte,
    Mehr als selbst der frechen Knechte/Peitschenstreich’ und Geißelqual.
    Klag’, o Mensch, weil du’s verschuldet,/Daß selbst Gott die Geißel duldet!


    Die Kriegsknechte flechten für Jesus eine Dornenkrone, krönen ihn mit den ironischen Worten „Sei gegrüßet, lieber Judenkönig!“ und legen ihm dabei noch das Purpurkleid an. Der Satz besticht durch den Dialog zwischen Chor und Orchester. Ein betrachtendes Duett zweier Soprane („Schauet, mein Jesus ist Rosen zu gleichen“) fällt durch eine kanonartige Satztechnik auf und leitet direkt über zur Gerichtsverhandlung vor Pontius Pilatus.


    Der Statthalter Roms läßt erkennen, daß er an dem Prediger kein besonderes Interesse hat. Daß die Hohenpriester diesen Jesus hassen, interessiert ihn nicht. Was geht es ihn an, daß der Nazarener die Liebe eines ihm fremden Gottes verkündigte, daß er immer wieder die Menschen zur Umkehr aufrief und keine Selbstrechtfertigung gelten lassen wollte? Die „Kreuzige! Kreuzige!“- Rufe der Juden, die durch absteigende Sextakkorde unheimlich und drohend wirken, bügelt er ab: Wenn sie das unbedingt wollen, dann sollen sie ihn doch selber ans Kreuz schlagen. Er jedenfalls findet keine Schuld an diesem Menschen.


    Die Hohenpriester weisen, hier chorisch eingesetzt, auf ihr Gesetz hin, daß der, der sich zu Gottes Sohn macht, den Tod verdient hat („Wir haben ein Gesetz“). Dieser Hinweis veranlaßt Pilatus, Jesus noch einmal zu befragen. Aber der schweigt, und Pilatus weist ihn, sichtlich verärgert, auf seine Macht über Leben und Tod hin. Auf diese Vorhaltung antwortet Jesus, fast gleichgültig, diese Macht habe er nur, weil sie ihm „von oben“ gegeben wurde; unausgesprochen bleibt die Ergänzung: Bilde dir also nicht zu viel ein! Aber auch Pilatus spricht einen Gedanken nicht aus: Dieser Jesus hat ja völlig recht, wenn er erkennt, daß ihm als Statthalter die Macht von Rom gegeben wurde; warum aber verhält er sich nicht dementsprechend? Daß Jesus die Worte „von oben“ ganz anders interpretiert, kommt Pilatus natürlich nicht in den Sinn.


    Eine Sopran-Arie unterbricht hier den Handlungsstrang und wirft einen betrachtenden Blick in die Zukunft:

    Durch dein Gefängnis, Gottes Sohn,/Muß uns die Freiheit kommen;
    Dein Kerker ist der Gnadenthron,/Die Freistatt aller Frommen;
    Denn gingst du nicht die Knechtschaft ein,/Müßt’ unsre Knechtschaft ewig sein.

    Was in der Johannes-Passion von Johann Sebastian Bach als Chorsatz eine zentrale Aussagekraft besitzt, wirkt hier zwiespältig: Einerseits froh durch Hoffnung auf Befreiung aus ewiger Knechtschaft, andererseits aber auch wieder im Rückblick mitleidig. Auffällig ist die Tempoverlagerung in den Zeilen „Muß uns die Freiheit kommen“ und „Die Freistatt aller Frommen“ zu einer erregten Allegro-Stimmung mit Koloraturbildung zu den Worten „Freiheit“ und „Freistatt“.


    Der Chor der Juden „Lässet du diesen los, so bist du des Kaisers Freund nicht, denn wer sich zum Könige macht, der ist wider den Kaiser“ wirkt beunruhigend auf Pilatus. Hatte er zunächst nicht die Absicht, den Hohenpriestern entgegenzukommen, muß er nun erkennen, daß seine Strategie zu einem schnellen Karriereende führen könnte: Sollte der Kaiser in Rom nämlich erfahren, daß er dem Messias, dem neuen Judenkönig, zur Freiheit verholfen hat, ist er das Amt los - wenn es auch unter allen Gouverneursposten die geringste Ausstrahlung hat.


    Pilatus handelt also jetzt sehr schnell: Er stellt dem Volk „euren König“ vor und erreicht damit, daß sie, die sonst alles römische verächtlich ablehnen, Rom-Treue hinausschreien: „Wir haben keinen König denn den Kaiser“! Folgerichtig kommt Pilatus zu dem von Hohenpriestern und Volk erwarteten Urteil: Kreuzigung!


    Abermals wird die Handlung durch eine betrachtende Da-capo-Arie für Baß („Erschüttere mit Krachen“) unterbrochen, in der die Musik die Abgründe in der Natur wie auch in der Menschenseele durch sprunghafte Läufe der Singstimme auszudrücken in der Lage ist.


    Danach versucht Pilatus letztmalig, Unheil von dem Mann abzuwenden, der ihn auf eine seltsame Weise beeindruckt. Aber Volk und Priesterschaft bleiben unerschütterlich bei der Todes-Forderung. Nun geht alles seinen grausamen Gang: Dem Geschundenen wird das Kreuz aufgelegt, das er selber zur Schädelstätte („die da heißet auf Hebräisch Golgatha“) schleppen muß. Dort wird er an dem Balken genagelt, und das grausamen Sterben für den „König der Juden“ beginnt. Der Evangelist weiß auch noch von zwei weiteren Verbrechern zu berichten, die beide mit Jesus, einer zur Linken, der andere zur Rechten, gekreuzigt werden.


    Eine Arie für Mezzosopran („Getrost, mein Herz, hier kannst du Gnad’ umfassen“) sieht und betrachtet das grausame Geschehen mit teilnahmsvollen Worten, strahlt durch Punktierungen Sanftmütigkeit aus und wird instrumental von einem Cello-Solo und Basso continuo begleitet, in das erst beim Nachspiel das volle Tutti einstimmt.


    Der Evangelist setzt seinen Bericht fort mit dem Ärger der Hohenpriester und des Volkes über die Kreuzesinschrift des Pilatus: „Jesus von Nazareth, der Juden König“. Man fordert, diese Inschrift mit den erklärenden Worten zu ergänzen, daß dieser Mensch das behauptet habe. Irgendwann aber, so mag sich Pilatus denken, muß Schluß sein; er besinnt sich auf seine hoheitliche Würde und lehnt kategorisch ab:

    „Was ich geschrieben habe, das habe ich geschrieben“.


    Der an dieser Stelle eingefügte Choral

    Ach, Gott und Herr!/Wie groß und schwer/sind mein begang'ne Sünden!
    Da ist niemand, der helfen kann,/in dieser Welt zu finden

    bringt einen kurzen Moment der Ruhe in das aufgeregte Geschehen, ehe der Evangelist berichtet, daß die Kriegsknechte dem Gekreuzigten die Kleider abnahmen und sie unter sich aufteilten. Diese Szene greift der Tenor in einem Solo nicht nur betrachtend auf, er deutet sie bildhaft um in eine „neue Kleidung“, die Jesus durch seinen Kreuzestod für den Christen erwirbt:

    Du mußt den Rock verlier’n,/daß wir ihn möchten führ’n,
    zum Deckel unserer Sündenschuld.
    Wir müssen ewig Blöße leiden,/wird uns nicht dein Verdienst bekleiden
    mit mehr als väterlicher Huld.


    Der Evangelist erinnert in diesem Zusammenhang an ein altes Schriftwort, daß dieses Geschehen schon vor langer Zeit kannte: „Sie haben meine Kleider unter sich geteilet und haben über meinen Rock das Los geworfen.“ Zwei Tenöre deuten im Duett Jesu Tod bildhaft als wichtige „Erbschaft“ für den Christen:

    Welche sind des Heilands Erben?/Lauter böse Kriegsknecht’.
    Mußt’ er denn nur dafür sterben?/Nein; dem menschlichen Geschlecht,
    das so bösen Buben gleichet,/hat er sich selbst zur Erbschaft dargereichet.


    Die Szene wechselt jetzt nach Golgatha: Der Evangelist erzählt, daß Jesus neben seiner Mutter auch ihre Schwester Maria („Cleophas Weib“), Maria Magdalena und den Jünger sah, den er „lieb hatte“- Johannes. Und der Gekreuzigte weist den Jünger als neuen Sohn seiner Mutter zu, wie sich Maria auch als Mutter eben jenes Johannes sehen soll. Jesu Ausruf, daß er Durst habe, reflektiert der Solo-Sopran mit der Arie „Jesu, wonach dürstet dich“, ehe die Kriegsknechte ihm den Schwamm mit Essig reichen. Jetzt, so sagt der Sterbende, ist alles vollbracht.


    Der Solo-Baß blickt mit der Arie „O großes Werk, im Paradies schon angefangen“ bereits an dieser Stelle in die Zukunft: Der Sieg über den Tod ist für alle Menschen errungen; ein Chorsatz („O Menschenkind, nur deine Sünd’ hat dieses angerichtet“) klagt die Menschen nicht nur an, sondern offenbart ihnen auch die Nutznießerschaft aus diesem Sterben.


    Nun berichtet uns der Evangelist, daß die Juden für das bevorstehende Fest des Rüsttags die Stadt und die Umgebung gerne rein und sauber hätten. Dazu verlangen sie von Pilatus, daß den Gekreuzigten nach alter Sitte die Beine gebrochen werden, um das Sterben zu beschleunigen. Tatsächlich wird den beiden mit Jesus gekreuzigten (vermeintlichen oder wirklichen) Verbrechern diese Tortur angetan, Jesus aber, weil er schon gestorben war, nicht.


    Noch ein anderer Brauch findet Erwähnung: Einer der Soldaten führt mit seinem Speer einen Stich bis in Jesu Körper aus, worauf Blut und Wasser „herausgingen“: Sicher ist sicher, wird sich der Soldat gedacht haben. Der Evangelist legt Wert auf die Feststellung, daß dies alles geschah, weil es in den Schriften schon vor langer Zeit angekündigt wurde: „Ihr sollt ihm kein Bein zerbrechen“ und „Sie werden sehen, in welchen sie gestochen haben.“


    Danach wird von einem gewissen Joseph von Arimathia berichtet, der Pilatus bat, Jesu Leichnam abnehmen zu dürfen, um ihn zu bestatten. Der Statthalter erlaubte es und von dem noch hinzugekommenen Nikodemus wurde der Tote mit „ Myrrhen und Aloen untereinander bei hundert Pfunden“ einbalsamiert, in ein Leinentuch gelegt, wie es bei den Juden Brauch war, und in einem neuen Grab des nahen Gartens bestattet.


    In diese Erzählung sind zwei Duette für Sopran und Tenor eingebettet, die mit einer typisch barocken Ausdrucksweise das Erlebte betrachtend kommentieren: „War das Wasser denn zu schlecht“ ist ein Duett, das den sündigen Menschen aufruft, die eigene Schuld zu erkennen und Jesu Tod als die Reinigung von eben jener Schuld anzunehmen. Dagegen wird im Duo „Ich gehe mit ins Grab“ Glaubensüberzeugung deutlich.


    Nun ist nichts mehr hinzuzufügen und das Oratorium endet mit einem Chorsatz, der mit seinen beruhigenden Worten auch eine Bachsche Passion beenden könnte, ohne allerdings dessen musikalische Größe zu erreichen:

    Schlafe wohl nach deinen Leiden!/Ruhe sanft nach hartem Streit!
    Weil dein Tod uns Himmelsfreuden,/Weil dein Kampf uns Sieg bereit’t.
    Schlafe wohl nach deinen Leiden!/Ruhe sanft nach hartem Streit!


    INFORMATIONEN ZUM WERK


    Während wir über den Librettisten dieser Passion genauestens informiert sind, herrscht über den Komponisten bis heute keine hundertprozentige Klarheit. Für die Zuschreibung an Händel sprechen sich viele bekannte Händel-Forscher aus: Chrysander, Lang, Fellerer, Cherbuliez und Weinstock. Trotzdem bleibt die Urheberschaft Händels umstritten und läßt sich an der Tatsache ablesen, daß diese Passionsmusik nicht im Händel-Werk-Verzeichnis geführt wird. Merkwürdigerweise ist sie aber in die Hallische Händel-Ausgabe aufgenommen worden.


    Wenn die Befürworter auf Händels in Halle entstandene Kirchenmusik hinweisen, um damit die Komposition dieser JOHANNES-PASION zu begründen, dann ist das ein etwas mageres Argument. Von anderem Kaliber ist allerdings der Zeuge Johann Mattheson: In den 1720er Jahren (und noch 1739) äußerte der sich kritisch über diese Passionsmusik (deren Uraufführung er wegen einer Holland-Reise nicht miterlebte), ohne aber Händels Namen expressis verbis zu nennen - wären da nicht in seiner Schrift „Critica Musica“ einige Hinweise, die tatsächlich auf Händel schließen lassen.


    Dort stellt Mattheson in der Form eines Dialogs sechzig Fragen zu dieser Passion und beantwortet sie auch gleich äußerst kritisch:


    - Mattheson bemängelt, daß die Passionsmusik mit einem sehr kurzen Rezitativ, statt mit einem einleitenden Choral beginnt.


    - An anderer Stelle heißt es, daß eine „gewisse Passion“ vor etwa „20 oder mehr Jahren“ von einem „weltberühmten Mann“, den „jedermann lobet und loben muß“, verfaßt worden sei - eine schon damals auf Händel bezogene Aussage, die auch die neueren Befürworter anführen.


    - Dann schreibt Mattheson u.a.: „Die Überschrifft so Pilatus auf das Kreutz setzete macht mir neue Händel.“


    - A.a.O. bemängelte er, daß der Komponist mit ungewöhnlich starken Ausdruckseffekten in den Rezitativen arbeite - so etwas schreibe man nicht, denn das Rezitativ habe nüchtern rezitiert zu werden. (Was hätte Mattheson wohl zu Bachs rezitativischen Ausbrüchen in der Johannes- und Matthäus-Passion geschrieben?)


    - Ein weiterer Kritikpunkt ist für Mattheson die Besetzung des Pontius Pilatus mit einem Altisten - er plädiert für die traditionelle Besetzung mit einem Baß. Das Gegenargument, in neuerer Zeit aufgekommen, lautet, daß der Komponist das Heft des Handelns bei Jesus sieht und nicht bei Pilatus, weshalb die schwächere Stimme für den Statthalter Roms durchaus gerechtfertigt sei.


    Neben diesen eher beiläufigen Argumenten spricht Mattheson die für ihn wesentlichen negativen Punkte an:


    - Seine zentrale und nachvollziehbare Forderung ist, daß man einen Teil eines Textes nicht eher wiederholen oder mit Koloraturen verzieren dürfe, ehe nicht die Aussage des Satzes verständlich wäre. Er wird nicht müde, auf diesen „täglich aufstoßenden Fehler“ hinzuweisen. So dürfe beispielsweise bei den Worten „die Freistatt aller Frommen“ (in der Sopran-Arie „Durch dein Gefängnis, Gottes Sohn“) keineswegs der Nominativ vom Genitiv getrennt werden. Und diesen Fehler fand er beispielsweise auch in Händels „Rinaldo“:


    „Tausend und aber tausend dergleichen Fehler kann man finden, auch bey modernen Componisten, die theils in ziemlichen, theils in besondern ja hohen Werthe gehalten werden; und dennoch im Italiänischen so wohl als im Teutschen häuffig dawider anstossen. Wie kann das entschuldiget werden wenn ich so setze? Venti, und mache ein langes Passaggio auf das einzige Wort um die Flüchtigkeit der Winde auszudrücken. Lasse hernach, ehe was weiters heraus kommt, die Instrumente auch tapffer sausen und brausen, etliche Tacte lang. Nun möchte man zwar dieses einigermaßen als eine invocationem Aeoli entschuldigen; aber wenn ich nun weiter gehe und singe: Venti, turbini, prestate, höre denn damit wieder auf und pausire bis die Violinen das Echo gemacht haben, was soll der Zuhörer denken, das mir die Winde und Wirbel leihen sollen?


    - Ein weiterer Kritikpunkt sind auch sinnentstellende Zäsuren in der Johannes-Passion - explizit, daß der Komponist im Rezitativ die Worte „Und die Kriegsknechte […] flochten eine Krone von Dornen“ voneinander trennt. Auf die Frage, ob dies recht sei, antwortet Mattheson mit dem Beispiel aus Händels „Muzio Scevola“:


    „Keineswegs. Ungeachtet diese Fehler so häuffig aufstossen als Steine auf den Gassen [...]. Ich will dir den „Mutium Scævolam“ vorhalten: du weist, wer ihn componirt hat. Da findest du eine schöne Melodie, vielleicht von einer fremden Feder, auf welcher die damals unter Händen gewesene Worte sich etwa nicht anders haben passen wollen als daß man das adjectivum von seinem Substantivo mittelst einer merklichen Pause und mit Zuthuung einer förmlichen Cadenz hat absondern müssen. Care gioie sind die Wörter welchen dieses Unrecht wiederfahren in einer Aria die mit dem Worte Spero anfängt. Denke weiter nach. Ich schone, wie gesagt, der Personen; sonst sollte es an keinen Exempeln bey allen fehlen.“


    Diese schonungslose Kritik Matthesons ließ ein im 19. Jahrhundert in der Königlichen Bibliothek zu Berlin gefundenes anonymes Manuskript als jene von ihm kritisierte Passion erscheinen und diese galt von da an als Händels JOHANNES-PASSION. Sie war dann auch Grundlage für Chrysanders Notendruck in seiner Gesamtausgabe der Werke Händels.


    Im 20. Jahrhundert wurden allerdings aus stilistischen Gründen Zweifel an Händels Autorschaft laut. Man verglich das Werk mit „Almira“ (1705) und der „Brockes-Passion“ und kam zu dem Schluß, diese JOHANNES-PASSION könne nicht vom gleichen Komponisten sein. Dabei wurde übersehen, daß „Almira“ eine Oper ist und auch erst nach der Passionsmusik entstand und die „Brockes-Passion“ nochmals mehr als zehn Jahre später.


    In Folge dieser aufgekommenen Zweifel dachte man nun zunächst an Mattheson als Komponisten, dann an Georg Böhm und schließlich an Christian Ritter. Tatsächlich hatte auch Mattheson Postels Text vertont, allerdings erst 1723 und in bewußter Abgrenzung von jener „gewissen Passion“ eines „weltberühmten Mannes“. Daß er in dem „weltberühmten Mann“ sich selber sah, ist kaum anzunehmen, da es gegen jede Gepflogenheit der Zeit verstoßen hätte. Für Böhm und Ritter fehlt jeder positive Beweis einer Autorschaft.


    Die wenigen Beispiele aus Matthesons Kritik lassen es als wahrscheinlich erscheinen, daß Händel tatsächlich die JOHANNES-PASSION komponiert hat. Allerdings ist das kein wissenschaftlich fundierter Beweis, es bleiben nur Indizien. Aber Indizien, die immerhin eine gewisse Beachtung beanspruchen können. Im Rahmen der ausschnittweise zitierten Indizienkette ist die Aufnahme dieser Passionsmusik unter die Werke Händels berechtigt.


    © Manfred Rückert für Tamino-Oratorienführer 2012
    unter Hinzuziehung folgender Quellen:
    Libretto
    Prof. Albert Scheibler: Georg Friedrich Händel, Oratorienführer, Edition Köln 1993
    Rainer Kleinertz: Zur Frage der Autorschaft von Händels Johannes-Passion, in: Händel-Jahrbuch 49 (2003).

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    MUSIKWANDERER

  • Von Händels (?) Johannes-Passion haben die Tamino-Werbepartner Amazon und jpc immerhin eine Aufnahme anzubieten:



    mit Martin Klietman, Jószef Moldvay, Chrales Brett, Mária Zádori, Ibolya Verebics, Judith Németh, Gábor Kállay, István Gáti;
    ein Kammerchor, die Capella Savaria;
    Leitung Pál Nemeth.



    Genau die oben vorgestellte Hungaroton-Aufnahme ist auch in der nebenstehenden 5-CD-Box von Brilliant Classics enthalten.



    Diese umfangreiche Händel-Werk-Box mit 40 CD's beinhaltet ebenfalls die Johannes-Passion - wahrscheinlich auch in der Interpretation von Pál Németh. Nähere Angaben fehlen.

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