Hugo Wolf und Eduard Mörike

  • "Ein Komponist findet sich in einem Dichter.“


    Es gibt bereits einen Thread zu den Liedern Hugo Wolfs. Ausweislich seiner Zielsetzung ist er allgemein-deskriptiver Art, weist also keine zentrale Fragestellung und keinen thematischen Schwerpunkt auf. Hier aber soll es genau darum gehen: Ein Sich-Einlassen auf die Lied-Komposition Hugo Wolfs unter einer ganz spezifischen Fragestellung. Das rechtfertigt – aus meiner Sicht – die Einrichtung eines Parallel-Threads. Er hat eine den bereits bestehenden Thread ergänzende, ihn inhaltlich und perspektivisch erweiternde Funktion.


    Diese den Thread inhaltlich und strukturell prägende, zentrale Fragestellung ist komplexer Art. Bringt man sie auf ihren Kern, so wäre sie sprachlich so zu fassen:
    Welche Auswirkungen und welche Folgen hat die Begegnung Wolfs mit dem lyrischen Werk Mörikes für die musikalische Substanz und die spezifische kompositorische Faktur seiner Lieder?


    Diese Fragestellung lässt erkennen: Der Thread ist in seinem Ansatz zweipolig. Es soll dabei sowohl um Hugo Wolf und damit um die musikalische Dimension des Themas gehen, als auch soll die literarische, die speziell lyrische Komponente eine angemessene Berücksichtigung finden.


    Von Hugo Wolfs erstem Biograph, Ernst Decsey („Hugo Wolf. Das Leben und das Lied“, Berlin 1919), stammt die Feststellung: „Wolf hat Mörike von der Literatur erlöst … der unbekannte Wolf hat den unbekannten Mörike entdeckt“. Das ist sprachlich ein wenig pointiert, aber es trifft den Kern der Sache.
    Und ich würde hinzufügen: Hugo Wolf hat Mörike als lyrischen Dichter nicht nur „entdeckt“ und ins Licht der Öffentlichkeit gerückt, er hat sich in ihm als Liedkomponist auch gefunden, - gefunden in dem Sinne, dass er sein genialisches Potential als Liedkomponist auf dem Weg einer Art Initialzündung in Form einer Begegnung mit einem wesensverwandten Lyriker zu entfalten vermochte.


    Neben Hugo Wolf gibt es nur noch einen Komponisten, der sich in vergleichbarem Umfang und ähnlicher Intensität auf das lyrische Werk Mörikes eingelassen hat: Das ist Othmar Schoeck. Zu Lebzeiten Mörikes ließen sich – auf musikalisch unzulängliche Art – die schwäbischen Komponisten Ernst Friedrich Kauffmann und Louis Hetsch auf Mörikes Gedichte ein. Von Schumann gibt es sieben Vertonungen in Form von Liedern und Chören, von Johannes Brahms nur drei. Othmar Schoeck kommt in der Zahl seiner Lieder auf Gedichte Mörikes zwar beinahe an Hugo Wolf heran: Dieser dreiundfünfzig, jener sechsundvierzig.


    Aber es gibt einen fundamentalen Unterschied in der kompositorischen Intention, die beiden Wolf-Vertonungen zugrundeliegt. Ich brachte ihn im Thread zu den Liedern Othmar Schoecks auf den Nenner:
    Während Hugo Wolf in gnadenloser, aber überaus beeindruckender musikalischer Deutlichkeit die tiefen Brüche in Mörikes Lyrik aufdeckt, will Schoeck mit seinen Mörike-Vertonungen hörbar werden lassen, dass der Riss zwischen Welt und Ich, der sich durch Mörikes Lyrik zieht, nicht endgültig ist, vielmehr überwunden werden kann.


    Dieser „Riss zwischen Ich und Welt“ ist tatsächlich der tiefe Untergrund, in dem Mörikes Lyrik wurzelt, und aus dem sie entspringt. Man hat das lange gar nicht wahrgenommen und in seinen Gedichten die Ausgeburt eines die biedermeierliche Idylle pflegenden Dorfpastors gesehen, dessen dichterische Perspektive von dem Turmhahn gegenüber seinem Fenster ganz und gar ausgefüllt wurde.


    Nur wenige haben zunächst erkannt, dass dies eine geradezu groteske Verkennung der Größe von Mörikes Lyrik ist. Hermann Hesse, einer der ersten, merkte hierzu in seiner Ausgabe von Mörike-Gedichten 1913 an:
    „Er lebte in der manchmal bis zum Trostlosen gesteigerten Einsamkeit, die jeden Schöpfer ungewollt umgibt, und das tiefe goldige Leuchten, das seine Werke für Unzählige zu einem Jungbrunnen und Born der Lebensfreude gemacht hat, ist aus schwerem Leid und Kampf geboren.“
    Und Friedrich Gundolf fügte dem, fast zwanzig Jahre später, hinzu:
    (Mörikes Gedichte) „kommen nicht zuvörderst aus literarischer Ergriffenheit, der dann die eigene Stimmung einfiel, nicht aus der Wehmut lieblicher Gefühle, (…) sondern aus der jähen Erschütterung des Herzens, das sich der gerade begegnenden Erscheinungen bemächtigt mit den Bannformeln der deutschen Sprache.“


    Der erste Komponist – und ich würde behaupten: der einzige - , der diesen existenziellen Unter- und Hintergrund der Lyrik Mörikes in vollem Umfang – und damit in der Vielfalt seiner lyrischen Erscheinungsformen – musikalisch kompromisslos erfasst hat, ist Hugo Wolf. Mit dem Wort „kompromisslos“ hebe ich ab auf Othmar Schoeck. Denn bei diesem habe ich immer wieder den Eindruck, dass er sich ein wenig scheute, sich der tiefen Zerrissenheit, die sich in Mörikes Lyrik immer wieder einmal zu Wort meldet, kompositorisch ganz zu öffnen.


    Hugo Wolf tat das. Wahrscheinlich, weil es zwischen ihm und Mörike, was die existenzielle Grundbefindlichkeit anbelangt, eine tiefinnere Verwandtschaft gab.Und er „tat“ es in seiner von Richard Wagner her geprägten kompositorischen Grundhaltung. Nicht die allgemeine Stimmung der lyrischen Bilder eines Gedichtes sollte musikalisch eingefangen, sondern die Aussage des lyrischen Textes sollte im Zusammenspiel von Vokallinie und Klaviersatz in unmittelbarem Sich-Einlassen auf die sprachliche und Struktur und die Sprachmelodie musikalisch zum Ausdruck gebracht werden. Für den Zeitgenossen Claude Debussys wird dabei nicht nur das Melos in seiner spezifischen Struktur, sondern auch der situativ sich artikulierende Klang zu einem fundamental wichtigen Ausdrucksmittel.


    Wenn dieser Thread den Nebentitel trägt „Ein Komponist findet sich in einem Dichter“, so soll dabei die Tatsache gewürdigt werden, dass Hugo Wolf in der Begegnung mit der Lyrik Eduard Mörikes eine Art kompositorischen Impuls erfuhr, der all seine Fähigkeiten als Liedkomponist schlagartig und fast rauschhaft freisetzte und zur Entfaltung brachte. Er besaß Mörikes Gedichte schon als Achtzehnjähriger und hütete sie wie ein Augapfel, so dass er sich weigerte, Henriette von Schey das Buch auszuleihen. Begründung: „Er könne sich einfach keine Stunde davon trennen.“


    Wolf begann am 16. Februar mit „Der Tambour“. Nach fünf Tagen Pause setzte ein regelrechter Schaffensrausch ein, der bis zum ersten April anhielt. Im März entstanden zwanzig Lieder, am 18. Mai lagen dreiundvierzig Lieder vor. Ende Mai musste Wolf seine Wohnung in Perchtoldsdorf räumen. Die Mörike-Komposition wurde dadurch unterbrochen. Er widmete sich für einige Zeit den Gedichten Eichendorffs. Aber am achten Oktober notierte er, er habe soeben „wieder fleißig gemörikelt“. Am 26. November 1888 war mit dem Lied „Auf eine Christblume II“ der Mörike-Zyklus abgeschlossen. Er erschien unter dem Titel: „53 Gedichte von Eduard Mörike, für eine Singstimme und Klavier komponiert von Hugo Wolf“.


    Zugleich impliziert der Nebentitel dieses Threads auch den Anspruch, bei den einzelnen Liedbesprechungen neben der Musik Hugo Wolfs auch die Lyrik Eduard Mörikes in der jeweils angemessenen Weise zu berücksichtigen. Gerade im Falle des Liedkomponisten Hugo Wolf ist das ja regelrecht geboten, lebte er doch kompositorisch mit diesen Gedichten regelrecht. Er las sie sich täglich immer wieder aufs Neue vor, notierte sich musikalische Motive, arbeitete sie am Klavier dann weiter aus und schrieb die Komposition dann nieder, - nahezu immer ohne weitere Korrekturen.


    Es gilt also hier die Feststellung Erik Werbas:


    Mörike-Wolf ergibt eine dichterisch-kompositorische >Einheit in der Mannigfaltigkeit<, wie sie in der deutschsprachigen Literatur keine Parallele (auch nicht bei Goethe-Schubert, Heine-Schumann, Daumer-Brahms) aufzuweisen hat.“

  • …zur Verfahrensweise und zu den Aufnahmen:
    Ich stütze mich bei meinen Liedbesprechungen auf die Interpretation von Dietrich Fischer-Dieskau, begleitet von Daniel Barenboim. Die Aufnahme wurde im Dezember 1972 in Paris von DG produziert. Ich bevorzuge sie gegenüber der aus den sechziger Jahren stammenden Aufnahme mit Gerald Moore, weil der Klavierpart – bei Hugo Wolf höchst relevant - hier deutlich markanter und expressiver zur Geltung kommt.


    Für die Lieder, die Fischer-Dieskau nicht eingesungen hat, ziehe ich von Fall zu Fall die Interpretationen durch weibliche Stimmen heran, die mir besonders gelungen erscheinen. Im wesentlichen stütze ich mich aber ergänzend auf die Aufnahme der Mörike-Lieder mit Joan Rodgers, Stephan Genz und Roger Vignoles, die 2001 bei hyperion erschien.


    Schön und wünschenswert wäre es, wenn alle Lieder dieses Mörike-Opus hier im musikalischen Sinne und mit den zugehörigen deskriptiven und analytischen Kommentaren zu Wort kämen. Das ist natürlich für den Initiator dieses Threads, so er sich dieses denn zur Aufgabe macht, ein großes Vorhaben, von dem er nicht weiß, ob es ihn vielleicht doch überfordern könnte.


    Ich wage es einmal, mir diese Aufgabe aufzuladen, - in einem Anfall von Kühnheit sozusagen. Aber das ist es ja eigentlich nicht alein. Natürlich animiert mich, wie es jedem anderen in gleicher Lage ginge, der unendliche musikalische Reichtum dieser Lieder dazu. Und vielleicht, so denke und hoffe ich, wird das Vorhaben ja von anderen Tamino-Mitgliedern mit eigenen Beiträgen unterstützt, ergänzt, bereichert und fortgesetzt, wenn mir denn die Puste nicht reichen und der Geist ausgegangen sein sollte.

  • Tödlich graute mir der Morgen:
    Doch schon lag mein Haupt, wie süß!
    Hoffnung, dir im Schoß verborgen,
    Bis der Sieg gewonnen hieß.
    Opfer bracht ich allen Göttern,
    Doch vergessen warest du;
    Seitwärts von den ewgen Rettern
    Sahest du dem Feste zu.


    O vergib, du Vielgetreue!
    Tritt aus Deinem Dämmerlicht,
    Daß ich dir ins ewig neue,
    Mondenhelle Angesicht
    Einmal schaue, recht von Herzen,
    Wie ein Kind und sonder Harm;
    Ach, nur einmal ohne Schmerzen
    Schließe mich in deinen Arm!


    Ein Gedicht, bei dem es sich um ganz typische Mörike-Lyrik handelt. Es ist lyrische Reflexion einer elementar menschlichen - man könnte auch sagen existenziellen – Grunderfahrung: Sich in der Situation der Genesung von einer Krankheit wiederzufinden. Und das an einem Morgen, - eine für Mörikes Lebens- und Daseinsgefühl sozusagen konstitutive Tageszeit.


    Überaus expressiv der erste Vers: Ein Morgen, der „tödlich graut“ hat etwas Erschreckendes an sich. Das nachfolgende „Doch“ empfindet man wie eine Befreiung aus diesem Grauen. Und noch mehr befreit einen aus diesem schrecklichen Wort dieses „wie süß“. Der große Lyriker Mörike zeigt seine Kunst.


    Das lyrische Ich hat etwas abzubitten. Das ist der Ton, der dieses Gedicht prägt. Er verdichtet sich sprachlich in den an die personalisierte Hoffnung gerichtete Bitte: „O vergib, du Vielgetreue!“. Und was nachfolgt, ist ein in seinen lyrischen Bildern bezaubernder Lobpreis dieser Person „Hoffnung“. Ein „mondenhelles Angesicht“ ist ihr eigen, und das lyrische Ich wünscht sich nicht mehr, als „noch einmal“ in ihren Arm geschlossen zu werden.


    „Noch einmal“, - hier artikuliert sich lyrisch das Wissen um die Vergänglichkeit dieser Situation des Genesen-Seins. Das Wissen um die elementare Bedrohung des menschlichen Lebens. Und so etwas macht ein lyrisches Gedicht groß.

  • Die ersten 15 Takte dieses Liedes sind der Inbegriff einer ins Höchste und Kunstvollste gesteigerten, aus dem Geist und der Aussage des lyrischen Textes erwachsenen musikalischen Expressivität. Aus einem tonlosen Pianissimo wächst die Dynamik der melodischen Linie zu einem fanfarenhaften Fortissimo an. Das lyrische Wort „Sieg“ hat sie dazu gebracht.


    Und so ist es auch die Dominanz der lyrischen Worte „tödlich“ und „grauen“, die den Liedanfang klanglich prägt. Aus tiefer Basslage steigen in dreitaktigen Vorspiel Oktaven auf: Pianissimo, zögerlich, stockend, müde münden sie in einen verminderten Akkord, bevor sie ihren Aufstieg fortsetzen können. Mit der gleichen Müdigkeit lagert sich die Vokallinie in sie ein. Fast tonlos deklamiert die Singstimme auf einer tonalen Höhe, fällt dann um eine kleine Sekunde ab, bevor sie im Intervall einer Terz langsam nach oben steigt, um auf dem Wort „Morgen“ erst einmal innezuhalten. Wieder drängt sich ein dissonanter Akkord in sie hinein. Eine Pause folgt. Die Mattigkeit fordert sie.


    Dann aber, schon bei dem Wort „Doch“, das den nächsten Vers einleitet, ereignet sich eine harmonische Rückung in ein helleres Dur, und die Bewegung der melodischen Linie wird lebhafter, gewinnt sogar einen Anflug von klanglicher Wärme. Das lyrische Wort „süß“ hat sie dazu bewogen. Beim dritten Vers dominieren dann Abwärtsbewegungen in der Vokallinie. Es ist, als besinne sich das lyrische Ich auf sich selbst und werde sich seiner Situation langsam bewusst: Der Sieg ist gewonnen..


    Dieser vierte Vers ist die zentrale Aussage der ersten musikalischen Strophe. Er wird deshalb wiederholt, wobei sich eine klanglich fulminante Steigerung seiner musikalischen Expressivität ereignet. Beim zweiten Deklamieren des Wortes „Sieg“ erreicht die Vokallinie den höchsten Ton ihrer bisherigen Bewegung und verharrt dort fortissimo im Wert einer halben Note. „Breit“ lautet an dieser Stelle die Vortragsanweisung. Und wenn dann die melodische Linie in zwei Schritten wieder zu dem Wort „hieß“ herabgestiegen ist, erklingt im Klavier eine aufsteigende Akkordflut, die wie eine nachträgliche Verstärkung der gerade melodisch gemachten Aussage wirkt.


    Der rezitativische Gestus bleibt in der melodischen Linie der nächsten Vers-Vierergruppe noch erhalten. Das lyrische Ich blickt zurück und klagt sich an. Aufgegriffen wird das mit einer sich in unterschiedlichen Tonlagen bewegenden und immer wieder von Pausen unterbrochenen Vokallinie, die jetzt in eine, allerdings instabile, Ges-Dur-Harmonik eingebettet ist. Die Strophe mündet in ein Klavierzwischenspiel, dessen harmonische Rückungen von einem Halbtonschritt geprägt sind. Er ist auch in der Bewegung der melodischen Linie immer wieder zu vernehmen und kann durchaus als musikalischer Ausdruck des reflexiven Grundcharakters dieses Gedichts und des Liedes verstanden werden.


    Mit den lyrischen Worten „O vergib, du Vielgetreue“ wird der rezitativische Grundton durch einen lyrischen abgelöst, der in seinem melodischen Fluss eine wachsende Steigerung erfährt. „Mit innigster Empfindung“ lautet die Vortragsanweisung. Klanglich berückend, weil von permanenten harmonischen Modulationen getragen, wirkt der langsame Anstieg der melodischen Linie bei den Versen drei und vier der zweiten Strophe, der bei dem Wort „mondenhell“ seinen Höhepunkt erreicht.


    „Sehr innig“ sollen die Worte der letzten vier Verse gesanglich vorgetragen werden. Und die melodische Linie liefert in ihrer Anlage alle Voraussetzungen dazu. Ruhig, in Terz und Sekunde, steigt die Vokallinie bei den Worten „einmal schaue“ herab, um diese Fallbewegung, in höherer Lage ansetzend, gleich noch einmal zu vollziehen und die Innigkeit damit zu steigern.


    Ganz dem Seufzer „Ach“ gemäß, mit dem der zweitletzte Vers eingeleitet, beschreibt die melodische Linie dann bei den Worten „nur einmal ohne Schmerzen“ einen in hohe Lage aufsteigenden Bogen, um dann mit einem höchst expressiven Oktavfall in tiefer Lage die letzten Worte („in deinen Arm“) erklingen zu lassen. In kleinen Sekunden fällt dabei die melodische Linie auf den tiefsten Ton des Liedes ab und kommt dabei hörbar zur Ruhe.

  • Es ist kein Zufall, dass Hugo Wolf dieses Lied an den Anfang seines Mörike-Corpus („Zyklus“ möchte ich diese Folge von 53 Liedern nicht nennen) gestellt hat. Es war je keineswegs das erste Mörike-Gedicht, das er vertonte. Bereits sieben Jahre zuvor hatte er „Suschens Vogel“ komponiert, und ein Jahr später entstand sein erstes wirklich bedeutsames Mörike-Lied: „Mausfallen-Sprüchlein“. Diese Lieder nahm er aber nicht in sein Liedwerk von 1888 auf.


    Aber auch innerhalb dieser Liedgruppe von 1888 ist „Der Genesene an die Hoffnung“ nicht die erste Komposition. Das ist vielmehr das am 16. Februar entstandene Lied „Der Tambour“ ( das spätere Lied 5). „Der Genesene an die Hoffnung“ wurde, zusammen mit „Zitronenfalter im April“ am 6. März komponiert.


    Wolf hatte vor dem Ausbruch seines Schaffensrausches im Februar 1888 eine lange Phase der Depression hinter sich. Man ist sich heute sicher, dass er an einer sog. Bipolaren Störung litt. Im Herbst des Vorjahres bekannte er, dass er „ganz stumpfsinnig geworden“ sei. Eine wesentliche Rolle bei der Verstärkung der depressiven Phasen dürfte auch die Tatsache gespielt haben, dass er nicht nur körperlich, sondern auch seelisch unter den Folgen der Syphilis-Infektion litt, die er sich vermutlich um die Jahreswende 1877/78 zugezogen hatte und die später in den Wahnsinn mündete.


    Im Frühjahr 1888 fühlte er sich in einer Verfassung, in der ihn Mörikes Gedicht ganz unmittelbar ansprach. Er konnte die dort lyrisch artikulierten Empfindungen voll und ganz nachvollziehen, da er sich selbst als „Genesener“ empfand. Es war für ihn also ganz naheliegend, dieses Lied an den Anfang der ganzen Gruppe zu stellen.

  • Kritiker haben an diesem Lied bemängelt, dass die ersten vier Verse zu stark auf musikalischen Effekt hin angelegt seien. Gemeint ist die – ja nun wirklich extreme – Steigerung der Dynamik von einem Pianissimo zu einem Fortissimo, verbunden mit einer in tiefer Lage gleichsam gebrochen einsetzenden Stimme, die sich dann zu einem gleichsam strahlenden hohen „gis“ aufschwingt.


    Nun hat Wolf tatsächlich eine in seinem Verständnis vom Wesen und der Aufgabe von Musik wurzelnde Neigung, Affekte musikalisch stark zu betonen. Vielleicht spielt hier ja auch seine tiefe Liebe zur Oper und sein unerfüllt gebliebener Wunsch, ein großer Opernkomponist zu werden, eine Rolle. Hier aber, bei diesem Lied, scheint mir der Vorwurf einer Übersteigerung des Affekts unangebracht zu sein.


    Lyrisch ereignet sich ja wirklich so etwas wie ein Weg vom Dunkel ans Licht: Aus der Schwärze und Hoffnungslosigkeit der Nacht in die Helle eines von Hoffnung erfüllten Morgens. Immerhin setzt das Gedicht mit dem wie ein Fanal wirkenden Wort „tödlich“ ein. Der lyrische Kontrapunkt dazu ist das Wort „Sieg“. Was lag also näher, als diesen Weg musikalisch so nachzuvollziehen, dass er in seinem Wesen als Erlösung vom tödlichen Grauen hörend nachvollzogen werden kann?


    Es muss aber noch ein Aspekt bedacht werden. Wolf hätte die dynamisch sich steigernde Bewegung der melodischen Linie der Singstimme nach oben ja auch so anlegen können, dass der strahlende Höhepunkt beim letzten Wort des vierten Verses („hieß“) erreicht wird. In diesem Fall wäre Kritik im Sinne vordergründiger Effekthascherei vielleicht tatsächlich angebracht gewesen. Aber so sieht die melodische Linie ja nicht aus. Er nimmt sie in der letzten Phase nicht nur in ihrem Weg nach oben wieder zurück, sondern senkt sie bei dem Wort „hieß“ in die Tiefe ab. Bei dem Wort „Sieg“ erreicht sie ihren Höhepunkt auf einem mit einer Dehnung versehenden „gis“. Von dort aber macht sie einen Sextfall, bewegt sich von dort zwar noch einmal zu halber Höhe aufwärts, um am Ende einen Quintfall hinab zu einem tiefen „e“ zu vollziehen.


    Ich meine, dass Wolf damit sehr bewusst eine Übersteigerung des Affekts vermeiden wollte. Der Sieg ist gewonnen. Aber das lyrisch Ich nimmt sich im Augenblick des Bewusstwerdens dieser Tatsache wieder zurück in seine augenblickliche Lage: Das Wissen um die Zeitlichkeit dieses „Sieges“ und die mögliche Wiederkehr des „tödlichen Grauens“. Wolf hat diese Verse Mörikes wohl so gelesen, wenn man der Aussage seiner Musik folgt.

  • Wie bei den anderen Threads, die sich schwerpunktmäßig mit dem Liedwerk eines Komponisten befasst haben, soll auch hier versucht werden, da und dort, wenn es sich in einem bestimmten Stadium der Liedbetrachtung anbietet, auf bestimmte biographische Aspekte einzugehen, um mögliche Zusammenhänge zwischen der Liedkomposition und der Person des Komponisten nachzugehen. Die sind oft überaus aufschlussreich.


    Im Beitrag zur Eröffnung dieses Threads wurde schon einiges zur Entstehung dieses Mörike-Opus gesagt. Wolf, der ja, ähnlich wie Schubert, das Wagnis eines freischaffenden Komponisten eingegangen war und infolgedessen über wenig eigene Einkünfte (außer jenen von Klavierstunden, bei denen er aber die Mütter vergrätzte) verfügte, musste sich immer mit Wohnungen begnügen die eigentlich Notunterkünfte waren. Mehr war für einen armen Schlucker, der auf finanzielle Unterstützung durch andere (seinen Vater zum Beispiel) angewiesen war, nicht drin.


    Da fand er im Januar 1888 das ein kleines Haus in Perchtoldsdorf, Brunnergasse 26, einem Marktflecken am Rande des Wienerwalds, das der Familie Werner gehörte. Es ist heute Hugo-Wolf-Gedenkstätte. Auch dort war die Einrichtung primitiv: Kein fließendes Wasser, ein Kachelofen, der schlecht und recht funktionierte, als Lichtquelle Öllampen. Wolf klagte, er sei an einen „schrecklichen Verbannungsort“ geraten. Aber dieses Haus hatte einen Vorteil: Es bot Ruhe zum Komponieren. Wolfs war – wohl Folge seiner seelischen Erkrankung – extrem lärmempfindlich und jagte schon mal spielende Kinder mit der Peitsche davon oder wollte alle Hühner einschließlich Hahn abschlachten. Selbst Singvögel konnten ihm zu Qual werden.


    Hier nun ereignete sich das, was man nicht anders denn als Ausbruch eines Schaffensrausches bezeichnen kann. Wolf, der wie so oft erst einmal wochenlang auf musikalische Einfälle wartete, wurde davon selbst überrascht, wie alle seine brieflichen Äußerungen erkennen lassen. Und dies ist nun das biographisch Relevante an diesem Vorgang:


    Wolf ist als Komponist auf Inspiration von außen angewiesen. Als „absoluter Musiker“, als ein Komponist also, der aus einem musikalischen Motiv ein größeres Werk entwickeln konnte, wollte er sich nicht sehen. Sein kompositorisches Grundkonzept ist das einer, wie er selbst sagt, „innigen Verschmelzung von Poesie und Musik“. „Inspiration von außen“ heißt also: Musikalische Eingebung durch das lyrische Wort. Diesbezüglich ist er ganz und gar überzeugter Anhänger der neudeutschen Literarisierung der Musik. Später rückte er freilich davon ein wenig ab.


    Auf diese von Literatur ausgelöste Inspiration musste er regelrecht warten. Was er tun konnte, war permanentes Lesen. Hermann Bahr berichtete: „Er hatte immer irgendein Buch bei sich. Aus sich selbst, schien es, konnte er in keine Stimmung geraten; sie mußte ihm immer erst angeschlagen werden.“ So war es auch im Falle von Mörike. Aus Berichten von Augenzeugen wissen wir, dass er mit dem Mörike-Gedichtband in der Hand so lange hin und her lief, bis er eine gleichsam blitzartige Erleuchtung hatte, die er dann sofort zu Papier brachte, ohne hinterher noch viel zu ändern.


    Sein Freund Edmund Hellmer schildert sein Verhalten damals so:
    „Alles in ihm war gereizt und gesteigert, er selbst wie von unsichtbaren Geistern gehetzt und gejagt – ein Besessener – nach seinem eigenen Wort.“


  • Vielleicht, so denke ich gerade, wohl wissend, dass ich hier keine bunten Bildchen und statt dessen nur reichlich viel trockenes Gedankengut zu bieten habe, was angesichts der Tatsache, dass es hier um solch faszinierend klangschöne Musik geht, eigentlich bedauerlich ist - ...


    Vielleicht also sollte ich doch noch ein wenig mehr Farbe hier hereinbringen.
    Also denn.


    Schon kurz nach seinem Einzug in das Haus in Perchtoldsdorf klagte Hugo Wolf:
    Was ich hier leide, ist gar nicht zu beschreiben und da gerade jetzt die Sonne lustig ins Zimmer scheint, will ich keine schwarzen Schatten heraufbeschwören, aber mündlich sollen sie von allen Greueln haarklein unterrichtet werden.“

    Am ersten Abend komponierte er zwei Lieder: „Gesellenlied“ (auf einen Text von Reinick) und „Wo wird einst“ (auf ein Gedicht von Heinrich Heine). Zu diesem merkt er an:


    „Mit demselben hat es die merkwürdige Bewandtnis, daß es aus einer Zeit stammt, in der mir nach jahrelangem Irren, Suchen und Verzweifeln zum ersten Mal der Kopf – wie man bei uns zu sagen pflegt – aufging. Es war sozusagen das Vorspiel zu meinen Mörike-Liedern.“


    „Irren, Suchen und Verzweifeln“, - das ist wieder Ausdruck jenes für Wolf so typischen Angewiesen-Sein auf die Inspiration durch den lyrischen Text, die sich, was er oft als qualvoll empfand, nicht einstellen wollte, weil sie nicht gezielt herbeizuführen ist. Dann aber, wenn dies – wie es zum ersten Mal im Falle der Mörike-Lieder geschah – tatsächlich eintraf, war er nicht nur rauschhaft beglückt, sondern zugleich auch erschrocken und beängstigt.


    So etwas ist mir bislang bei noch keinem von all den Liedkomponisten begegnet, mit denen ich mich beschäftigt habe.

  • Lieber verehrter Helmut,


    zehn Jahre vor dem von dir besprochenen Gedicht schrieb Mörike: "In der Frühe" (Es steht in Wolfs Zyklus an zweiter Stelle)


    Kein Schlaf noch kühlt das Auge mir,
    Dort gehet schon der Tag herfür
    An meinem Kammerfenster.
    Es wühlet mein verstörter Sinn
    Noch zwischen Zweifeln her und hin
    Und schaffet Nachtgespenster.
    - Ängste, quäle
    Dich nicht länger, meine Seele!
    Freu dich! schon sind da und dorten
    Morgenglocken wach geworden.



    Die thematische Verwandtschaft zum "Genesenden" ist offenkundig. - Mir scheint ja immer, daß Mörike einen ganz besonderen Ton humorvollen Einverständnisses mit dem Menschlich-Allzumenschlichen trifft, wozu auch eine gewisse ländliche Naivität und eine gewisse Sentimentalität gehören. Im "Genesenden" wäre hier an die abseits stehende, ungewürdigte Verkörperung der Hoffung zu denken, die in ihrer Großmut und Tröstlichkeit als eine Mutter ("Wie in Kind") angesprochen wird, die ohne Anspruch auf Gegenliebe durch eine einzige Geste gleichsam alles wieder gut macht.


    Auch von Goethe gibt es ein der Elpis, der Göttin der Hoffnung gewidmetes Gedicht:


    Doch solcher Grenze, solcher ehrnen Mauer
    Höchst widerwärt'ge Pforte wird entriegelt,
    Sie stehe nur mit alter Felsendauer
    Ein Wesen regt sich leicht und ungezügelt:
    Aus Wolkendecke, Nebel, Regenschauer
    Erhebt sie uns, mit ihr, durch sie beflügelt,
    Ihr kennt sie wohl, sie schwärmt durch alle Zonen;
    Ein Flügelschlag - und hinter uns Äonen!


    Dieser Vergleich macht sehr deutlich, wie viel weiter Mörike in seiner "unpersönlichen Personifikation" der Hoffnung geht, um doch auch etwas wie einen vergeblichen Appell auszudrücken. Die Wirkung der Hoffnung (wie sie ja auch Goethe im Sinne hat) ist so umfassend wie flüchtig oder doch unverfügbar; vor allem aber, wenn ich Mörike recht verstehe, ist sie gekoppelt an das Einengende, Beschränkte der Gegenwart, die sie als bloße visionäre Perspektive überschreitet (ich denke an die berühmte Stelle im Wilhelm Meister, "und auf dem grauen Grunde erschien der herrliche Bogen"). Wie der Regenbogen, als erster Vorbote der Rückkehr des heiteren Sonnenlichts, auf dem düsteren Fond des Wetterhimmels erscheint, so eröffnet die Hoffnung, als aussichtsvolle Dimension des Daseins, ihre stärkste Wirkkraft auf dem Grund der Verzweiflung.


    Natürlich finden wir die Zweiteilung des Gedichts "Der Genesende an die Hoffnung", mit der deutlichen Verinnerlichung des Tons bei der ausgeschmückten Apostrophe der vernachlässigten Göttin und der Abbitte, auch bei Wolf. - Dennoch erscheint mir der Tonfall des Anfangs, die Emphase des Siegs und zumal die Bekräftigung in der Verswiederholung, als eine Aufsprengung des poetischen Stils. Es ist, in ihrer vordergründigen Wörtlichkeit, eine mögliche Sinngebung, die aber an dem spezifischen Mörikeklang vorbeizielt. - Es mag meine persönliche Leart sein - ich denke aber, daß Textsignale wie das "tödlich", der "Sieg" ebenso wie etwa die dargebrachten "Opfer" in einer bestimmten Hinsicht rhetorische Übertreibungen sind, die sich in die Intimität der Gesamtaussage und die leise Farbgebung einer nie ganz ironiefreien Stilistik zurücknehmen.


    Ich kenne allerdings zu wenige Interpretationen des Lieds und mag hier die frühe Leistung von Dietrich Fischer-Dieskaus (WALP 529) zu deutlich im Ohr haben. Die besondere, zwischen den Zeilen zum Leser sprechende Wärme der Mörikegedichte bleibt für mich in Wolfs Vertonungen zumeist auf der Strecke (darin erinnern sie mich an Georges Shakespeare-Übersetzungen).


    :hello:

    Zerging in Dunst das heilge römsche Reich


    - uns bliebe gleich die heilge deutsche Kunst!

  • Zunächst einmal herzlichen Dank, lieber farinelli, für die Gedanken, die Du hier eingebracht hast. Sie sind - wie immer! - sehr erhellend und neue Aspekte und Dimensionen des Gegenstandes erschließend.


    Es gibt tatsächlich eine sowohl situativ als auch lyrisch reflexiv bedingte Verwandtschaft zwischen den beiden Gedichten. Wolf hat sie allerdings nicht hinteinander gereiht, sondern "In der Frühe" erst an die vierundzwanzigste Stelle seines Mörike-Opus gesetzt. Da ich mir vorgenommen habe, schön der Reihe nach vorzugehen (verrückt! Ich weiß!), wird es noch ein wenig dauern, bis ich mich selbst auf dieses Gedicht und seine Vertonung einlassen kann. (Ich darf gar nicht vorausblicken, denn dann wäre ich noch nicht mal in der Hälfte dessen, was mir noch bevorsteht).


    Hilf- und aufschlussreich finde ich Deine Formulierung "unpersönliche Personifikation". Sie erfasst genau das Wesen der "Hoffnung", wie sie hier bei Mörike erscheint. Da ist einerseits die gleichsam kindhafte, den Schutz der Mutter suchende Perspektive der Begegnung mit ihr: Das "Haupt" liegt "wie süß"(!) in ihrem "Schoß verborgen". Aber andererseits hält sich dieses personalisierte Wesen in einem "Dämmerlicht" auf. Es ist letztlich unfassbar, und der Wunsch des lyrischen Ichs richtet sich auf eine von Herzlichkeit und inniger Bindung getragene Begegnung mit ihm. Das bleibt aber eine Bitte: Die Hoffung möge doch bitte aus ihrem Dämmerlicht treten, um ihr mondenhelles Angesicht wirklich zu zeigen.


    Du hörst und interpretierst die Vertonung der ersten vier Verse - und insbesondere die Emphase, die auf dem vierten Vers und seiner Wiederholung liegt - als eine "Aufsprengung des poetischen Stils". Diesbezüglich bist Du nicht der einzige,. Fischer-Dieskau meint, Wolf vermeide in desem Lied "klüglich" die "wuchtig ausgelegte Deklamation", und fährt dann fort:


    "... bis auf eine bedauerliche Ausnahme: Jene Steigerung durch gleichsam triumphierende Fanfaren in der Begleitung, die den Sieg über die Krankheit signalisieren, zerstört die im Gedicht vorherrschende Atmosphäre verhaltener Zuversicht."


    Ich hatte in meiner Besprechung des Liedes eine andere Auffassung vetreten und versucht, sie mit Hinweis auf die spezifische Struktur der melodischen Linie der Singstimme am Ende der Melodiezeile zu begründen. Freilich bleiben da noch die beiden Sforzato-Akkorde bei dem Wortteil "-wonnen" und und die nach dem Ende der Vokallinie rhythmisiert und fortissimo nach oben stürmenden Akkorde im Diskant. Da ist in der Tat ein übertrieben aufbrausender Ton im Lied, der zur Intimität des lyrischen Worts nicht so recht passen mag. Aber mitreißend ist das schon!


    Ich sagte ja, dass Wolf von seinem Grundverständnis der Aufgabe und der Funktion von Musik her dazu neigt, sie in ihrem affektiven Potential dort kompositorisch voll auszureizen, wo der Text - so, wie er ihn gelesen hat - den Anreiz dazu liefert. So arbeitet er ohne jegliche Hemmung in manchmal exzessiver Form mit dem Triller oder dem Tremolo. Ich werde bei den entsprechenden Liedern darauf hinweisen. Schon beim nächsten - "Der Knabe und das Immlein" - wird das der Fall sein.


    Nicht ganz folgen kann ich Dir in Deiner Feststellung: "Die besondere, zwischen den Zeilen zum Leser sprechende Wärme der Mörikegedichte bleibt für mich in Wolfs Vertonungen zumeist auf der Strecke." Ich kann es nicht in dieser generalisierten Form. Bei einzelnen Liedern mag das zutreffen, generell aber würde ich dieses liedkompositorische Defizit nicht in dieser Form verallgemeinern wollen. Aber ich werde diesen Aspekt bei meinen folgenden Liedbesprechungen im Auge behalten und, falls ich auf einen konkreten Fall stoße, dazu Stellung nehmen.

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  • Im Weinberg auf der Höhe
    Ein Häuslein steht so windebang;
    Hat weder Tür noch Fenster,
    Die Weile wird ihm lang.


    Und ist der Tag so schwüle,
    Sind all verstummt die Vögelein,
    Summt an der Sonnenblume
    Ein Immlein ganz allein.


    Mein Lieb hat einen Garten,
    Da steht ein hübsches Immenhaus:
    Kommst du daher geflogen?
    Schickt sie dich nach mir aus?


    "O nein, du feiner Knabe,
    Es hieß mich niemand Boten gehn;
    Dies Kind weiß nichts von Lieben,
    Hat dich noch kaum gesehn.


    Was wüßten auch die Mädchen,
    Wenn sie kaum aus der Schule sind!
    Dein herzallerliebstes Schätzchen
    Ist noch ein Mutterkind.


    Ich bring ihm Wachs und Honig;
    Ade! - ich hab ein ganzes Pfund;
    Wie wird das Schätzchen lachen,
    Ihm wässert schon der Mund."


    Ach, wolltest du ihr sagen,
    Ich wüßte, was viel süßer ist:
    Nichts Lieblichers auf Erden
    Als wenn man herzt und küßt!


    In durchgängig regelmäßig jambischem Versfluss lässt Mörike volksliedhafte lyrische Bilder vorbeiziehen, die um das klassische Thema der unerfüllten Liebe und der Sehnsucht nach Liebeserfüllung kreisen. Volkstümlich deshalb, weil die Szenerie mit den Elementen Garten, Bienenhaus, „ Immlein“ und Honig lyrisch skizziert wird.


    Das geschieht aber auf eine höchst reizvolle Art, weil die naturbezogenen Diminutiva dezent und wie fließend auf die begehrte Geliebte übergehen, die auf diese Weise ganz und gar selbstverständlich und in gar keiner Weise sprachlich gekünstelt als „herzallerliebstes Schätzchen“ gleichsam lyrisch mitspielt. Die „Moral“, die die letzte Strophe artikuliert, wirkt wie gleichsam aus der inneren Logik der lyrischen Bilder hervorgehend und in gar keiner Weise aufgesetzt. Auch das ein Element großer lyrischer Kunst.


    In seinem Perchtoldsdorfer Idyll, dem Ort der Entstehung dieser Lieder, dürfte sich Wolf von dieser lyrischen Idylle ganz unmittelbar angesprochen gefühlt haben. Das Gartenhaus der Familie Werner nannte er sein „Häuslein windebang“.

  • Ohne Vorspiel setzt das Lied ein. Und doch gelingt es Wolf, wie mit einem kompositorischen Federstrich Sommeratmosphäre zu erzeugen: Die melodische Linie der Singstimme bewegt sich ruhig in hoher Lage im tonalen Raum einer Quarte, und das Klavier folgt ihm mit Terzen im Diskant. Wunderbar ist dabei das lyrisch bestechende Wort „windebang“ im Musik gesetzt. Die melodische Linie macht bei den ersten beiden Silben einen mit einer harmonischen Rückung begleiteten verminderten Quartsprung. Der Wortteil „bang“ beginnt danach wie zaghaft klanglich zu leuchten.


    Die Struktur der melodischen Linie ist bei den beiden ersten Strophen ähnlich, nicht identisch. Das ist sie nur in der jeweils ersten Melodiezeile. Was die Vokallinie in den beiden ersten Strophen aber durchgehend auszeichnet, das ist die Zaghaftigkeit der melodischen Bewegung. Sie verbleibt gerne auf einer Tonebene und macht dort immer wieder Schritte in Form einer aufwärts oder abwärts gerichteten Sekunde, die ihr einen Ton von Kläglichkeit verleihen, zumal durchgehend eine Moll-Harmonisierung vorliegt. Aber dann gibt es da auch noch die – durch den lyrischen Text bedingten – melodischen Sprünge bei „windebang, „Weile“ und „Vögelein“, die den lyrischen Bildern musikalisches Gewicht verleihen.


    Klangzauber entfaltet Wolf in diesem Lied. Allerdings ist es einer, der sich im Klaviersatz nicht verselbständigt, sondern ganz im Dienst der melodischen Linie der Singstimme steht, - ein Wesensmerkmal von Wolfs liedkompositorischem Konzept. Kaum ist das Wort „Immlein“ gefallen – im letzten Vers der zweiten Strophe – , erklingen Triller im Klavierdiskant. Man meint es summen zu hören, bevor der Knabe es in der dritten Strophe anzusprechen beginnt. Damit kommt ein neuer Ton in das Lied. Das Tongeschlecht wandelt sich zu Dur hin, und die Vokallinie bewegt sich lebhafter, in größeren Intervallen und nicht mehr auf eine tonale Ebene fixiert. Die Fragen, die an das Immlein gerichtet werden, enden auf einem lange gehaltenen hohen „fis“, und danach folgt eine kurze Pause, die Erwartungen weckt.


    „Etwas bewegter“ lautet die Vortragsanweisung für die vierte Strophe, - die Antwort des Immleins. Von perlenden Trillern im Klavier umspielt, erklingt eine lebhafte, aus hoher Lage in Achteln herabsteigende Vokallinie, mit der der Knabe angesprochen wird, Schlicht, „einfach“ (Anweisung) ist ihre Bewegung bei den Worten „Es hieß mich niemand Boten gehen“. Es ist eine Biene, die da spricht.


    So geht das weiter in den beiden nächsten Strophen, wobei sich ein liebevoller Ton in die melodische Linie einschleicht. Das Bild vom „herzallerliebsten Schätzchen“ will ihn haben. Und „munter“ wird der Ton, wenn verkündet wird: „Ich bring ihm Wachs und Honig“. Die melodische Linie purzelt dabei aus hoher Lage herab und macht danach bei dem Wort „Honig“ einen veritablen Oktavsprung, - immer weiter von lebhaft perlenden Trillern begleitet. Und bei „Ihm wässert schon der Mund“ kommt hohe Expressivität in die Vokallinie: Von einem lange gehaltenen hohen „fis“ macht sie einen verminderten Septfall und steigt anschließend in raschen Schritten wieder zu diesem „fis“ empor.


    „Innig“ klingt die melodische Linie, mit der der Knabe in der letzten Strophe dem kleinen Immlein seine Botschaft mitgibt. Sie bewegt sich ruhig, bleibt zunächst auf einer Tonebene und schwingt sich erst bei dem Wort „süßer“ in hohe Lage auf. Bei dem Wort „Lieblichers“ beschreibt sie einen eindrucksvollen, lebhaft wieder nach unten abfallenden melodischen Bogen. Und bei dem Wort „küßt“ steigert sich diese melodische Expressivität sogar noch: In Form eines verminderten Sextsprungs, der wieder mit einer harmonischen Rückung versehen ist, die das Wort „küßt“ musikalisch exponiert.


    Die Wiederholung der beiden letzten Verse erfolgt mit einer weiteren Steigerung der Expressivität der Vokallinie. „Hingebend“ steigt sie bei dem Wort „Lieblichers“ bis zu einem hohen „c“ hinauf und bewegt sich von dort in kleinen Schritten, in die sogar eine Triole eingefügt ist, wie spielerisch herab zum Grundton. „Leidenschaftlich“ lautet die Anweisung für die lebhaften akkordischen Bewegungen des Nachspiels.

  • Faszinierend an diesem Lied ist das musikalische Einfangen der lyrischen Szenerie, die Mörike mit den beiden ersten Strophen entwirft: Das „Häuslein windebang“ auf der Höhe und der schwüle Tag, an dem alle Vögelein verstummt sind. Wolf macht dies mit musikalischen Mitteln, die ihn als Vorläufer des Impressionismus ausweisen und seine kompositorische Innovationsfreude erkennen lassen.


    Das entscheidende kompositorische Mittel ist das Chroma, das sich im Klaviersatz entfaltet und die Singstimme trägt. Diese hat dabei sehr wohl auch selbst etwas zu sagen, - vor allem durch den schwebenden Charakter, den sie in den beiden ersten Strophen annimmt. Der Eindruck des Schwebens kommt dadurch zustande, dass sie bei den jeweils ersten drei Versen der beiden Strophen eine in ihrer Grundstruktur immer gleiche Bewegung vollzieht: Es ist ein in langsamen Schritten (Viertelnoten) und mit kleinen Intervallen vollzogenes Auf und Ab.


    Damit ist die Atmosphäre des lyrischen Bildes wunderbar eingefangen, vor allem weil der Klaviersatz schwere Akkorde meidet und der Singstimme in ihren schwebenden Bewegungen mit chromatisch sich entfaltenden Intervallen folgt und ihr damit eine Klangfarbe verleiht, die wie hingetupft wirkt.


    Besonders beeindruckend ist das bei der zweiten Strophe. Hier entwickelt das Klavier nämlich größere Eigenständigkeit. Es folgt nicht mehr nur den Schritten der melodischen Linie, sondern umspielt sie – wiederum chromatisch - , um die Schwüle des Tages musikalisch einzufangen.


    Wie großartig Wolf dies gelingt, vermag man besonders im Falle der harmonischen Rückungen bei dem Wort „Vögelein“ zu vernehmen. Die Singstimme wird hier durch Punktierung rhythmisch leicht verzögert, und das Klavier setzt in diesen winzigen Augenblick der melodischen Stille eine chromatisch fallende Klangfigur. Das Verstummen der Vögelein ist zu vernehmen.

  • ...das Lied „Der Knabe und das Immlein“ betreffend:


    Am 22. Februar 1888 schreibt Wolf an Edmund Lang:
    „Soeben habe ich ein neues Lied aufgeschrieben. Ein Götterlied sag ich Ihnen. Ganz göttlich wunderbar! Bei Gott! mit mir wird es bald zu Ende gehen, da meine Gescheitheit von Tag zu Tag zunimmt. Wie weit soll ich´s noch bringen? Mir graut´s daran zu denken. Ich habe nicht den Mut eine Oper zu schreiben, weil ich mich vor den vielen notwendigen Einfällen fürchte. Einfälle, lieber Freund, sind schrecklich. Ich fühl´s. Meine Wangen glühen vor Aufregung wie geschmolzenes Eisen und dieser Zustand der Inspiration ist mir eine entzückende Marter, kein reines Glück.“

    Diese Sätze verraten viel über den Liedkomponisten Hugo Wolf. Seine Kompositionen entspringen dem Augenblick der Inspiration. Sie kommt, ausgelöst durch die Begegnung mit einem lyrischen Text, über ihn wie ein gleichsam naturhaftes Ereignis, das von außen über den Menschen hereinbricht. Aus diesem Grund empfindet er sie nicht nur als glückhaftes Geschenk, sondern zugleich als Bedrohung, ja als „Marter“. Marter deshalb, weil sie ihn zwingt, sie zu verarbeiten, sie in Noten umzusetzen und ihr damit fassbare Gestalt zu verleihen.


    Man darf aus solchen Äußerungen nicht schließen, dass das, was man in den Noten liest und als Lied hört, tatsächlich in seiner Gänze naturhaft eingegeben ist. Das wäre ein grobes Fehlurteil. Wolf gefällt sich bei solchen brieflichen Äußerungen im Habitus des inspirierten Genies. Die Noten verraten, dass sehr viel handwerkliche Arbeit in ihnen steckt. Dennoch sind diese Äußerungen aufrichtig und ehrlich. Musikalische Inspiration ist gottgegeben. Das ganz und gar Wolf-Spezifische ist freilich, dass man sie als Glück und Marter zugleich empfindet.

  • „Der Knabe und das Immlein“.
    Wenn man diese Worte als Titel für ein Gedicht liest, erwartet man eigentlich nichts Gutes, lyrischen Kitsch möglicherweise. Das, was da jetzt kommt, kann doch eigentlich nichts werden, denkt man, bei einem derartigen sprachlichen Ausgangspunkt.


    Da fällt mir Heinrich Heine ein. In seinem „Schwabenspiegel“ von 1838 meint er zu Eduard Mörike:
    „Man sagt mir, er besinge nicht bloß Maykäfer, sondern sogar Lerchen und Wachteln, was gewiß sehr löblich ist.“
    Er hielt es übrigens für gänzlich unangebracht, Mörikes Gedichte zu lesen.


    Wie sich ein selbst so großer Lyriker doch irren kann. In diesem Gedicht ereignet sich – völlig unbeschadet seines Titels – gerade alles andere als lyrischer Kitsch. Ganz im Gegenteil. Die lyrische Sprache ist volksliedhaft schlicht, direkt und geradlinig. Im Grunde sind die deskriptiven Teile des Gedichts im Gestus konstatierender Syntax angelegt: Nach dem Modell „Da steht“, „da ist“, „da summt“. Und der dialogische Teil bedient sich der Sprache des Menschen aus dem Weinberg.


    Vielleicht hätte Heinrich Heine seinen Lyriker-Kollegen doch aufmerksam lesen sollen, statt sich auf das Hörensagen über ihn zu verlassen. Da wäre ihm aufgefallen, dass dieser Kollege über einen lyrischen Ton verfügt, der weitaus originärer ist als der seine.
    (Obwohl mich seiner auch zuweilen bezirzt!)


    Hugo Wolf hat diesen Ton, der im Grunde ja einer der Sprachmelodie ist, sehr wohl erfasst und in seinem Lied musikalisch umgesetzt. Was dabei herausgekommen ist, wirkt künstlerisch eigentlich komplexer als das Mörike-Gedicht. Dies deshalb, weil Wolf für die drei lyrischen Ebenen des Gedichts – die Situationsschilderung, den Knaben und das Immlein im Dialog miteinander – eine jeweils eigene musikalische Sprache einsetzt. Wenn der Knabe spricht, nimmt die melodische Linie einen ernsten, am Ende sogar gewichtigen Ton an. Er setzt sich deutlich von der impressionistischen Situationsschilderung der ersten beiden Strophen ab. Und die Musiksprache des Immleins ist ganz unüberhörbar von Heiterkeit geprägt, - nicht zuletzt auch wegen der sie begleitenden Triller im Klavier.


    Und am Ende, bei der Wiederholung der beiden letzten Verse und dem von leidenschaftlich sich bewegenden Terzen geprägten Nachspiel, meint man Wolf selbst zu vernehmen.

  • Derweil ich schlafend lag,
    Ein Stündlein wohl vor Tag,
    Sang vor dem Fenster auf dem Baum
    Ein Schwälblein mir, ich hört es kaum,
    Ein Stündlein wohl vor Tag:


    "Hör an, was ich dir sag!
    Dein Schätzlein ich verklag:
    Derweil ich dieses singen tu,
    Herzt er ein Lieb in guter Ruh,
    Ein Stündlein wohl vor Tag."


    O weh, nicht weiter sag!
    O still, nichts hören mag!
    Flieg ab, flieg ab von meinem Baum!
    - Ach, Lieb und Treu ist wie ein Traum
    Ein Stündlein wohl vor Tag.


    Liebe ist für Mörike ein zentrales Thema seines lyrischen Schaffens. Es wird von ihm in allen seinen Dimensionen ausgelotet, - den sinnlichen wie den seelischen, den beglückenden wie den schmerzlichen. Und dies geschieht zuweilen in lyrisch sprachlich und metaphorisch sehr direkter, aber dann auch in überaus zarter und dezenter, weil im schlichten Volksliedton gehaltener Weise. So hier in diesem Gedicht.


    Es ist wieder die für Mörike so typische Situation des frühen Morgens, die im Zentrum des Gedichts steht. Morgen als die Erfahrung von potentieller Offenheit des menschlichen Lebens in all seinem Reichtum. Und es ist die volksliedhafte Anmutung der Begegnung von Mensch und Natur, hier in Form eines „Schwälbleins“, die als poetische Brücke für die lyrische Artikulation einer menschlichen Urerfahrung benutzt wird: Der betrogenen Liebe.


    Dieses Gedicht ist blanke lyrische Musik. Vor allem in der Schlichtheit seines volksliedhaften Tones und der Fülle der Assonanzen, die es prägen. Rhythmisch gleichmäßig bewegt sich der Jambus des Versmaßes dahin, Paarreim hält die Verse eng zusammen, und die bewusst reduzierte Syntax ( („singen tu“, „weiter sag“, „hören mag“) verstärkt nicht zuletzt, zusammen mit dem refrainartig wiederholten ersten Vers, den Eindruck von elementar volksliedhafter Schlichtheit, den dieses Gedicht macht.


    Der diese Schlichtheit in seiner philosophischen Dimension gleichsam rabiat transzendierende Vers „Ach, Lieb und Treu ist wie ein Traum“ wirkt auf diesem lyrisch sprachlichen Hintergrund um so schmerzender.

  • Im lyrischen Zentrum des Gedichts steht das „O weh“, mit dem die vierte Strophe einsetzt. Und man meint, dass Wolf sein Lied ganz und gar von diesem lyrischen Zentrum her komponiert hat. Es ist die kleine Sekunde, die die melodische Linie der Singstimme wie ein klanglicher roter Faden durchzieht, was diesen Eindruck hervorruft.


    Auffällig ist, dass das fünftaktige Klaviervorspiel die klangliche Schmerzlichkeit dieser kleinen Sekunde noch nicht voll zum Ausdruck bringt. Es nimmt die Bewegung der melodischen Linie vorweg, spielt aber im letzten Schritt über diese kleine Sekunde hinweg, als wolle es den Ausdruck des Schmerzes ganz der Singstimme überlassen, auf dass er um so eindringlicher werde.


    Auffällig ist auch die Ähnlichkeit des zentralen melodischen Motivs mit dem des vorangegangenen Liedes „Der Knabe und das Immlein“. Fast möchte man hier von musikalischer Identität sprechen, wäre da nicht dieser Halbtonschritt, von dem man, wenn man hörend die Bewegung der melodischen Linie nachvollzieht, immer wieder meint, es müsse ihm noch einer folgen. Wolf hat hier auf eine überaus eindringliche Weise Schmerz und Klage musikalisch zum Ausdruck gebracht, zumal die tragende und begleitende Harmonik des Klaviersatzes ganz und gar von einem chromatisch durchsetzten g-Moll beherrscht ist.


    Ein wenig Lieblichkeit kommt in die melodische Linie und in die Klanglichkeit des Klaviersatzes beim Bild von dem singenden „Schwälblein“ vor dem Fenster. Hier tritt ein stärkerer Fluss in die bislang doch eher stockende Vokallinie. Sie bewegt sich lebhafter, in allen Schritten von Einzeltönen und Akkorden im Klavierdiskant getragen. Freilich mündet diese Bewegung dann auch wieder in den Halbtonschritt bei dem Wort „Tag“.


    Warum aber lässt Wolf das „Schwälblein“ auf der gleichen melodischen Linie singen, - nur eine Terz höher? Soll das Nähe suggerieren? Einfühlung in die schmerzliche Begebenheit, von der berichtet wird? Der Gedanke ist naheliegend. Im Pianissimo und in nur drei Versen, auf denen eine fast volksliedhafte, sich in hoher Lage rasch bewegende melodische Linie liegt, wird das so schreckliche Ereignis berichtet. Und auch dieser „Bericht“ mündet in den Halbtonschritt auf dem Wort „Tag“.


    „Schmerzlich“ lautet die Vortragsanweisung für die letzte Strophe. Wieder setzt die Vokallinie mit dem zentralen melodischen Motiv ein. Und immer sind es a-Laute, in die es mit seiner kleinen Sekunde mündet. Ins Forte steigert sich die Vokallinie bei dem „Flieg ab, flieg ab“. Sie steigt dabei in hohe Lage auf und verharrt dort einen ganzen Takt lang, was die Expressivität dieser Abwehrgeste im lyrischen Text musikalisch noch steigert.


    Bei den Worten „Ach, Lieb“ beschreibt die melodische Linie einen schmerzlichen Sekundfall und bewegt sich danach in hoher Lage weiter auf einer Tonebene. Und am Ende steht wieder dieses mit einem Halbtonschritt erreichte „cis“, das wie ein offener Liedschluss wirkt. Als solle man der Klage weiter nachsinnen, indem man den sie tragenden Ton in sich fortklingen lässt.

  • Kaum hatte Wolf am 22. Februar 1888 die oben zitierte Nachricht von der Komposition des Liedes „Der Knabe und das Immlein“ an Edmund Lang geschickt, ließ er eine zweite Nachricht hinterdrein folgen:


    Nun reißen Sie Ihre Nasenflügel auf. Kaum daß mein Brief expediert wurde, schrieb ich auch schon, den Mörike zur Hand nehmend, ein zweites Lied. Nun beglückwünschen oder verwünschen Sie mich, ganz nach Belieben. Sollte mir Polyhymnia aufsässig genug sein, mit einem dritten Liede zu drohen, werde ich diese Schreckensnachricht persönlich morgen in aller Frühe überbringen. Augenblicklich ereignet sich nichts Musikalisches um mich ...“ Verachten Sie mich. Das Bubenstück ist vollbracht. Auch das dritte Lied >Ein Stündlein wohl vor Tag< ist mir gelungen und wie! Das ist ein ereignisvoller Tag.“


    Man ist versucht, die Tatsache, dass in beiden Liedern das gleiche melodische Motiv aufklingt, auf die Tatsache zurückzuführen, dass sie unmittelbar hintereinander entstanden sind. Da kennte man den Liedkomponisten Hugo Wolf aber schlecht. Nicht nur, dass er sich in dieser Zeit der kompositorischen Auseinandersetzung mit Mörike vor musikalischen Einfällen kaum retten konnte – wie er selbst ja bekennt- , er hätte hierbei auch gegen sein liedkompositorisches Prinzip verstoßen, das melodische Motiv aus der poetischen Tiefenschicht des jeweiligen lyrischen Textes herzuleiten, - im Sinne einer musikalischen Ausdeutung desselben.


    Es muss also einen kompositorisch-konzeptionellen Grund für diese melodische Identität geben, und er muss in der Rezeption des Mörike-Gedichts durch Hugo Wolf zu finden sein. So ist dann diese Deutung naheliegend:
    Im ersten Lied bekundet der Knabe dem „Immlein“ gegenüber seine Liebe und Zuneigung zu jenem „Schätzchen“ und benutzt die Biene als Boten. Das Chroma des melodischen Motivs wird hier eingesetzt, um die sommerlich-idyllische Szene im Weinberg musikalisch zu evozieren.


    Hier nun, im zweiten Lied, wird das gleiche Motiv mit seinem Chroma benutzt, um die andere Seite jener Liebe, von der im ersten die Rede ist, musikalisch aufklingen zu lassen: Die Untreue nämlich. Das Mädchen bekommt eine Botschaft, aber es ist eine andere als die des „Immleins“. Eine Schwalbe bringt die Nachricht von der Untreue des Geliebten. Das muss gar nicht jener Knabe aus dem vorangehenden Lied sein. Liebe und Untreue sind hier gleichsam lyrisch-musikalisches Generalthema.

  • Dieses Lied ist – im Unterschied zu „Der Knabe und das Immlein“ – ganz und gar aus einem melodischen Motiv gestaltet. Fast macht es deshalb den Eindruck eines Strophenliedes, was natürlich nicht zutrifft. Zum einen nutzt Wolf die Möglichkeit der Steigerung der Expressivität des chromatisch geprägten Klagetons durch eine zweimalige Verschiebung der tonalen Ebene nach oben. Die Singstimme setzt jedesmal einen halben Ton höher ein. Zum andern kommt durch das Ausgreifen der melodischen Linie in hohe Lage bei „Flieg ab, flieg ab von meinem Baum“ eine neue melodische Figur in die Vokallinie, die musikalischer Ausdruck der inneren Qual des lyrischen Ichs ist.


    Klanglich besonders beeindruckend ist dabei ihr Schluss: Dieser klanglich äußerst herbe Halbtonschritt von „c“ nach „cis“ und dem langen Verharren dort. Das ist alles andere als ein Liedschluss im Sinne einer kadenzierten Abrundung der melodisch-harmonischen Geschehens. Dieses Lied endet offen mit einer klanglich ins Leere mündenden Wehklage. Ein Weh das so rief geht, dass es nicht enden will.

  • Zierlich ist des Vogels Tritt im Schnee,
    Wenn er wandelt auf des Berges Höh:
    Zierlicher schreibt Liebchens liebe Hand,
    Schreibt ein Brieflein mir in ferne Land´.


    In die Lüfte hoch ein Reiher steigt,
    Dahin weder Pfeil noch Kugel, fleugt:
    Tausendmal so hoch und so geschwind
    Die Gedanken treuer Liebe sind.


    Ein Literaturkritiker meinte zu diesem Gedicht, dass er für ein „herrliches Gebilde“ halte, - worin man ihm nur zustimmen kann:
    „Es geschieht gar nichts, und dennoch ist mir der ganze Winter vor dem Auge, ein schwäbischer Winter auf der Alb, mit hohem, klarem Himmel, etwas rauchig. Und dann plötzlich mit ebenso problemlosen Worten bewegt sich die Szenerie: >Wenn er wandelt auf des Berges Höh<. Noch eben schien der Vogel wie gemalt, nun rührt er sich, spaziert davon, hüpfend, in dem tiefen Schnee.“


    Man könnte es damit gut sein lassen. Aber ein Lyrik-Liebhaber möchte sich mit dieser Beschreibung eines Lese-Eindrucks nicht zufrieden geben. Es ist ja auch seiner. Aber woher kommt er nun wirklich? Was hat ihn ausgelöst, zustandegebracht?


    Es ist das imaginativ in Bann schlagende In-Beziehung-Setzen von evokativ starken lyrischen Naturbildern mit dem Wesen der Liebe. Hier wird ja nicht in simpler Manier metaphorisch Verwandtes nebeneinander gesetzt. Nein, es sind inhaltlich völlig divergente Bilder: Der Vogel, der Reiher dort, - und hier Liebchens Hand und die Gedanken treuer Liebe. Naturhaft höchst Konkretes hier und emotional im Grunde Unbegreifbares dort in unmittelbarem Nebeneinander. Und man meint als Leser dieser Verse, dass beides tiefinnerlich verwandt ist.


    Warum?
    Vogel und Schnee. Das will nicht zusammenpassen. Dieser Vogel aber „tritt“ in den Schnee, und er hinterlässt dabei zierliche Spuren. Das lebensfeindlich kalte Weiß gibt Zeichen des Lebens von sich, winzige Spuren von Leben, das sich in und über ihm ereignet hat. Das ist wie beim eigentlich doch toten Weiß des Papiers, auf dem Liebchens Hand Spuren ihres warmen Lebens und ihrer Liebe zum anderen hinterlassen hat.


    Kann man lyrisch feiner und zarter ausdrücken, wie ein Mensch Zeichen der Liebe zu empfinden vermag?

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  • „Ziemlich lebhaft“ lautet bei diesem Lied die Vortragsanweisung. Es weist einen ungewöhnlichen Takt auf: Fünf Viertel. Geschuldet ist das dem trochäischen Versfuß des Gedichts. Man empfindet jedenfalls die rhythmische Gestalt der Musik in vollkommenem Einklang mit der Rhythmik der Sprachmelodie. Wolf meinte hierzu: „Kaum, daß mein Brief expediert wurde, schrieb ich schon, den Mörike zur Hand nehmend, ein zweites Lied u. z. im 5/4 Takt, und ich darf wohl sagen, daß selten ein 5/4 Takt so richtig am Platz war, als in dieser Composition.“


    Mit einem tatsächlich lebhaften Klaviervorspiel setzt das Lied ein: Tänzerisch hüpfende Achtel-Akkorde, die am Taktende in einen Pralltriller münden. Hier, im Zwischen- und im Nachspiel entfaltet das Klavier seinen eigentlichen musikalischen Beitrag zu diesem Lied. Ansonsten beschränkt es sich auf eine der melodischen Linie genau folgende akkordische Begleitung.


    Die melodische Linie der Singstimme ist es, die das Lied klanglich prägt und seine musikalische Aussage konstituiert. Auf eine überaus beeindruckende Weise skizziert sie wie mit einem feinen klanglichen Stift die lyrischen Bilder und verleiht ihnen auf diese Weise ihre musikalische Expressivität. Ihr ganz spezifischer Reiz besteht in der Form, wie sie der lyrischen Sprache eine eigene, eben musikalische Struktur verleiht und damit expressive Akzente setzt.


    Eigentlich schließt ja der zweite Vers der ersten Strophe syntaktisch lückenlos an den ersten an, denn er ist mit einem als Konjunktion fungierenden „wenn“ eingeleitet. Wolf setzt sich aber darüber hinweg und ordnet beiden Versen eine je eigene Melodiezeile zu, durch eine Pause voneinander getrennt. Es ist keine wirkliche, in der Faktur notierte Pause, sondern eine klanglich rhythmische: Sie kommt dadurch zustande, dass auf dem Wort „Schnee“ eine Note im Wert eines Viertels liegt. Die Singstimme hält also einen Augenblick inne, bevor sie mit dem „Wenn“ der nächsten Melodiezeile einsetzt. Ein echter melodischer Neuanfang entsteht dabei auch dadurch, dass eine Sexte weiter unten angesetzt wird.


    Bei den Versen drei und vier der ersten Strophe geht Wolf hingegen genau andersherum vor. Hier liegt keine durch eine durch eine Konjunktion geschaffene syntaktische Bindung vor. Dennoch geht die melodische Linie lückenlos in den nächsten Vers über. Auf dem Wort „Hand“ liegt ein kleiner fallender Bogen, der in einem Sekundschritt unmittelbar in das „gis“ mündet, mit dem – auf dem Wort „schreibt“ – der nächste Vers einsetzt.


    Hier ist wunderschön zu erkennen, wie Wolf kompositorisch verfährt, um die Aussage der lyrischen Bilder in musikalische Expressivität umzuwandeln und ihnen damit eine zusätzliche Dimension zu verleihen. Das erste Bild, das vom „Tritt“ des Vogels im Schnee, darf sich eigenständig entfalten. Das geschieht mit gleichsam klanglich zierlichen Schritten, die in ihrer Bewegung wieder auf den Ausgangspunkt zurückkehren.


    Das zweite Bild entwickelt nun, vom ersten leicht abgesetzt, eine ganz eigene musikalische Aussagekraft. Die melodische Linie bewegt sich in raschen Schritten um eine ganze Oktave nach oben, - dem Bild von „des Berges Höh“ auf diese Weise musikalisch gerecht werdend. Bei dem Bild vom „Brieflein“ handelt es sich hingegen um eines, das sich über zwei Verse erstreckt. Also wird es in eine Melodiezeile gefasst.


    Auch in der zweiten Strophe vernimmt man in der Bewegung der melodischen Linie die Aussagen des lyrischen Bildes. In Form von Achteln und Sechzehnteln steigt sie rasch „wie ein Reiher“ hoch zu einem „dis“, macht erst einen verminderten Quintfall und setzt dann die hurtige Bewegung weiter fort. Aber der lyrische Text sagt ja, dass die „Gedanken treuer Liebe“ noch höher zu steigen vermögen. Also lässt Wolf die melodische Linie ihnen folgen, und das mit einem Quartsprung hin zu einem hohen „cis“, wovon sie nach kurzem Verweilen daselbst in ganz kleinen Schritten, verminderten Sekunden nämlich, wieder herabsteigt, als wolle sie sich von dieser gedanklich beglückenden Höhe nicht mehr lösen.


    „Langsamer“ lautet die Anweisung für den letzten Vers. Er bringt die lyrischen Bilder gleichsam auf ihren gedanklich-philosophischen Kern und erfordert deshalb eine sich bedächtig bewegende und um ein tonales Zentrum kreisende melodische Linie, die sogar noch eine Art Ruhepunkt aufweist: In Form eine Fermate auf dem Wort „Liebe“.

  • Mörikes Gedicht ist eine zauberhafte lyrische Miniatur, mit einem feinen sprachlichen Stift entworfen. Ihm selbst musste das Gedicht wohl zunächst etwas zu miniaturhaft erschienen sein, denn er kam auf die Idee, noch eine Strophe hinzuzufügen. Dann aber, bei der redaktionellen Arbeit an der Publikation seiner Gedichte, verwarf er sie wieder. Eine weise Entscheidung.


    Keck, herunter aus der Felsenkluft
    Springst du, Gießbach, durch die schwarze Schluft:
    Kecker nicht, als wie im Liebesmut
    Springt ein selig Jägerblut.


    Hugo Wolf hat sich hörbar von dem stillen Jubel, der in den Versen der endgültigen Fassung des Gedichts liegt und seine Quelle in den beiden letzten Versen, insbesondere dem Wort „tausendmal“, hat, inspirieren lassen. Im Grunde gibt ja das Klavier, das sich ansonsten darauf beschränkt, mit syllabisch getreu gesetzten Akkorden der Deklamation der Singstimme zu folgen, im Vorspiel den klanglichen Charakter dieses Liedes vor, das Ausdruck dieses innerlichen lyrischen Jubels ist. Es ist eine tänzerisch-rhythmisierte Aufwärtsbewegung, die da erklingt. Im Zwischenspiel meldet sich das Klavier damit wieder, und im Nachspiel treibt es diese Auswärtsbewegung sogar noch zu deutlich größerer Höhe empor.


    Auch die melodische Linie der Singstimme ist von dieser rhythmisierten Aufwärtsbewegung geprägt, die das Lied so klanglich reizvoll macht. In der ersten Strophe erfolgt diese Bewegung in noch gleichsam melodisch verhaltener Form. Vor allem das Bild von „Liebchens lieber Hand“ bewegte Wolf, die Vokallinie mittels einer harmonischen Rückung und einem – nach einem verminderten Quintfall erfolgenden - längeren Verharren auf einer tonalen Ebene in ihrer Bewegung gleichsam etwas zu dämpfen. Dafür darf sie sich dann aber bei der zweiten Strophe – dem lyrischen Text folgend – im Fortissimo zu großer Höhe aufschwingen.


    Dennoch, und das schlägt einen ja bei diesem Lied so in Bann, wirkt es in gar keiner Weise musikalisch laut. Der lyrische Miniatur-Charakter bleibt durchgängig erhalten. Die vor allem deshalb, weil die Vokallinie so eng und innig mit der Sprachmelodie, ihrer Skandierung und Rhythmik, verschmolzen ist, dass man meint, dass beide zusammen in diese Welt gekommen sind.

  • Wenn meine Mutter hexen könnt,
    Dann müßt sie mit dem Regiment,
    Nach Frankreich, überall mit hin,
    Und wär die Marketenderin.
    Im Lager, wohl um Mitternacht,
    Wenn niemand auf ist als die Wacht,
    Und alles scharchet, Roß und Mann,
    Vor meiner Trommel säß ich dann:
    Die Trommel müßt eine Schüssel sein,
    Ein warmes Sauerkraut darein,
    Die Schlegel Messer und Gabel,
    Eine lange Wurst mein Sabel,
    Mein Tschako wär ein Humpen gut,
    Den füll ich mich Burgunderblut.
    Und weil es mir an Lichte fehlt,
    Da scheint der Mond in mein Gezelt;
    Scheint er auch auf franzö´sch herein,
    Mir fällt doch meine Liebste ein:
    Ach weh! Jetzt hat der Spaß ein End!
    - Wenn nur meine Mutter hexen könnt!


    Ein in seiner Metaphorik höchst deftiges und deshalb so unmittelbar beeindruckendes Gedicht. Sauerkraut, Wurst, Humpen und Burgunderblut beherrschen die Verse. Und doch, - es gibt da eine Dimension der Transzendenz, die Mörike lyrisch meisterhaft heraufbeschwört: Mit dem Konjunktiv.


    Schon im ersten Vers klingt er auf. Bemerkenswerterweise in der sprachlich harten, weil um eines Vokals beraubten Form des „könnt“. Das leitet den deftigen Ton schon gleich am Anfang ein, der die Sprache dieses Landsknechtstypen ausmacht, der hier lyrisches Ich ist. Immer wieder fehlen die Endsilben an den Verben. „Wär“, „müßt“, „säß“, so reiht sich das aneinander und macht deutlich, dass da sich einer äußert, der sich sprachlich zwar die knappe Direktheit liebt, der hier aber zum Konjunktiv greifen muss, weil er sich anders nicht aus seiner tristen Realität herauszuhelfen weiß.


    Und in all seine Phantasien, die eigentlich ein Sich-Hinwegträumen aus der realen Welt sind, bricht diese am Ende dann doch ganz und gar unverhofft und ungewollt ein. Und hier, in diesem „Ach weh“ des zweitletzten Verses gewinnt das Gedicht seine lyrische Größe. Das Leiden dieses Gesellen gewinnt mit einem Mal über die Träume von Sauerkraut und Humpen hinausweisende, in existenziell bedeutsame Dimensionen vordringende Züge: Sehnsucht nach Heimat und Liebe klingen auf. Sie werden nicht explizit, verbleiben im Indirekten eines im Grunde wortlosen „Ach weh“.


    Und in diesem Augenblick bekommt der Refrain einen ganz anderen lyrischen Klang.

  • Der lyrisch-sprachliche Konjunktiv, dieses „könnt“, „müsst“ und „wär“, mit dem das Gedicht einsetzt, hat offensichtlich bei Wolf wie eine Initialzündung der musikalischen Inspiration gewirkt. Es ist nicht so sehr die Tatsache, dass Wolf sich hier als Humorist zeigt, was dieses Lied so bedeutsam macht, es ist vielmehr die Art und Weise, wie er die lyrischen Phantasien, die der Konjunktiv auslöst, in Musik setzt.


    In der Phantasie entfaltet sich kein kontinuierliches, zusammenhängendes Geschehen. Sie erzeugt nur Bilder im Irrealis. Und Wolf greift das kompositorisch in der Weise auf, dass er die melodische Linie der Singstimme auf höchst kunstvolle Weise stückelt. Sie wird immer wieder von Pausen unterbrochen, in denen das Klavier mit eigenen Aussagen sich zu Wort melden kann. Und das sind musikalisch höchst expressive, nämlich die gerade von der Singstimme gemachte Aussage lautmalerisch kommentierende, akzentuierende oder ergänzende. Auch dieses Lied zeigt also wieder einmal die enge Anbindung an den lyrischen Text, durch die sich Wolfs Liedkunst auszeichnet. Die lyrischen Bilder, das bruchstückhaft Konjunktivische an ihnen, kommt in dieser eigenartigen Stückelung der melodischen Linie musikalisch voll und ganz zur Geltung.


    „Im Marschtempo“ lautet die Vortragsanweisung, und das Klaviervorspiel wartet ja auch mit einer Art Trommelwirbel im Marschrhythmus auf. Die melodische Linie der Singstimme, die auf dem ersten Vers liegt, springt unruhig hin und her. Das Wort „hexen“ wird dabei klanglich regelrecht auseinandergerissen, weil auf der Silbe „e“ ein punktiertes Achtel liegt und auf der Silbe „en“ ein Sechzehntel. Der mit „wenn“ eingeleitete Gedanke wird auf diese Weise in seiner Skurrilität musikalisch akzentuiert.


    Und danach kommt die erste Pause, in der man, dem Klavier mit seinen ebenfalls hüpfend daherkommenden Akkorden lauschend, den Gedanken weiterverfolgen kann. Bei dem Bild von der „Marketenderin“ wiederholt sich das auf höchst eindrucksvolle Weise. Die Pause in der melodischen Linie ist hier fast zwei Takte lang, und deswegen entfaltet das Klavier einen wahren klanglichen Feuerzauber aus auf- und absteigenden Oktaven, der in zwei wie das Ganze markant abschließende Akkorde mündet.


    Die nächtliche Ruhe im Lager fängt die melodische Linie mit gemächlicher Bewegung auf einer Tonebene ein. Dann aber, wenn es um Schnarchgeräusche geht, macht die Vokallinie Sprünge über mehr als eine Oktave auf und ab, und durch die Punktierung des hohen „dis“ tritt eine rhythmische Verschiebung auf, die die r-Laute („schnarchet“, „Ross“) so dich aufeinanderfolgen lässt, dass klanglich sie Anmutung von Schnarchen einstellt.


    Mächtig bäumt sich die melodische Linie bei den beiden Phantasien von Schüssel, Sauerkraut und Wurst auf. Sie steigt in hohe Lagen auf, um danach gleich wieder hurtig herabzusteigen, will bei den Worten „Schlegel“ „pompös“ und forte vorgetragen werden und steigert sich bei den Worten „lange Wurst“ in Form eines hoch ausgreifenden Bogens zu wahrem klanglichen Entzücken. Das Klavier begleitet das alles mit mächtigen Akkorden, Wirbeln und aufsteigenden Tonketten aus Zweiunddreißigsteln.


    Das Wort „Tschako“ bekommt durch eine eingelagerte Pause einen schelmischen Ton, und wenn der Mond „ins Gezelt“ schaut, wird die melodische Linie „zart“ und will „etwas zögernd“ vorgetragen werden. Auf dem Wort „Mond“ liegt dabei eine melodische Dehnung in hoher Lage, auf die ein Abfallen der Vokallinie über eine ganze Oktave folgt.


    Klanglich überaus expressiv wird das „Ach weh“ gestaltet. Die melodische Linie fällt dabei drei Mal, von Viertelpausen unterbrochen, um eine verminderte Sexte ab. Aber wenn dann „der Spaß ein End“ hat, purzelt die melodische Linie in trockenen kleinen Sekundschritten herunter und landet auf einem in Moll harmonisierten tiefen „es“. Trommelwirbel kommentieren das lakonisch im Klavier.


    Ungewöhnlich ist der Schluss des Liedes. Wolf weicht selten von der Vorgabe des lyrischen Textes ab, - aus kompositorischem Respekt vor diesem. Hier aber tut er es. Eingebettet in ein langes klangliches Panorama von Klavierklängen, die das Motiv des rhythmischen Stockens vom Liedanfang aufgreifen, aber auch wieder die szenespezifischen Trommelwirbel erklingen lassen, wird das „Wenn meine Mutter hexen könnt“ „wie im Träume“ (Anweisung) wiederholt. Der Tambour dämmert hinüber. Auf dem Wort „könnt“ liegt eine melodische Dehnung, die sich über fast drei Takte erstreckt.

  • Das Lied „Der Tambour“ entstand am 16. Februar 1888, also noch vor den Liedern „Der Knabe und das Immlein“, „Ein Stündlein wohl vor Tag“ und „Jägerlied“, die alle drei an einem einzigen Tag komponiert wurden, am 20. Februar nämlich. Das Lied-Opus auf Eduard Mörike entstand also tatsächlich in einer Art schöpferischem Rausch, und Wolf empfand das auch so. Einerseits war er darüber beglückt, - wie man etwa einem Brief an Edmund Lang (24.Februar) entnehmen kann: „Es ist jetzt punkt 7 Abend, und ich bin so überglücklich wie ein überglücklicher König. Wieder ist mir ein neues Lied gelungen:“


    Aber ganz geheuer ist ihm diese wie von außen über ihn hereinkommende Inspiration auch nicht. So fragt er sich:
    „Was wird mir wohl die Zukunft noch vorbehalten? Diese Frage quält mich und beschäftigt mich im Wachen und im Träumen. Bin ich ein Berufener? Bin ich am Ende gar ein Auserwählter? Gott verhüte das Letztere. Das wäre eine schöne Bescherung.“


    Aufgeführt wurde das Lied "Der Tambour" (mit anderen Wolf-Liedern zusammen) erstmalig in einem Konzert aus Instrumental- und Vokalwerken am 15. Dezember 1888 im Bösendorfer-Saal. Das Publikum war begeistert und Wolf wurde gefeiert.

  • Wenn in der biographischen Notiz auf Wolfs hochgradige, wie ein Fieber über ihn kommende Inspiriertheit verwiesen wurde, so lässt diese sich im Lied „Der Tambour“ sehr wohl vernehmen. Dieses Lied sprüht förmlich von kompositorischen Einfällen. Die Musik lässt sich ja immer wieder mit einer jeweils ganz spezifischen Art von Melodik und lautmalerischen Elementen im Klaviersatz auf die einzelnen lyrischen Bilder ein.


    So setzt das Lied mit einem von Trommelwirbeln begleiteten Marschrhythmus ein, der in seiner Rhythmik das jambische Versmaß des lyrischen Textes aufgreift. Aber schon wenn das Bild vom „Lager um Mitternacht“ musikalisch zu gestalten ist, kommt Ruhe in die Bewegung der melodischen Linie, die jetzt in Moll harmonisiert ist. Und beim Schnarchen von „Roß und Mann“ gerät sie sogar in eine leichte Verschleppung, die zwar im Notentext nicht vorgeschrieben ist, die sich aber für den Interpreten durch die Sprünge über extreme Intervalle wie zwangsläufig ergibt.


    Mit starkem Nachdruck, ja Deftigkeit bewegt sich die Vokallinie zunächst bei den imaginativen Phantasien, die den Tambour überkommen, - jenen Bildern vom Sauerkraut und der Wurst, von Schlegel und „Sabel“. Bei dem Bild vom „Tschako“ kommt ein kecker Ton hinzu, der durch den Oktavfall mit eingelagerter Achtelpause verursacht wird. Um so beeindruckender dann der plötzlich in diesen forschen Grundton hineintretende Schimmer von melodiöser Lieblichkeit, wenn der Mond „ins Gezelt“ scheint. Überraschend deshalb, weil man an dieser Stelle, nach all dem rabiaten Auf und Ab der Vokallinie, eine solch lange Dehnung in hoher Lage auf dem Wort „Mond“ gar nicht erwartet.


    Wie viel kompositorische Inspiration in diesem Lied steckt, das kann man auch am Schlussvers erkennen. Zunächst weist er in der Aufwärtsbewegung seiner melodischen Linie wieder diesen jambischen Grundrhythmus auf. Da dieser Tambour aber gerade dabei ist, in den Schlaf hinüberzudämmern, unterlegt Wolf der Wiederholung – die mit „wie im Traume“ überschrieben ist – einen trochäischen Rhythmus. Im Jambus wäre zu viel Leben. Und die lange melodische Dehnung auf dem Schlusswort „könnt“ (über fast drei Takte!) wäre musikalisch unlogisch.

  • Frühling läßt sein blaues Band
    Wieder flattern durch die Lüfte,
    Süße wohlbekannte Düfte
    Streifen ahnungsvoll das Land;
    Veilchen träumen schon,
    Wollen balde kommen;
    Horch, von fern ein leiser Harfenton! –
    Frühling, ja du bists!
    Frühlings, ja du bists!
    Dich hab ich vernommen!


    Dieses Gedicht entstand 1829 und wurde von Mörike später in seinen Roman „Maler Nolten“ aufgenommen. Dort lässt er es ein einfaches Mädchen, Tochter des Wärters, bei seiner Gartenarbeit singen. Es wieder eines jener lyrischen Werke, die – wie das für Mörike so typisch ist – mit der volksliedhaften Schlichtheit ihrer lyrischen Sprache bezaubern können, obwohl sie doch eine dichterisch komplexe und hochdifferenzierte Metaphorik transportiert. Oder vielleicht gerade deshalb?


    Die Personifizierung des Frühlings ist künstlerisch nichts Neues. Wohl aber das Bild vom „blauen Band“, das er flattern lässt. Es evoziert, die Himmelsbläue metaphorisch einbeziehend, alles, was mit Aufbruch aus der Enge in die Weite, mit neuem Leben, mit ungebrochener Lebendigkeit und Zukunft zu tun hat. Was flattert, an das kann keine Enge der realen Welt mehr rühren. Weil es Blau ist, weist es in die Weite des Himmels, und dieses Weisen bezieht seine so starke, den Leser dieses Gedichtes in sich einbeziehende Kraft aus der Personalisierung des Frühlings.


    Allen lyrischen Bildern wohnt hier Seele inne. Natur, frühlingshafte hier, wird als beseelt erfahren. Die „süßen Düfte“ sind „wohlbekannt“, das lyrisch Ich findet sich in ihnen wieder. Und sie wehen nicht nur durch das Land, sondern sie „streifen ahnungsvoll“. Lyrisches Ich und Natur verschmelzen hier, denn „Ahnung“ ist eine zutiefst menschliche Regung, die hier in naturhafte Ereignisse projiziert wird. Ganz hierzu gehört auch, dass Veilchen etwas wollen können: Balde kommen.


    Das Faszinierende an diesem Gedicht ist, dass diese Verschmelzung von Natur und lyrischem Ich an keiner Stelle gekünstelt wirkt. Man nimmt sie gar nicht wahr, sondern empfindet sie wie naturhaft selbstverständlich. Erst der aus dem reflexiven Abstand erfolgende Blick darauf macht sie deutlich. Und er lässt auch das dichterische Genie erkennen, das dahintersteht. Es ist die den lyrischen Versen selbst innewohnende Musikalität, es sind jene „schmiegsamen Metren, die in keiner metrischen Rechnung aufgehen“ (E. Staiger).

  • Wolf fängt den Geist des Aufbruchs, der dieses Gedicht Mörikes durchweht, auf musikalisch großartige Weise ein. Der klangliche Zauber des Liedes gründet ganz wesentlich in den vielen harmonischen Rückungen, die es durchziehen. Immer wieder klingt eine neue Tonart auf, wobei die melodische Linie der Singstimme den Eindruck macht, als geriete sie regelrecht in sie hinein, werde in sie hineingezogen.


    Denn sie setzt ja nicht nur mit jedem Vers in einer neuen Tonart ein (Ausnahme: Vers sechs), sondern sie mündet mehrfach am Versende („Land“, „schon“, „kommen“) in eine andere Tonart, und bei „Harfenton“ erfolgt die harmonische Rückung sogar innerhalb des über mehr als einen Takt gehaltenen „fis“ auf der Silbe „-ton“. Das ist permanenter harmonischer Neu-Aufbruch, ganz der lyrischen Aussage gemäß.


    „Sehr lebhaft, jubelnd“ lautet die Vortragsanweisung für dieses Lied, das im Vierachteltakt steht. Und die melodische Linie der Singstimme ist in ihrer Struktur auf Lebhaftigkeit angelegt. Durch den Klaviersatz wird sie darin unterstützt, ja sogar beflügelt, denn dort bewegen sich permanent triolische Sechzehntel auf und ab und erzeugen auf diese Weise eine Art wiegenden und zugleich in sich höchst lebendigen Klangteppich, auf dem die Vokallinie gleichsam fortgetragen wird.


    Wie nah Wolf auch in diesem Lied der Sprachmelodie und der Aussage der lyrischen Bilder ist, das kann man schon gleich bei den ersten Versen vernehmen. Beim Bild vom „blauen Band“ bleibt die Bewegung der melodischen Linie noch verhalten. Sie bewegt sich zwar lebhaft nach unten, kehrt aber wieder zu ihrem Ausgangspunkt zurück. Bei dem Vers „Wieder flattern durch die Lüfte“ geht es aber in rascher, silbengetreuer Deklamation spornstreichs in die Höhe: Über eine Dezime stürmen Sechzehntel hoch zu einem „g“, und danach folgt – bei dem Wort „Lüfte“ – ein Terzfall. Das lyrische Bild ist auf diese Weise musikalisch in vollkommener Weise aufgegriffen.


    Und diese ausgeprägte Textnähe der melodischen Linie bleibt weiter erhalten. Das Wort „süße“ erklingt auf einer melodischen Dehnung, und bei „ahnungsvoll“ beschreibt die Vokallinie einen Bogen in Form einer Terz, in den ebenfalls eine Dehnung eingelagert ist. Der semantische Gehalt dieses Wort ist wahrlich zu hören.


    Beim Bild von den „träumenden Veilchen“ kommt etwas Zögerliches in die Bewegung der Vokallinie. Sie macht bei dem Wort „schon“ einen verminderten Sekundfall und hält kurz inne. Eine Pause folgt. Es ist, als ob die Musik die Veilchen einen Augenblick lang träumen lassen wolle. Bei dem Vers „Wollen balde kommen“ bewegt sich die Vokallinie hingegen weiter nach oben und mach danach einen verminderten Quintfall. Ein Ereignis steht bevor, Leben regt sich, - auch melodisch.


    Auch bei dem Wort „Harfenton“ hält die melodische Linie in hoher Lage über eineinhalb Takte inne. Das Wort „Horch“ wird in seinem Appellcharakter musikalisch aufgegriffen, und das lyrische Wort darf zur Geltung kommen.


    Bei den beiden letzten Versen steigert sich die musikalische Emphase ins Extrem. Von einem hohen „g“ ausgehend, bewegt sich die melodische Linie lebhaft über eine Oktave nach unten, kehrt aber sogleich wieder zu ihrem Ausgangspunkt zurück. Und diese Bewegung wird wiederholt. Bei dem Vers „Dich hab ich vernommen“ setzt die melodische Linie erneut auf diesem hohen „g“ ein und mündet, nach einer lebhaften, nach unten ausgreifenden Bewegung, in eine lange, zwei Takte übergreifende Dehnung auf einem hohen „e“ bei dem Wort „Ja“, bevor sie mit einem Oktavsprung bei den Worten „du bists“ wieder auf dem hohen „g“ landet. Es wird zweieinhalb Takte lang gehalten, - forte-fortissimo!


    Ein für Wolf ungewöhnlich langes Nachspiel folgt. Es ist, als könne das Klavier nicht zur Ruhe kommen und müsse die beiden zentralen melodischen Motive noch einmal aufgreifen und durchspielen. Erst langsam wird aus dem Fortissimo eine Forte, dann ein Piano und am Ende ein Piano-Pianissimo. Jetzt endlich ist dieses vom Aufbruch getriebene Leben in diesem Lied zur Ruhe gekommen.

  • An dieser Stelle mal einen herzlichen Dank an Herrn Helmut Hofmann, ich lese seine Beiträge vor allem zum Lied mit wachsendem Vergnügen!

  • Darf ich sagen, dass es mich erfreut, das zu lesen? Dies auch deshalb, weil ich Yorick gerade an anderer Stelle (im Thread "Rousseau") vielleicht ein wenig auf den Fuß getreten bin. Das war aber - ich möchte es noch einmal betonen - sachbezogen und nicht persönlich gemeint. Und noch etwas, - auch bitte nur als Hinweis verstehen: Ich schreibe hier (genauer: mühe und plage mich) als Taminomitglied "Helmut Hofmann", - also ohne "Herr" davor.

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