Musik verstehen - von Gustav Mahler

  • Liebe Taminoianer, liebe Mitleser,


    angeregt vom Thread:


    Was heißt eigentlich "Musik verstehen?"


    plane ich eine kurze Serie, wo man über sein persönliches "Verständnis" der Musik eines Komponisten schreiben kann - seine Begeisterung, seine Zweifel, seine Ablehnung oder aber auch seine Überwindungen von "Zugangsschwierigkeiten" Und natürlich darf man auch schreiben, daß man diese Musik nicht verstehen kann - oder auch nicht verstehen will.....


    Hier bietet sich zum Einstieg Gustav Mahler geradezu als idealer Kandidat an, an der Schwelle zwischen Romantik und Moderne, als Neuerer oder als letzes Bindeglied einer versinkenden Zeit. Als genialer Komponist oder als Blender? Mahler war ja schon von Zeitgenossen eher mit Skepsis betrachtet worden, und daran hat sich im Grunde bis in die beginnende zweite Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts nur wenig geändert - wenngleich er immer seinen Anhängerkreis hatte. Heute wird er nicht nur akzeptiert sondern - ebenso wie Bruckner als einer der ganz großen Sinfoniker gefeiert. In diesem Forum gibt es - so fürchte ich - fast mehr Beiträge zu Mahler als zu Mozart. Wie dem auch sei: Noch heute wird über die Aussage seiner Musik selten Einigkeit erzielt. Um der Diskussion - so es denn eine gibt - nicht vorzugreifen - und auch um den Thread nicht in eine bestimmte Richtung zu führen - verzichte ich zu Beginn auf jeden persönlichen Kommentar - er wird im Laufe der nächsten Stunden oder Tage nachgereicht....


    mit freundlichen Grüßen aus Wien


    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Ich erinnere mich sehr genau an den Abend, als ich meiner Frau, die gar nicht wusste wie ihr geschah, lauthals mitteilte, dass ich zum ersten Mal Musik verstanden habe. Es war ein seliger MOment, befeuert durch eine Flasche Rosso di Montalcino. Und das Stück war die 1. Symphonie von Mahler, Titan. Kurz vorher brachte mich ein Freund dazu, mir diese anzuöhren und auf den Bruder Jakob zu achten. Und beim 4. oder 5. Mal war es dann auf einmal da. Ich konnte diese kleine Melodie immer wieder finden, entdeckte, dass sie auch in anderen Stellen versteckt war, konnte erleben, wie sie verändert wurde, zu ihrer Gestalt zurückfand. Ich fühlte, wie die ganze Symphonie zusammengehörte, wie sich eins zum anderen fügte. Wie gesagt, ein wichtiger Moment in meinem Leben.
    Daher rührte es dann, dass ich recht viele CDs von Mahler besitze - und recht oft enttäuscht wurde. Immer wieder gewaltiger Bombast, siehe die Symphonie der 1ooo. Überfrachtung mit Text anstatt Musik.


    Es werden natürlich Brücken gebaut. Indem man auf das Todesthema hinweist, das sich immer wieder findet. Oder auf die jeweiligen Lebensumstände, die Mahler beimKomponieren bewältigte. Aber es gibt, für mich, einfach zu viel, wo ich eine musikalische Eselbrücke bräuchte und die nicht finde.
    So bleiben hauptsächlich Teile seiner Werke in meiner Erinnerung präsent (Adagietto u.ä.) und eben dieses mein Schlüsselwerk, der Titan.


    Insofern ist Mahler für mich ein Komponist, den ich eben nicht verstehe. Ich spüre, dass mir seine Musik etwas sagen könnte, ich erahne das riesige Potential, aber ich komme nicht heran und leide unter meinem Nichtverstehen.


    Vielleicht ist er mir einfach zu hoch?


    Tschö
    Klaus

    ich weiß, dass ich nichts weiß. Aber ganz sicher bin ich mir da nicht.

  • Bevor ich auf mein Verständnis von Mahler eingehe, möchte ich auch an dieser Stelle mein Verständnis vom „Verstehen von Kunst“ kurz darlegen.


    Kunst und damit auch Musik zeichnet sich dadurch aus, dass der Prozess des Verstehens nicht an ein Ende kommt. Man kann sie nicht letztgültig verstehen. Musik/Kunst ist offen für Sinngebung durch den Rezipienten, allerdings nicht in beliebiger Form, denn das Material gibt die Richtungen vor.


    Mit der Frage, ob jemand ein Werk nun richtig oder falsch verstanden hat, bin ich entsprechend vorsichtig. Ich denke, es geht vielmehr um ein „mehr oder weniger“ verstehen. Musikverstehen ist auch kein objektiver Prozess, sondern im höchsten Maße subjektabhängig, z.B. von dessen Hörerfahrung.

    Warum diese Einleitung?


    Um von Beginn an deutlich zu machen, dass ich nicht den Anspruch habe, Mahler „richtig“ verstanden zu haben oder glaube, dass ich seine Musik nicht irgendwann oder in kurzer Zeit nicht anders verstehen werde.

    Nun zu Mahler!


    Hier mein Versuch (weitere werden wahrscheinlich folgen) mein Verständnis seiner Musik in Wort zu fassen, in dem vollen Bewusstsein, dass dies nicht wirklich gelingen kann (Wozu bräuchte man sonst die Musik?):

    Ich verstehe die Musik Gustav Mahlers jenseits aller strukturellen Fragen als die Musik eines Suchenden.


    Mahler war insofern seiner Zeit voraus, als er früher als andere gespürt hat, dass es keinen Halt oder keine wahre Orientierung mehr für den Menschen gibt. Die traditionellen Sinnstifter und Bindungen, wie besonders die Religion, haben ihre unbezweifelbare Berechtigung verloren. Gleichzeitig wird aber in seiner Musik spürbar, wie groß das Bedürfnis des Menschen bzw. sein Bedürfnis nach genau diesem Halt ist. Die Sehnsucht nach gefestigtem Glauben, nach unendlicher Liebe, nach Sinn konnte Mahler trotz aller Zweifel nie aufgeben. Wahrscheinlich, weil der Mensch an sich immer einen Halt braucht.

    Genau vor diesem Hintergrund erlebe ich Mahler Musik tatsächlich als „zerrissen“. Zerrissen zwischen der Erkenntnis der Haltlosigkeit und dem Bedürfnis nach Halt, zerrissen zwischen Glaube und Zweifel, zerrissen zwischen dem Wunsch nach bedingungsloser Liebe und der Erfahrung der Enttäuschung…..


    Zwischen allen diesen Polen spielt sich seine Musik ab. Nichts ist mehr eindeutig. So werden die lyrischsten Stellen seiner Musik oft überraschend zerschlagen. Harmlose Ländler verwandeln sich in dämonische Tänze. Eine schöne Melodie wird gleichzeitig durch eine quäkende Klarinette verhöhnt. Manches nimmt fast den Charakter von Kitsch an, weil die Sehnsucht nach Harmonie so groß ist, Mahler gleichzeitig aber dieser Harmonie nicht mehr traut.


    Seine Musik zeichnet sich durch Schwanken zwischen Extremen aus – manchmal im schnellen Wechsel, manchmal gleichzeitig.


    Und selbst da, wo es eindeutig zu sein scheint (s. Schlusssatz der 2. Sinfonie), geht Mahler dann so überschwänglich vor, als ob er sich selbst überzeugen oder überreden muss (Es wäre doch so schön!!!). Der Kontrast beispielsweise zur 6. Sinfonie könnte kaum größer sein. Was vermeintlich in der 2. Sinfonie noch an Glauben bestand, weicht in der 6. Sinfonie der Ernüchterung.

    Und um auf eine der Ausgangsfragen zurückzukommen:


    Ja! Ich bin begeistert von dieser Musik, weil sie ein Lebensgefühl wiederspiegelt, das auch unsere Zeit betrifft. Mahlers Zeit ist tatsächlich gekommen.

    Erstmal bis hierhin!

  • Hallo Andreas,


    gut geschrieben, toller Text - danke dafür!


    Christian

    "...man darf also gespannt sein, ob eines Tages das Selbstmordattentat eines fanatischen Bruckner-Hörers seinem Wirken ein Ende setzen wird."



  • Bei Mahler - der selber ein "Bücherwurm" war - empfiehlt es sich, zu lesen. Seine Briefe sowie die überlieferten Zeugnisse (Natalie Bauer-Lechner) und Literatur, die wirklich hilft. Wer sich nicht an das exemplarische Mahler-Buch von Theodor W. Adorno herantraut, dem sei Hans-Heinrich Eggebrecht ("Die Musik Gustav Mahlers") empfohlen.


    Beste Grüße
    Holger

  • Mahler ist das größte Problem meiner Klassikliebhaberlaufbahn, wenn ich das einmal so salopp ausdrücken darf! Ich habe ein riesiges Problem mit dem Zugang zu Gustav Mahlers Sinfonien! Seit meiner Jugend höre ich klassische Musik, zur eigenen musikalischen Biografie kann ich aber später etwas schreiben. Was Sinfonien angeht, bin ich erst seit kurzem wieder interessiert und habe Haydn, Mozart, Beethoven, Schumann, Schubert, Mendelssohn Bartholdy, Brahms, Tschaikowski, Schostakowitsch etc., also im Grunde das ganze bekanntere sinfonische Werk des 18., 19. Jahrhunderts und beginnenden 20. Jahrhunderts rezipiert, wobei für mich Anton Bruckner der absolute Höhepunkt ist, denn dessen 9. Sinfonie ist mein Lieblingssinfonie, gefolgt von den Sinfonien 6 bis 8. Angeregt durch die Literatur und besonders durch die Auseinandersetzung mit Hans Wollschläger versuche ich nun seit Monaten (eigentlich seit Jahren) vergeblich einen Zugang zu den Sinfonien Gustav Mahlers zu finden: Ich besitze sie alle in verschiedenen Gesamt- und Einzelaufnahmen, sah und hörte sie auch bei Sky unitel classica, las dazu Einführungen und so weiter! Während ich aber mit den Liedern und Chorwerken keinerlei Probleme habe, konnte ich bislang außer der 1. Sinfonie keiner anderen etwas abgewinnen und angeblich fußt Mahler doch unter anderem auf Bruckner. Mir sind diese Werke vollkommen fremd und ich stehe vor ihnen wie der Ochse vor dem Scheunentor: Sie sprechen weder meine Seele noch meinen Verstand an, ich bin nicht gerührt oder verzaubert; nicht beeindruckt oder erschlagen; aber auch nicht abgestoßen oder angwidert! Nur ratlos bin ich und überlege daher, was ich wohl falsch mache! Musik hören als geistiger und sinnlicher Genuss ist sonst eine Selbstverständlichkeit; aber manche Sachen muss man sich auch erarbeiten; das ist in der Musik nicht anders als bei anderen Künsten; und ich frage mich, ob ich vielleicht einen Hinweis kriegen könnte, wo bei Mahler anzusetzen wäre ...

  • Mahler ist das größte Problem meiner Klassikliebhaberlaufbahn, ...


    Das sind in der Tat überraschende Ausführungen. Aber zuerst einmal: wozu sich so unter Druck setzen? Kommt Zeit, kommt Genuss - und wenn nicht, wen kümmert's? Man muss nicht alle Komponisten schätzen!


    Inwiefern Mahler auf Bruckner fußt, weiß ich nicht, aber in ihren Symphonien sind sie Antipoden wie sie kaum unterschiedlicher sein können. Gerade deine Einschätzung von Bruckner ist vielleicht die beste Erklärung für die Schwierigkeiten mit Mahler.


    Wenn man der 1. etwas abgewinnen kann, dann finde ich in der Tat erstaunlich, dass man mit der 4. (oder auch 7. und 9.) nichts anfangen kann. Die liegen doch gar nicht weit auseinander. Aber geplant an einen Komponisten herangehen finde ich im Sinne einer emotionalen Annäherung als kaum zielführend. Alles hat seine Zeit - sie kommt oder auch nicht...


    :hello:

    Ciao


    Von Herzen - Möge es wieder - Zu Herzen gehn!



  • Ich sehe das genauso, dass man sich nicht zwingen muss, jemanden zu mögen; viele Komponisten lassen mich kalt (etwa Schumann) und ich höre sie daher wenig; andere begeistern mich (Schütz, Bach, Wagner, Bruckner) und ich höre sie andauernd. Aber manchmal muss man auch mit dem Verstand herangehen, sonst hätte ich nie Joyce, Proust oder Arno Schmidt schätzen und lieben gelernt! Und Mahler gilt nun mal als DER Wegbereiter ins 20. Jahrhundert, die Tür, die Bruckner mit seiner 9. aufgestoßen hat, hat er aus den Angeln gerissen. Viele verständige Menschen lieben ihn und nicht umsonst schaut im Münsteraner Tatort ein großes Mahlerplakat auf den Seziertisch Professor Boernes! :) Für mich scheint ein Genuss auf dem Sofa mit geschlossenen Augen jedoch in weiter Ferne! Und ich möchte gerne wissen, warum das so ist, im Grunde ein rein intellektuelles Interesse.

  • Und ich möchte gerne wissen, warum das so ist, im Grunde ein rein intellektuelles Interesse.


    Ich glaube nicht, dass dir das jemand erklären können wird. Zumindest sind mir keine brauchbaren Erklärungsmodelle für Emotionen bekannt. Es gibt sekundäre Gründe, die einen für oder gegen einen Komponisten sein lassen. Und wenn man einen Komponisten aus irgendeinem Grund ablehnt, wird man sich schwerlich für seine Musik begeistern können. Aber eine positive Einstellung gegenüber einem Komponisten schafft zwar eine gute Ausgangsposition für die Rezeption, wenn es aber bei einzelnen Werken doch nicht funkt, wird sich das zumeist kaum begründen lassen.


    :hello:

    Ciao


    Von Herzen - Möge es wieder - Zu Herzen gehn!


  • Lieber Yorick,


    gib niemals auf!! Im Gegensatz zu Dir waren mir die ersten Begegnungen mit Mahler direkt unangenehm (wie übrigens auch die mit Schostakowitsch und Richard Strauß). Die Harmonien der Beethoven- oder Schumann-Sinfonien hat er nicht, in meinen Ohren war das beim ersten und auch beim zwanzigsten Male schräg, unharmonisch, laut, einfach nicht schön. Dann kam ich über Richard Strauß dazu, auch "schräge" Akkorde erst hörenswert, dann sogar schön zu finden. Dieser Prozeß hat sicher 20 Jahre gedauert, und mir gefiel auf einmal der Strauß. Sicher hat das damit zu tun, daß ich mir unter Programmmusik etwas bildliches vorstellen kann, ob nun in der Alpensinfonie oder der Sinfonia domestica. Es passiert etwas auf der Bühne, auch in der Oper. Selbst der Rosenkavalier hat mir anfangs nur stellenweise etwas gegeben, Salome oder gar Elektra fand ich scheußlich. Bis ich mich mit dem Hintergrund und dem Text beschäftigt habe, und da war mir klar, wie in der Alpensinfonie die Sonne aufgeht, warum die Akkorde dissonant sein müssen, wenn Elektra sich mit ihrer Stiefmutter unterhält. Auf einmal war ich Fan von Richard Strauß.


    Durch Anrechtsbesuche kam ich auf einmal in den Genuß von Mahlers 1. Sinfonie, und ich glaubte zumindestens im 1. Satz eine Waldstimmung am Morgen zu erleben, einen Sonnenaufgang unter Bäumen. Ich war plötzlich von der 1. begeistert. Ich habe mich dann in Live-Konzerten auf die 2., die 3., die 5. und die 7. gestürzt, mit wachsendem Vergnügen. Als ich dann zum Mahlerfest in Leipzig 2011 die 8. hörte, mit ca. 450 Mann auf der Bühne, da war es restlos vorbei. Auch meine Frau, die bis dahin gar nichts für Mahler empfand, wurde zum Mahlerfan. Jetzt hören wir mind. einmal jede Woche nach 17.00 Uhr Mahler.


    Laß Dir weiter Zeit, höre ab und an rein, wenn Mahler im Fernsehen kommt, und nimm Dir dann CD`s vor. Mahler kann ein Genuß sein, wenn man den Zugang geschafft hat. Aber erzwingen kann man es nicht (wie auch Elektra oder Salome nicht!)


    La Roche

    Ich streite für die Schönheit und den edlen Anstand des Theaters. Mit dieser Parole im Herzen leb' ich mein Leben für das Theater, und ich werde weiterleben in den Annalen seiner Geschichte!

    Zitat des Theaterdirektors La Roche aus Capriccio von Richard Strauss.

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  • Ich glaube nicht, dass dir das jemand erklären können wird. Zumindest sind mir keine brauchbaren Erklärungsmodelle für Emotionen bekannt. Es gibt sekundäre Gründe, die einen für oder gegen einen Komponisten sein lassen. Und wenn man einen Komponisten aus irgendeinem Grund ablehnt, wird man sich schwerlich für seine Musik begeistern können. Aber eine positive Einstellung gegenüber einem Komponisten schafft zwar eine gute Ausgangsposition für die Rezeption, wenn es aber bei einzelnen Werken doch nicht funkt, wird sich das zumeist kaum begründen lassen.


    :hello:


    Ich habe halt den Verdacht, dass ich als Laie und bloßer Rezipient; der selbst kein Ausführender im Musikbetrieb ist; bestimmte Dinge nicht durchschaue, weil mir das musiktheoretische Wissen oder meinetwegen trotz 25 Jahre währender Klassikliebe dennoch auch Hörerfahrung fehlt.

  • Im Gegensatz zu Dir waren mir die ersten Begegnungen mit Mahler direkt unangenehm (wie übrigens auch die mit Schostakowitsch und Richard Strauß). Die Harmonien der Beethoven- oder Schumann-Sinfonien hat er nicht, in meinen Ohren war das beim ersten und auch beim zwanzigsten Male schräg, unharmonisch, laut, einfach nicht schön.

    Diese Koinzidenz ist erstaunlich, genauso hätte ich das Problem auch umschreiben können, mit den gleichen Attributen: Selbiges habe ich aber seinerzeit auch bei der Missa solemnis empfunden und dort aber sehr schnell gemerkt, dass ich auf der Fehlhalde wohnte! Bei Mahler nützte bislang alles nichts!



    Zitat

    Dann kam ich über Richard Strauß dazu, auch "schräge" Akkorde erst hörenswert, dann sogar schön zu finden. Dieser Prozeß hat sicher 20 Jahre gedauert, und mir gefiel auf einmal der Strauß. Sicher hat das damit zu tun, daß ich mir unter Programmmusik etwas bildliches vorstellen kann, ob nun in der Alpensinfonie oder der Sinfonia domestica. Es passiert etwas auf der Bühne, auch in der Oper. Selbst der Rosenkavalier hat mir anfangs nur stellenweise etwas gegeben, Salome oder gar Elektra fand ich scheußlich. Bis ich mich mit dem Hintergrund und dem Text beschäftigt habe, und da war mir klar, wie in der Alpensinfonie die Sonne aufgeht, warum die Akkorde dissonant sein müssen, wenn Elektra sich mit ihrer Stiefmutter unterhält. Auf einmal war ich Fan von Richard Strauß.

    Mit Strauß hatte ich seltsamerweise nie Probleme!

  • Ich habe halt den Verdacht, dass ich als Laie und bloßer Rezipient; der selbst kein Ausführender im Musikbetrieb ist; bestimmte Dinge nicht durchschaue, weil mir das musiktheoretische Wissen oder meinetwegen trotz 25 Jahre währender Klassikliebe dennoch auch Hörerfahrung fehlt.


    Es ist jeder Hörer ein Individuum, so dass sich schwer allgemein gültige Regeln ableiten lassen. Aber für spätromantische Musik gilt doch eher der emotionale Ansatz denn der theoretische als Erfolgsweg. Gerade wenn man Mahler musiktheoretisch fassen will, gibt es mehr Wider als Für und die musikalische Wirkung lässt sich schwer messen. Also ich bleibe dabei: gib ihm Zeit - sie wird es in irgendeiner Form richten...


    :hello:

    Ciao


    Von Herzen - Möge es wieder - Zu Herzen gehn!


  • Gibt es bei Euch Regeln vom Hauswart, dass man vor 17:00 keinen Mahler hören darf? ;)


    Der Anfang der 1. Sinfonie ist ganz sicher ein "Naturerwachen", wenn auch für mich eher offenes Feld als Wald. Sicher nicht ganz zufällig stammt das Hauptthema nach der Einleitung ja aus dem Lied "Ging heut morgen übers Feld/Tau noch auf den Gräsern hing..."


    Es muss einem ja nicht alles gefallen. Auch wenn ich meine, dass es verschiedene Weisen gibt, wie man von Musik begeistert sein kann, wird es für beinahe jeden berühmte und hochangesehene Musik geben, mit der er/sie wenig anfangen kann. Wie schon im thread angedeutet, wäre man vor 50 Jahren (oder vielleicht auch heute noch in Frankreich oder Italien) als jemand, der mit Mahler nichts anfangen kann, kaum aufgefallen, aber heute ist seine Musik jedenfalls im germano- und anglophonen Sprachraum offenbar sehr populär.


    Wenn es um die "Moderne" geht, ist außer der fragmentarischen 10. natürlich die 9. das zentrale Werk. Ich halte die auch für ein außerordentliches und bewegendes Werk (was dazu führt, dass ich es eher selten höre). Beim ersten Hören habe ich allerdings, obwohl ich schon seine 2. und 4. gekannt haben dürfte, die Klänge als unzusammenhängend und stellenweise unangenehm (schon das gestopfte Horn am Anfang, wobei natürlich auch von der Interpretation abhängig ist, wie eigentümlich diese Passage klingt). Inzwischen finde ich gerade diesen Beginn klanglich und emotional sehr ergreifend.


    Wenn es am Mangel an musiktheoretischen Wissen läge, müssten bei Bach, Beethoven, Brahms, Bruckner u.v.a. ähnliche Probleme auftreten. Deren Musik ist keineswegs "einfacher" als Mahlers.

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • Wie schon im thread angedeutet, wäre man vor 50 Jahren (oder vielleicht auch heute noch in Frankreich oder Italien) als jemand, der mit Mahler nichts anfangen kann, kaum aufgefallen, aber heute ist seine Musik jedenfalls im germano- und anglophonen Sprachraum offenbar sehr populär.

    Nun ja, Mahler hatte es natürlich schwer, weil er in der NS-Zeit gänzlich totgeschwiegen wurde und sich vielen Anfeidnungen ausgesetzt sah! Es brauchte wohl einiges an Bemühungen und Fürsprechern, ehe sich sein Werk so durchsetzen konnte: Das alles ist sehr schön hier beschrieben, besonders in dem Funkessay aus dem Nachlass:



    Wenn es am Mangel an musiktheoretischen Wissen läge, müssten bei Bach, Beethoven, Brahms, Bruckner u.v.a. ähnliche Probleme auftreten. Deren Musik ist keineswegs "einfacher" als Mahlers.

    Das wäre doch mal die Grundlage für eine treffliche Diskussion zur Rezeptionsästhetik! :) Die vier großen Bs stellten etwa mich niemals auch nur einen Augenblick lang vor Probleme, im Gegenteil habe ich deren Werke auch niemals als schwer empfunden.

  • Wie ich schon erwähnte, hören meine Frau und ich jetzt des Öfteren nach 17.00 Uhr Musik, in letzter Zeit immer häufiger Mahler.


    Lieber Johannes, meinem Hausverwalter ist es egal, wann ich Musik mache. Glücklicherweise wohnen wir in einer Wohnung, die erst Ende der 90-er Jahre erbaut wurde und sehr gut schallisoliert ist. Auch etwas lautere Musik hat noch nie zu Protesten geführt. Und nach 17.00 Uhr - das hat mit unseren Hörgewohnheiten zu tun. Für klassische Musik und insbesondere für Mahler brauchen wir Ruhe und Konzentration, das geht nicht nebenbei. Obwohl wir beide das Glück (oder Pech?) haben, nicht mehr arbeiten zu müssen, trifft der alte Spruch "Rentner haben niemals Zeit" voll auf uns zu. Einkaufen, spazieren gehen bei schönem Wetter, mit Freunden treffen, gemütlich Kaffee trinken oder Abendbrot essen, das nimmte den Tag und manchmal auch den Abend in Anspruch. Nicht zu vergessen Fernsehnachmittage oder auch -abende, die täglichen 1-2 Stunden Tamino, das bringt es mit sich, daß wir etwa 17.30 die Zeit und bei mentaler Vorbereitung auch die Muse haben, zielgerichtet Musik zu hören. Das passiert jetzt nicht jeden Tag, aber 3-4 mal die Woche schon. Dann stehen auch Opern auf dem Programm (vorwiegend Einzelarien, Gesamtwerke bevorzugt auf DVD). Opernabende können dann schon mal 2 Stunden gehen, Mahler - da reicht uns eine Sinfonie (die dritte alleine dauert ja schon ca. 100 Minuten), dann ist die Konzentration weg. Und nur zum nebenbei Dahinplätschern, da ist uns Klassik zu schade.


    Und nun wieder zu Mahler. Ich selbst hatte ja ca. 20 Jahre damit zu tun, an Mahler Gefallen zu finden. Meine Frau fand bis vor Kurzem Mahler auch nicht unbedingt als besonders toll. Bis sie eine Biographie in die Hände bekam. Und als Frau hat sie natürlich ganz andere emotionale Vorstellungen als ein "göttlicher" Mann. Besonders die unglückliche Liebe zwischen Gustav und Almschi ruft bei ihr Emotionen hervor, die noch verstärkt wurden, als sie bei Wikipedia unter "Alma Mahler" so allerlei lesen mußte. Nun hört sie Mahler auf einmal ganz anders, sein Traurigsein, seine Hoffnungen, das alles kann man ja der Musik entnehmen. Die Besuche von Mahlerkonzerten 2011 im Gewandhaus haben das alles noch gefördert. Und nun stehen wir eben beide auf Mahler. Gut so. Er ist ja auch toll.


    La Roche

    Ich streite für die Schönheit und den edlen Anstand des Theaters. Mit dieser Parole im Herzen leb' ich mein Leben für das Theater, und ich werde weiterleben in den Annalen seiner Geschichte!

    Zitat des Theaterdirektors La Roche aus Capriccio von Richard Strauss.

  • Ich habe ein riesiges Problem mit dem Zugang zu Gustav Mahlers Sinfonien!

    Ach armer Yorick!


    Treffender kann ich mein Bedauern über den dir fehlenden Zugang zu Mahler nicht formulieren. Beim Lesen deiner Schilderungen und unter Berücksichtigung deiner beträchtlichen Rezeptionserfahrung wundert mich, dass du meinem Hausgott nichts abgewinnen kannst. Indessen geht es mir ziemlich ähnlich mit den von dir geschätzten B-Komponisten Bach, Brahms und Bruckner. Insbesondere hinsichtlich Bach habe ich meine Verwunderung über dessen Ansehen und Ruhm einerseits und meiner weitgehenden Immunität gegenüber seinen Kompositionen andererseits im Schwesterthread Musik verstehen - von Johann Sebastian Bach zum Ausdruck gebracht. Auch Brahms schafft es erst dieser Tage, mich erstmals zu begeistern und zwar durch sein Klavierquartett op. 25 und Bruckner - naja - auch mit ihm hadere ich.


    Was mich aber besonders fasziniert, ist die Gegensätzlichkeit unserer Positionen. Das erstreckt sich sogar aufs Oeuvre des hier diskutierten Mahler, denn du schreibst, dass seine Lieder dir keine Schwierigkeiten bereiten, während mir diese Werke wiederrum (fast) herzlich egal sind. Da ich ähnliches schon öfter gehört habe, drängt sich die Frage auf, ob es gewisse Tendenzen und Wahrscheinlichkeiten gibt à la Brucknerianer sind selten auch Mahlerianer etc. Aber das sind Gedankenspielereien im Schatten Theophilus' Aussage:


    Es ist jeder Hörer ein Individuum, so dass sich schwer allgemein gültige Regeln ableiten lassen.

    Zurück zu Mahler. Möglicherweise ist dein Versuch, ihn zu schätzen, in ähnlicher Weise zu verkopft und zu verkrampft, wie der meine, die Weihen Bach'scher Tonkunst zu erfahren und es gilt einmal mehr: Wenn ihr's nicht fühlt, ihr werdet's nicht erjagen. Gewiss aber liegt es nicht am Mangel musiktheoretischen Wissens oder fehlender Hörerfahrung, denn ersteres fehlt auch mir nach wie vor und letztere hatte ich nicht, als ich Mahlers 5. hörte und damit meinen Einstieg in die Klassik nahm.

    Völlig frei von esoterischen Anwandlungen glaube ich, dass Musik einen manchmal "ruft", wenn sie uns für bereit hält - und ich würde etwas derart Albernes nicht schreiben, hätte ich nicht schon selbst mehrmals erlebt, dass ich Jahre nach dem Ersthören und Ablehnen eines Werkes aufwache und das unaufschiebbare Bedürfniss habe, genau diese Musik zu hören und dann erst von ihr erfasst werde. Ich hoffe, dir steht ein solches Erweckungserlebnis mit Blick auf Mahler noch bevor.

    "Geduld und Gelassenheit des Gemüts tragen mehr zur Heilung unserer Krankheiten bei, als alle Kunst der Medizin." (W.A. Mozart)

  • Treffender kann ich mein Bedauern über den dir fehlenden Zugang zu Mahler nicht formulieren. Beim Lesen deiner Schilderungen und unter Berücksichtigung deiner beträchtlichen Rezeptionserfahrung wundert mich, dass du meinem Hausgott nichts abgewinnen kannst. Indessen geht es mir ziemlich ähnlich mit den von dir geschätzten B-Komponisten Bach, Brahms und Bruckner. Insbesondere hinsichtlich Bach habe ich meine Verwunderung über dessen Ansehen und Ruhm einerseits und meiner weitgehenden Immunität gegenüber seinen Kompositionen andererseits im Schwesterthread Musik verstehen - von Johann Sebastian Bach zum Ausdruck gebracht. Auch Brahms schafft es erst dieser Tage, mich erstmals zu begeistern und zwar durch sein Klavierquartett op. 25 und Bruckner - naja - auch mit ihm hadere ich.

    Na ja, beträchtliche Rezeptionserfahrung ist sicherlich etwas hoch gegriffen! Und es freut mich, dass es dir mit anderen Komponisten auch so geht, weil es mich erleichtert! Für mich ist Bach ein Gott und das größte musikalische Genie aller Zeiten!



    Was mich aber besonders fasziniert, ist die Gegensätzlichkeit unserer Positionen. Das erstreckt sich sogar aufs Oeuvre des hier diskutierten Mahler, denn du schreibst, dass seine Lieder dir keine Schwierigkeiten bereiten, während mir diese Werke wiederrum (fast) herzlich egal sind. Da ich ähnliches schon öfter gehört habe, drängt sich die Frage auf, ob es gewisse Tendenzen und Wahrscheinlichkeiten gibt à la Brucknerianer sind selten auch Mahlerianer etc. Aber das sind Gedankenspielereien im Schatten Theophilus' Aussage:

    Das versuchte ich ja schon anzudeuten hinsichtlich einer rezeptionsästhetischen Überlegung: Ließe sich hier im Forum sicher leicht bewerkstelligen! Wie viele eingeschleischte Brucknerianer sind tatsächlich auch Mahlerianer bzw. wieviele Brucknerliebhaber können mit Mahler nur wenig bis gar nichts anfangen?



    Möglicherweise ist dein Versuch, ihn zu schätzen, in ähnlicher Weise zu verkopft und zu verkrampft, wie der meine, die Weihen Bach'scher Tonkunst zu erfahren und es gilt einmal mehr: Wenn ihr's nicht fühlt, ihr werdet's nicht erjagen.


    Völlig frei von esoterischen Anwandlungen glaube ich, dass Musik einen manchmal "ruft", wenn sie uns für bereit hält -

    Eben weil mir Mahler emotional oder seelisch oder geistig oder sinnlich oder transzendental - oder wie man es auch immer nennen mag - nichts zu sagen vermochte, blieb mir ja nicht anderes übrig, als mich nun verkopft und rational an ihn heranzutasten. Bei anderen Komponisten ist mir das egal, wenn sie bzw. einige ihrer Werke mir nicht gefallen (Schumann, Schostakowitsch, Rachmaninow, Chatschaturjan etc.), dann höre ich sie eben nicht und damit basta! Bei Mahler habe ich einen gewissen Ehrgeiz, weil ich glaube, mich erwartet da noch etwas!

  • Einen Teil meines Nicks hast du also schon geknackt! :)

    Und dem anderen Teil werde ich solange hinterher grübeln, bis ich Sterne sehe. :P

    "Geduld und Gelassenheit des Gemüts tragen mehr zur Heilung unserer Krankheiten bei, als alle Kunst der Medizin." (W.A. Mozart)

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  • Warum meinst Du, dass Du bei Mahler mehr "verpasst" als zB bei Schumann oder Schostakowitsch?


    Ich vermute, dass es mehr Hörer gibt, die entweder a) Mahler und Bruckner schätzen oder b) keinen von beiden als c) solche, die nur einen von beiden hören. Es gab immer mal die "Theorie" auch in einem der schon viel zu vielen Mahler (oder evtl. Bruckner) threads im Forum bzgl. typischer "Mahler" bzw. "Bruckner"-Dirigenten.
    Das hat sich aber nicht erhärtet, weil es zu viele Gegenbeispiele gibt, ungeachtet solcher Fälle wie Bernstein (von Bruckner nur die 9.) oder Celibidache (Mahler nicht geschätzt).
    Es gibt ja schon ein paar Anmerkungen in den unterschiedlichen "X verstehen" threads, wenn ich mal mehr Muße habe, schreibe ich vielleicht auch noch mal was dazu. Ich meine, dass es unterschiedliche Weisen gibt, an Musik heranzugehen.
    Die Frage nach dem "Verstehen" stellt sich, das kommt in einigen Beiträgen sehr deutlich heraus, meist nur, wenn der "unmittelbare" oder "naive" Zugang nicht funktioniert. (Deshalb wundern sich viele, was es zB bei Mozart zu "verstehen" geben könnte, da sie meinen, dass seine Musik jedem spontan gefallen müsste. Beides ist natürlich nicht richtig.)
    Freilich ist beim Gelingen des unmittelbaren Zugangs noch lange nicht gesagt, dass der Hörer die Musik "verstanden" hat. Hörer haben hier ja auch unterschiedliche Ansprüche. Einer will durchgehend emotional gepackt werden, dem anderen reichen ein paar schöne Stellen, der dritte will Strukturen verstehen usw. Wenn aber irgendein einigermaßen unmittelbarer Zugang gelingt, hat man einen Fuß in der Tür und allein durch aufmerksames wiederholtes Hören wird sich gewisses Verstehen einstellen. Wenn die Musik dagegen erst einmal kalt lässt, kommt man dann auf die Idee, man müsste irgendwelche zusätzlichen Informationen haben. Manchmal stimmt das vielleicht ja auch und hilft dabei, genügend Geduld aufzubringen, immer wieder zu hören, evtl. auf bestimmte Sachen zu achten, bis es dann klingelt.
    Fake it till you make it!

    Struck by the sounds before the sun,
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    The morning breeze like a bugle blew
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    (Bob Dylan)

  • Mahler war auch bei mir ein Komponist, mit dem ich lange Zeit nichts anfangen konnte - und (hinter vorgehaltener Hand gesprochen) die Wiener Philharmoniker auch nicht. Es gibt da die bekannte Geschichte eines Konflikts zwischen Bernstein und den Wiener Philharmonikern. Was mein Kulturkunde- Lehrer (Buchhändler-Ausbildung)um 1968 über Mahler und seine Kompositionen gesagt hat war wenig schmeichelhaft.
    Mein persönlicher Zugang zu Mahler (einige Sinfonien mag ich bis heute nicht - und die höre ich auch nicht !!) ging über "Die Lieder eines fahrenden Gesellen" - die mich schon zu Beginn fasziniert haben (Im Gegensatz zu den Kindertotenliedern - die ich meide) Ich war sehr jung und hatte es vermieden, mich über Werke zu Informieren bevor ich sie erstmals hörte, weil hier ein wichtiger Überraschungseindruck - den ich für wichtig halte - verloren geht. So war ich richtig überrumpelt, als ich beim Ersthören von Mahlers 1. Sinfonie plötzlich Themen aus dem "Fahrenden Gesellen" erkennen konnte.... Die haben sich wie ein Ohrwurm eingegraben - und ein erster Schritt war getan.....


    mit freundlichen Grüßen aus Wien


    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Warum meinst Du, dass Du bei Mahler mehr "verpasst" als zB bei Schumann oder Schostakowitsch?

    Sicher eine Frage der Bedeutungsaufladung, des kulturellen Gedächtnisses oder schlicht der Beeinflussung durch Geister, von denen man glaubt, sie müssten eigentlich wissen, warum sie Mahler so schätzen - bei mir eben die verehrten Wollschläger oder Henscheid!



    Ich vermute, dass es mehr Hörer gibt, die entweder a) Mahler und Bruckner schätzen oder b) keinen von beiden als c) solche, die nur einen von beiden hören. Es gab immer mal die "Theorie" auch in einem der schon viel zu vielen Mahler (oder evtl. Bruckner) threads im Forum bzgl. typischer "Mahler" bzw. "Bruckner"-Dirigenten.
    Das hat sich aber nicht erhärtet, weil es zu viele Gegenbeispiele gibt, ungeachtet solcher Fälle wie Bernstein (von Bruckner nur die 9.) oder Celibidache (Mahler nicht geschätzt).

    Also wäre das doch noch zu klären, ich finde es jedenfalls interessant, ja spannend!



    Zitat

    Die Frage nach dem "Verstehen" stellt sich, das kommt in einigen Beiträgen sehr deutlich heraus, meist nur,
    wenn der "unmittelbare" oder "naive" Zugang nicht funktioniert. (Deshalb wundern sich viele, was es zB bei Mozart zu "verstehen" geben könnte, da sie meinen, dass seine Musik jedem spontan gefallen müsste. Beides ist natürlich nicht richtig.)

    Ja, das ist wahr! Ich habe lange Zeit mit Ausnahme der Opern nichts mit Mozart anfangen können, weil mir einfach zu vieles wie Spieldosen- und Uhrwerksmusik vorkam, irgendwie zu gefällig und zu mechanisch-vorhersehbar. Mozart wirklich zu verstehen, ist deshalb schwerer, weil er eben so vielen auf den ersten Blick (beim ersten Hören) so eingängig erscheint. Bei Mahler sieht das ganz anders aus!



    Zitat

    Einer will durchgehend emotional gepackt werden, dem anderen reichen ein paar schöne Stellen, der dritte will Strukturen verstehen usw. Wenn aber irgendein einigermaßen unmittelbarer Zugang gelingt, hat man einen Fuß in der Tür und allein durch aufmerksames wiederholtes Hören wird sich gewisses Verstehen einstellen. Wenn die Musik dagegen erst einmal kalt lässt, kommt man dann auf die Idee, man müsste irgendwelche zusätzlichen Informationen haben. Manchmal stimmt das vielleicht ja auch und hilft dabei, genügend Geduld aufzubringen, immer wieder zu hören, evtl. auf bestimmte Sachen zu achten, bis es dann klingelt.

    Das nenne ich wohl gesprochen!

  • ... und (hinter vorgehaltener Hand gesprochen) die Wiener Philharmoniker auch nicht. Es gibt da die bekannte Geschichte eines Konflikts zwischen Bernstein und den Wiener Philharmonikern. Was mein Kulturkunde-Lehrer (Buchhändler-Ausbildung) um 1968 über Mahler und seine Kompositionen gesagt hat war wenig schmeichelhaft.

    Also das wusste ich noch nicht, das haut mich glatt aus den Socken!

  • Sicher eine Frage der Bedeutungsaufladung, des kulturellen Gedächtnisses oder schlicht der Beeinflussung durch Geister, von denen man glaubt, sie müssten eigentlich wissen, warum sie Mahler so schätzen - bei mir eben die verehrten Wollschläger oder Henscheid!

    Naja, gilt Schumann nicht auch gemeinhin im deutschen kulturellen Gedächtnis als einer der größten Romantiker? Wenn man Schumann nicht mag, hat man ebenso wie bei Mahler einige sehr namhafte und kompetente Kontrahenten. Schostakowitsh ist sicherlich weitaus umstrittener.

  • Naja, gilt Schumann nicht auch gemeinhin im deutschen kulturellen Gedächtnis als einer der größten Romantiker? Wenn man Schumann nicht mag, hat man ebenso wie bei Mahler einige sehr namhafte und kompetente Kontrahenten. Schostakowitsh ist sicherlich weitaus umstrittener.

    Da hast du ohne Zweifel Recht! Bei mir schlägt eben die biografische Komponente in Richtung Mahler aus; würde ich Leute verehren, die Schumann schätzen, läge der Focus sicher auf diesem. Wobei man natürlich schon noch den Unterschied konzedieren muss, dass vielen Mahler mehr als Revolutionär gilt denn Schumann und er daher vielleicht den größeren Schatten wirft. Aber ich will mich da jetzt nicht weiter versündigen, auch ich stand andächtig in Zwickau, Hauptmarkt 5 ...

  • Literarischen Vorbildern auch ins Musikalische folgen zu wollen ist ein eher frustrierendes Unterfangen. Mein Lieblingsschriftsteller, Werfel, konnte weder mit Bach noch Mendelssohn etwas anfangen aber verehrte Verdi über alle Maßen. Bei mir ist es genau umgekehrt (habe nichts gegen Verdi, aber seine Musik ist mir fremd). Sowohl Hesse als auch Stalin liebten Mozart, Lenin und Thomas Mann liebten Beethoven und Goebbels so wie Albert Schweitzer liebten die Matthäuspassion. Besser gar nicht darüber nachdenken.

  • Literarischen Vorbildern auch ins Musikalische folgen zu wollen ist ein eher frustrierendes Unterfangen. Mein Lieblingsschriftsteller, Werfel, konnte weder mit Bach noch Mendelssohn etwas anfangen aber verehrte Verdi über alle Maßen. Bei mir ist es genau umgekehrt (habe nichts gegen Verdi, aber seine Musik ist mir fremd). Sowohl Hesse als auch Stalin liebten Mozart, Lenin und Thomas Mann liebten Beethoven und Goebbels so wie Albert Schweitzer liebten die Matthäuspassion. Besser gar nicht darüber nachdenken.

    Das ist aber ein hochinteressantes Thema, wert eines eigenen Threads - "Dichter und ihre Lieblingskomponisten", "Politiker und ihre Lieblingskomponisten" etc.! Man muss ja nicht gleich mit Hitler und Wagner anfangen; aber der Musikgeschmack sagt eine Menge über eine Person aus: Der im Grunde unmusikalische Schopenhauer mochte Rossini, Goethe stand auf Zelter usw.! Und dass man sich persönlich von großen Geistern anregen und befruchten lässt, halte ich für völlig normal; ob man dann d'accord geht, steht natürlich auf einem anderen Blatt; aber der Wille zur Beschäftigung ist doch auch schon was.

  • War Schopenhauer unmusikalisch? Mir sind einige sehr positive Aussagen Schopenbhauers über die Musik bekannt. Goethe schätzte Zelter vor allem als Liederkomponisten, da er in Zelters Werken sein Ideal der Gedichtvertonung verwirklicht sah. Ansonsten hielt er doch große Stücke auf Bach, Haydn, Mozart und Mendelssohn.


    Das Problem, das ich in dieser "Aufladung" der "großen Geister" sehe, ist, dass kein großer Geist allumfassend groß ist, so wie ein charakterlich verwerflicher Mensch nicht in jeder Hinsicht widerlich sein muss (es gäbe ja noch das Beispiel des virtuosen Geigers Heydrich). Ich denke, es führt nur zu Enttäuschungen, wenn man sich da zu sehr darauf einlässt. Umgekehrt funktioniert es ja auch nicht: Schumann und Berlioz waren sehr tiefsinnige Denker, während Chopin zwar ein sehr tiefsinniger Komponist aber ansonsten ein in flachstem Konventionalismus gefangener Mensch war (trotz der Liaison mit Madame Sand). Bruckner und Dvorák würde ich auch nicht gerade als "große Geister" bezeichnen.



    Fazit: Op man Mahler mag oder nicht ist "Veranlagungssache", lässt sich aber nicht mit mangelnder oder reichlicher Tiefsinnigkeit begründen.

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