Mir Alfreds Threads über Beethoven , Haydn , Schubert und Mozart (und deren Titel) zum Vorbild nehmend hoffe ich, daß wir hier ein wenig etwas Erhellendes über eine der für meine Begriffe rätselhaftesten Komponisten-Persönlichkeiten überaupt zusammentragen können.
Ich bin mir bewusst, daß vor Jahren bereits ein ähnlicher Thread eröffnet wurde, der wohl allerdings relativ schnell wieder eingeschlafen zu sein scheint und nicht auf sonderlich große Resonanz stieß. So seht Ihr es mir hoffentlich nach, wenn ich hier einen neuen Thread zu diesem Thema eröffne statt an den alten anzuknüpfen. Vielleicht wird das auch den hoffentlich zahlreich in den letzten 6 Jahren neu dazugestoßenen Mitgliedern den Einstieg ins Thema versüßen.
Mein persönlicher Auslöser für die Eröffnung dieses Threads ist zum einen natürlich meine Begeisterung für Bruckners Musik. Insbesondere seine letzten beiden Sinfonien gehören definitiv zum bewegendsten, tiefsten und großartigsten, was ich überhaupt an Musik kenne - nicht nur sinfonischer oder klassischer. Zum anderen möchte ich gern einen leicht anderen Schwerpunkt setzen als in besagtem Thread und auch in der durchschnittlichen Bruckner-Biographie - weg von der lustvollen Beschreibung komischer Anekdoten und seiner angenommenen Intelligenz-Defizite hin zu einer Erforschung seiner Persönlichkeit und seiner Psyche.
Trotz zunehmender Differenzierung im Laufe der Zeit scheint mir das gängige Bild vom Wesen Anton Bruckners in seinen Grundzügen noch immer ein sehr einfaches. In ein paar Schlagworte gepackt sähe das wohl wie folgt aus: Landei, simpel gestrickt, mittelmäßig intelligent, blind gottesfürchtig, schrullig, autoritätsergeben und völlig ungelenk sowohl in gesellschaftlichen als auch in erotischen Angelegenheiten.
Das dies alles ist, was die Person Bruckners ausgemacht hat, möchte ich mit Bestimmtheit in Zweifel ziehen. Daß ein praktisch grenzdebiler Bauerntrottel, wie er überspitzt formuliert gern dargestellt wurde, keine Kompositionen vom Rang der Werke Bruckners erschaffen kann, sehe ich schlicht als gegeben an. Aber auch auf emotionaler Ebene würde man von einem Mann mit den beschriebenen Eigenschaften in seinen Kompositionen simple Schwarzweiß-Malerei erwarten - insbesondere vor dem Hintergrund seines Glaubens, der auch zur Deutung seiner absoluten Musik oft und gern herangezogen wird. Das häufig bemühte Bild vom musikalischen Kirchenbaumeister, der massive Tonblöcke zu Klangkathedralen aufeinander türmt, mag hier als Beispiel dienen. Und wenn dies auch zweifellos nicht falsch ist, frage ich mich doch, ob hier nicht der Wunsch nach einer Kongruenz zwischen angenommenem Künstlergeist und seinem Werk Vater des Gedanken war.
Dazu steht das meiner bescheidenen Meinung nach in seinen Werken enthaltene Maß an Zerrissenheit, Abgründigkeit und Verzweiflung in einem denkbar krassen Gegensatz. Zumindest ich würde hinter vielem, was Bruckner komponiert hat, niemals jemanden vermuten, der in schlichter Glückseligkeit über die Welt und ihren großen Schöpfer durch sein Leben wandelt. Nur um einmal zwei Beispiele herauszugreifen: wer je die Adagios aus der 8. und 9. Sinfonie gehört hat, wird hoffentlich unmittelbar wissen, was ich meine.
In gewisser Weise passt in dieses Bild auch eine andere Eigenschaft, die Bruckners Musik von allen anderen mir bekannten Künstlern abhebt: der vollkommene Ernst, der jeden seiner Töne beherrscht. Da ist keinerlei leichtherzige Fröhlichkeit auszumachen, und nicht einmal grimmiger Humor à la Beethoven oder Mahlersche Ironie, von Haydn oder Mozart mal ganz zu schweigen. Ja sogar die Scherzi haben rein gar nichts mehr von ihrem ursprünglichen (eben scherzhaften) Charakter sondern grenzen, gipfelnd in der 9. Sinfonie, zuweilen schon ans Gewalttätige.
Der für mich interessante Kern des Pudels ist, eben dieser Diskrepanz von Bruckner-Bild und seiner Musik auf die Spur zu kommen und sie zu deuten. Zwar ist mir klar, daß viele Fragen um das Leben Anton Bruckners wohl nicht mehr in bedeutend umfangreicherem Maße als heute geklärt werden können, wenn nicht noch jemand bisher unbekannte Tagebücher des Meisters ausgräbt oder dergleichen. Aber Eure Gedanken und / oder Spekulationen fände ich schon sehr interessant zu hören.
Ich persönlich habe mehr oder weniger zwei Ideen dazu:
Zum einen halte ich es für gut möglich, daß die auch hier schon verschiedentlich aufgestellte Theorie der Realität entspricht, Bruckner habe sich seiner Umwelt gegenüber absichtlich kleiner, dümmer und primitiver gemacht als er war, um sich ihr so weit als möglich zu entziehen - und sich damit auch von der 'Pflicht' zu entbinden, mehr von seinem Inneren mit der Welt zu teilen als er wollte.
Mein anderer Gedankengang - weit spannender wohl aber auch ziemlich konstruiert - besagt, daß Bruckner in seiner Kunst und mittels seiner Kunstfertigkeit womöglich mehr von seinem Seelenleben ans Licht befördert hat, als ihm selbst voll bewusst war. Geht so etwas überhaupt? Und sollte das tatsächlich der Fall sein: kennt Ihr andere Beispiele für solche Fälle?
Was denkt Ihr also? Wen seht Ihr hinter dem Namen Anton Bruckner bzw. wen hört Ihr aus seiner Musik heraus?