Tristan und Isolde - Wie war das mit dem Zaubertrank?

  • In einem Wagner-Thread kam es zwichendurch zu einer Subdiskussion über Schwächen und Stärken(?) des Tristan. Ausgehend von der unterschiedlichen Einschätzung der Funktion des Zaubertranks wurde einiges Interessantes geschrieben. dies wurde jetzt hier zu einem eigenen Thema gemacht, das vielleicht noch mehr Licht in Richard Wagners wahrscheinlich bedeutendsten Werk bringt.

    Theophilus




    Hallo hami799,


    mein Hauptkritikpunkt an Tristan ist der, dass die Liebe zwischen Tristan und Isolde keine echte, sondern eine durch eine dritte Person mittels Zaubertrank herbeigeführte ist. Wagner hat das Rauschhafte dieser ganzen Farce eingefangen, sie aber nicht aber nicht aufgelöst. Held und Heldin sterben ihren Liebestod und übrig bleibt die Frage, ob sie das auch noch gemacht hätten, wenn die Wirkung des Tränkleins verflogen wäre.
    Und da sitz' ich nun und hör mir CD1 meiner Furtwängler-Aufnahme an, CD2 und CD3 und hoffe, dass ich nach ziemlich genau dreieinhalb Stunden auf CD4 dann endlich die Auflösung kommt, die Pointe, aber sie kommt nicht.
    Meines Erachtens hat da Wagner da einen massiven Fehler gemacht: entweder in der Dramaturgie oder im Gesamtkonzept dieser Oper! Natürlich kann man diese Geschichte so ausgehen lassen, wie sie ausgeht, aber dann wäre ein knackiger Einakter deutlich besser gewesen.


    John Doe
    :hello:

  • Hallo hami799,


    mein Hauptkritikpunkt an Tristan ist der, dass die Liebe zwischen Tristan und Isolde keine echte, sondern eine durch eine dritte Person mittels Zaubertrank herbeigeführte ist. Wagner hat das Rauschhafte dieser ganzen Farce eingefangen, sie aber nicht aber nicht aufgelöst. Held und Heldin sterben ihren Liebestod und übrig bleibt die Frage, ob sie das auch noch gemacht hätten, wenn die Wirkung des Tränkleins verflogen wäre.
    Und da sitz' ich nun und hör mir CD1 meiner Furtwängler-Aufnahme an, CD2 und CD3 und hoffe, dass ich nach ziemlich genau dreieinhalb Stunden auf CD4 dann endlich die Auflösung kommt, die Pointe, aber sie kommt nicht.
    Meines Erachtens hat da Wagner da einen massiven Fehler gemacht: entweder in der Dramaturgie oder im Gesamtkonzept dieser Oper! Natürlich kann man diese Geschichte so ausgehen lassen, wie sie ausgeht, aber dann wäre ein knackiger Einakter deutlich besser gewesen.

    Hallo Joe,


    auf diesem Wege wirst Du nie hinter das Geheimnis des Zaubertranks kommen! :) Das ist doch nur eine Opernrequisite, die für ganz etwas anderes steht. Das Unbewußte ist die höchste Lust - Wagners Tristan ist nichts anderes als musikalisch manifestierte Schopenhauersche Philosophie ("Die Welt als Wille und Vorstellung"): Das Unbewußte zeigt sich als die alles beherrschende Macht und der Liebestod bedeutet nichts anderes als die vollständige Auslöschung des Bewußtseins als metaphysische "Erfüllung" - die vom Bewußtsein beherrschte "Welt als Vorstellung" verschwindet und es bleibt nur noch die "Welt als Wille" übrig - das reine Begehren des Anderen, was in dieser Begierde sich schließlich ganz "verzehrt" (ein Ausdruck von Wagner). Der Zaubertrank ist von daher lediglich das mythische Symbol für diese Apotheose des Unbewußten und seiner Begierde und damit dramaturgisch zentral.


    Beste Grüße
    Holger

  • mein Hauptkritikpunkt an Tristan ist der, dass die Liebe zwischen Tristan und Isolde keine echte, sondern eine durch eine dritte Person mittels Zaubertrank herbeigeführte ist

    Das ist schon richtig, aber hätte die Dramaturgie nicht noch mehr gelitten, wenn Wagner eine weitere Stunde darauf verwendet hätte, ein zögerndes, langsames Erwachen der Gefühle der eigentlichen Handlung voraus zu schicken?


    Und wie sollte das machbar sein? Ein reuevoller Kniefall Tristans vor der Holden oder eine Gerichtsverhandlung, die dem Helden Notwehr bescheinigt?


    Mich stört Wagners Lösung keinesfalls und ich betrachte sie eher als Allegorie über die irrationale und oft schnelle Wandlung der menschlichen Gefühle.


    Als ich als Zwölfjähriger plötzlich und ohne mein eigenes Dazutun zum Wagner-Verehrer wurde, geschah das nur durch das Musikerleben. Dramaturgie, Text und sogar die Handlung waren für mich damals zweitrangig oder gar gänzlich unbekannt.

  • Der Zaubertrank ist von daher lediglich das mythische Symbol für diese Apotheose des Unbewußten und seiner Begierde und damit dramaturgisch zentral.

    Ja, bloß hat Wagner selbst gesagt, dass sein Tristan schon gestanden ist, bevor er Schopenhauer kennen gelernt hat. Außerdem ändert es nichts an der Tatsache, dass der Zaubertrank den beiden Helden von einer dritten Person in täuschender Absicht verabreicht worden ist. Und weil eben dieser doofe Zaubertrank dramaturgisch zentral ist, ist der Tristan nicht stimmig.



    Das ist schon richtig, aber hätte die Dramaturgie nicht noch mehr gelitten, wenn Wagner eine weitere Stunde darauf verwendet hätte, ein zögerndes, langsames Erwachen der Gefühle der eigentlichen Handlung voraus zu schicken?

    Im Ring hat er es doch perfekt gekonnt: Fasolt - Freya, Sigmund - Sieglind, Siegfried - Brünnhilde! Und dann die Sache mit dem Englisch Horn, das für die vergiftete Liebe steht und das erst am Schluss im Finale Götterdämmerung verstummt, wenn auf einmal jedem alles klar wird.


    Hinter das Geheimnis dieses Zaubertrankes werd ich dann wohl nie kommen, wie Holger schon gesagt hat, aber es mag mir einfach nicht gelingen, mich so an Wagners Harmonien zu berauschen, dass ich diesen Schnitzer nicht mehr seh.


    John Doe

  • dass die Liebe zwischen Tristan und Isolde keine echte, sondern eine durch eine dritte Person mittels Zaubertrank herbeigeführte ist.


    Für mich ist das eine Metapher - und wie das Wagner sehen wollte (oder so sehen lassen wollte?) ich mir ziemlich egal, für mich ist "Tristan und Isolde" - ohne dramaturgisches/für die Oper notwendiges Beiwerk - stimmig.


    zweiterbass

    Wer die Musik sich erkiest, hat ein himmlisch Gut bekommen (gewonnen)... Eduard Mörike/Hugo Distler

  • Zitat John Doe: "mein Hauptkritikpunkt an Tristan ist der, dass die Liebe zwischen Tristan und Isolde keine echte, sondern eine durch eine dritte Person mittels Zaubertrank herbeigeführte ist. Wagner hat das Rauschhafte dieser ganzen Farce eingefangen, sie aber nicht aber nicht aufgelöst. Held und Heldin sterben ihren Liebestod und übrig bleibt die Frage, ob sie das auch noch gemacht hätten, wenn die Wirkung des Tränkleins verflogen wäre.
    Und da sitz' ich nun und hör mir CD1 meiner Furtwängler-Aufnahme an, CD2 und CD3 und hoffe, dass ich nach ziemlich genau dreieinhalb Stunden auf CD4 dann endlich die Auflösung kommt, die Pointe, aber sie kommt nicht.
    Meines Erachtens hat da Wagner da einen massiven Fehler gemacht: entweder in der Dramaturgie oder im Gesamtkonzept dieser Oper!"


    Es gibt doch gar keinen Liebestrank. Und das ist die eigentlich geniale Idee von Wagner. Wie sagte Thomas Mann so schön wie richtig: Die beiden hätten auch Wasser trinken können.


    Und was das für eine Liebe ist. Dieses "Er sah mir in die Augen!" sagt doch alles. Spätestens bei diesem Satz ist klar, was Isolde und Tristan verbindet - schon zu Moroldens Lebzeiten. Nimm Dir doch nochmal genau den Text des ersten Aufzuges vor und natürlich die Musik dazu. Tristan ist sehr wohl klar, dass Isolde ihm Gift reichen will. Sie können nicht wissen, dass Brangäne wissentlich die Fläschchen vertauscht hat. Und nur angesichts des sicheren Todes bricht es aus den beiden heraus, dass sie füreinander bestimmt sind in diesem wahnsinnigen Sehnen, das den Tag zum Feine hat. Ich, lieber John Doe, sehe darin keinen massiven Fehler in der Dramaturgie durch Wagner. Im Gegenteil: Ich kenne kein anderes Werk mit so einem hinreißenden Einfall.


    Dies nur ein ganz kurzer Einwurf, eine Meinung - sonst nichts.


    Gruß Rheingold

    Es grüßt Rüdiger als Rheingold1876


    "Was mir vorschwebte, waren Schallplatten, an deren hohem Standard öffentliche Aufführungen und zukünftige Künstler gemessen würden." Walter Legge (1906-1979), britischer Musikproduzent

  • Dieses "Er sah mir in die Augen!" sagt doch alles. Spätestens bei diesem Satz ist klar, was Isolde und Tristan verbindet - schon zu Moroldens Lebzeiten.


    Könnte aber auch Mitleid gewesen sein. Einen Wehrlosen abzuschlachten ist nichts für ein zartes Gemüt.

  • Manche Regisseure gehen ja mittlerweile schon so weit, dass sie meinen, Brangäne sei heimlich in Isolde verliebt und sie mischt deshalb den Liebestrank.


  • Lieber Rheingold,


    Du hast ja so recht! Und hättest Du dies nicht geschrieben, wäre es für mich eine Verpflichtung gewesen, dies zu tun.

    Arrestati, sei bello! - (Verweile, Augenblick, du bist so schön!)

  • Und was das für eine Liebe ist. Dieses "Er sah mir in die Augen!" sagt doch alles. Spätestens bei diesem Satz ist klar, was Isolde und Tristan verbindet - schon zu Moroldens Lebzeiten

    Casablanca hat er ja nun doch nicht vorweggenommen, der gute Wagner!


    Der im Töten nicht bewanderte Mensch tut sich besonders schwer, einen um die Ecke zu bringen, wenn der ihn dabei anschaut: die natürliche Hemmung zu töten in Kombination mit Mitleid! Liebe seh ich darin nicht.
    Außerdem, warum sollte Wagner im Tristan so herumeiern, wenn er doch zeitnah in der Walküre sogar einen Inzest auf die Bühne bringt und zwar eindeutig.
    Nein, meine Herren, da ist Wagner ein Fehler unterlaufen und zwar an zentraler Stelle, weswegen ich die leidenschaftliche Verehrung dieser Oper zur Kenntnis nehme, sie aber nicht nachvollziehen kann. Alleine schon deswegen, weil Wagner mehr machen wollte als bloße Musik und auch mehr gemacht hat.


    John Doe

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  • John Doe -


    Im Verdi-Thread ist von dir ungemein Erhellendes zu lesen: Von Wagner dagegen ist es einfach: Rienzi, Holländer und der Ring, wobei bei letzterem für mich Text und Handlung eindeutig über die Musik dominieren. Den Rest ertrage ich schlicht und einfach nicht. (Von mir fett abgehoben.)


    [ ... ] KOMMENTAR ÜBERFLÜSSIG!!!

    Arrestati, sei bello! - (Verweile, Augenblick, du bist so schön!)

    Einmal editiert, zuletzt von Milletre ()

  • Nun ja, lieber Milletre, wir wollen doch dem John Doe seine Meinung lassen. Er hat halt keinen Zugang zu TRISTAN, das ist alles. Und das ist doch nicht der Weltuntergang. Das Werk hat schließlich auch seine Tücken. :( Ich empfinde es als außerordentlich mutig, dass er, John, sich mit seiner sehr ungewöhnlichen Sicht der Dinge hier in die Debatte einbringt. Und wenn er aus meinen Bemerkungen (Nr. 253) einen Zusammenhang zwischen "Tristan" und "Casablanca" herstellt, dann ist das insofern bemerkenswerte, als vor ihm wohl noch niemand auf diese Idee gekommen zu sein dürfte. Oder habe ich da auf dem Regietheater was verpasst?


    Mit herzlichen Grüßen an Dich und John


    Rheingold

    Es grüßt Rüdiger als Rheingold1876


    "Was mir vorschwebte, waren Schallplatten, an deren hohem Standard öffentliche Aufführungen und zukünftige Künstler gemessen würden." Walter Legge (1906-1979), britischer Musikproduzent

  • Milletre:


    Gemach, lieber Milletre, gemach! Ich habe Wagner über den Ring kennen und schätzen gelernt und dabei festgestellt, dass bei dieser Komposition Wort, Story und Musik in einer bis dato nie dagewesenen Art und Weise aufeinander abgestimmt sind. Und das bei einem Inhalt und einer Sprache, die sogar Goethes Faust übertreffen.
    Der Ring ist mein Maßstab und gemessen am Ring haben nun mal Tannhäuser, Lohengrin, Tristan und Meistersinger gewisse Schwächen, über die ich nicht hinwegkomme, sei es jetzt, dass sie auf mich einen unausgegorenen Eindruck machen, dass die Story in einem gewissen Mißverhältnis zur Musik steht, dass sie für ihre Aussage schlicht und einfach zu lang sind, bzw. dass sie einen eklatanten Fehler in der Dramaturgie haben.
    Parsival ist dabei ein Sonderfall. Dramaturgisch, textlich, musikalisch nicht zu beanstanden ist es die Botschaft dieses Werkes, die mir nicht zusagt, wobei ich diesbezüglich nicht der einzige bin.
    Bei Rienzi und Holländer nun stimmt- hinsichtlich der ihnen innewohnenden Botschaft auf deutlich niedrigerem Niveau - ebenfalls alles. Zwei perfekte Opern, die eine eine große und die andere eine romantische.


    Rheingold1876


    "Schau mir in die Augen, Kleines" - "Er sah mir in die Augen".
    Und betreffs Regietheater möchte ich anmerken, dass ich mir Opern eigentlich nur anhöre, erspare ich mir so dieses krampfhafte, an den Haaren herbeigezogene, um der Provokation willen provozierende Zeugs, das da von hoch dotierten, durch und durch bourgeoisen Salonrevoluzzern verbockt wird.


    John Doe


  • Wenn die ganze Tristan-Diskussion wohl auch eher in den dazugehörigen Thread passt, ich stimme Rheingold definitiv zu, dass der Liebestrank als magisches Mittel hier zweitrangig ist...schon bei Chrétiens de Troyes' Paar ist der Trank doch nur eine Art Rechtfertigung für das Geschehen...schuldlos schuldig eben, und das wird Wagner am Stoff wohl auch angezogen haben. Die ganze Geschichte hat doch etwas äußerst Sugesstives, der Trank ist quasi der Grenzöffner für den Ausbruch der folgt.

    "Die Glücklichen sind neugierig."
    (Friedrich Nietzsche)

  • Casablanca hat er ja nun doch nicht vorweggenommen, der gute Wagner!


    Der im Töten nicht bewanderte Mensch tut sich besonders schwer, einen um die Ecke zu bringen, wenn der ihn dabei anschaut: die natürliche Hemmung zu töten in Kombination mit Mitleid! Liebe seh ich darin nicht.
    Außerdem, warum sollte Wagner im Tristan so herumeiern, wenn er doch zeitnah in der Walküre sogar einen Inzest auf die Bühne bringt und zwar eindeutig.
    Nein, meine Herren, da ist Wagner ein Fehler unterlaufen und zwar an zentraler Stelle, weswegen ich die leidenschaftliche Verehrung dieser Oper zur Kenntnis nehme, sie aber nicht nachvollziehen kann. Alleine schon deswegen, weil Wagner mehr machen wollte als bloße Musik und auch mehr gemacht hat.


    John Doe

    Dann betrachten wir Wagners Tristan an dieser Stelle doch mal etwas genauer - vielleicht hilft es ja!


    1. Die Dramaturgie. Im Drama gibt es keine Geheimnisse, sondern es herrscht das Prinzip szenischer Präsenz. Die Handlung muß überschaubar sein und die Motive der Handlung dem Zuschauer zu jeder Zeit verständlich und einsichtig. Wagner selbst hat das nachdrücklich betont. Von daher ist finde ich völlig eindeutig, daß es an dieser Blickstelle nur um das Mitleid und nicht um die Liebe gehen kann. Man sollte hier nichts hineingeheimnissen - das ist dem Drama schlicht zuwider - und sich an die Aussage und das Ausgesagte halten.


    2. Die Blickszene. Der Blick ist ein in der Literatur der Romantik gern benutztes Motiv - so geläufig, daß es sogar Hegel in seinen Ästhetikvorlesungen thematisiert. Und die Geschichte des Blickmotivs reicht bis ins 20. Jahrhundert - von Jean-Paul Sartre stammt die wohl berühmteste Blickanalyse. Der Sinn des Blicks ist, daß sich in ihm das Innere, die Seele aufschließt und daß sich im Blickkontakt die Wahrheit enthüllt - man kann sich und den Anderen nicht mehr belügen. "Die Hölle, das sind die Anderen" heißt es bei Sarte - weil ihr Blick uns gefangen nimmt, uns die Freiheit raubt. Das kann man bei Wagner sehr gut nachvollziehen:


    mit dem hellen Schwert
    ich vor ihm stund,
    an ihm, dem Über-Frechen,
    Herrn Morolds Tod zu rächen.
    Von seinem Bette blickt er her, -
    nicht auf das Schwert,
    nicht auf die Hand, -
    er sah mir in die Augen.
    Seines Elendes
    jammerte mich;
    das Schwert - das ließ ich fallen:
    die Morold schlug, die Wunde,
    sie heilt ich, daß er gesunde,
    und heim nach hause kehre, -
    mit dem Blick mich nicht mehr beschwere.


    Die Augen Tristans - was enthüllen sie: Einen leidenden Menschen (er liegt ja bezeichnend im Bett!). Er registriert gar nicht, daß man ihn töten will, sondern sieht Isolde nur in die Augen. Dem Mitleid kann sie da nicht entkommen - ihr Haß und ihre Absicht, ihn zu töten, haben keine Chance. Und dann wird das Motiv genannt, warum sie ihn gesund pflegt: Nicht aus Liebe, nein, allein darum, um seinem Blick zu entfliehen, der sie belastet. Warum? Sie verflucht ihn nachher als "Versucher" - nämlich ihren Haß zu bezwingen und ihre Tötungsabsicht. Sie will ihn eigentlich hassen, kann es aber nicht, weil das Mitleid sie gefangen nimmt, solange sie seiner Gegenwart und seinem Blick ausgeliefert ist. Also will sie sich so schnell wie möglich davon befreien - und nur deshalb pflegt sie ihn gesund. Wenn es Liebe wäre, dann müßte sie im Gegenteil darauf bedacht sein, sich seine Gegenwart zu erhalten - sie will ihn aber eindeutig los werden. Das hat wahrlich fast schon Sartresche Züge: Tristan, der Andere, ist für sie die "Hölle" - weil er durch seinen Blick ihr die Möglichkeit raubt, sie selbst zu sein, das nämlich, was sie glaubt, eigentlich zu wollen: zu hassen und zu töten.


    Nein, die Liebe kommt erst mit dem Zaubertrank ins Spiel. Hier geht es einzig allein um den Haß und seine Bezwingung durch das Mitleid.

    Wenn die ganze Tristan-Diskussion wohl auch eher in den dazugehörigen Thread passt, ich stimme Rheingold definitiv zu, dass der Liebestrank als magisches Mittel hier zweitrangig ist...schon bei Chrétiens de Troyes' Paar ist der Trank doch nur eine Art Rechtfertigung für das Geschehen...schuldlos schuldig eben, und das wird Wagner am Stoff wohl auch angezogen haben. Die ganze Geschichte hat doch etwas äußerst Sugesstives, der Trank ist quasi der Grenzöffner für den Ausbruch der folgt.

    Man darf hier, finde ich, nicht vergessen, daß Wagner vor einer dramaturgischen Quadratur des Kreises steht. Ich hatte schon einmal darauf hingewiesen: Wagners Tristan besonders ist nicht ohne seine Schopenhauer-Lektüre zu verstehen. Die Liebe ist ganz und gar "Wille", d.h. bewegt sich jenseits der Vorstellungswelt und ihres Bewußtseins. Der Wille - er ist bei Schopenhauer ein "blinder" Trieb und Drang - hebt das principium individuationis der Vorstellungswelt auf (deswegen erfüllt sich bei Wagner die Liebe letztlich im Tod, denn im Tod endet jede trennende Vorstellung und jedes Bewußtsein) und die Liebe ist entsprechend als eine Form blinder Begierde eine Gestalt des Unbewußten. Das Unbewußte ist nun aber etwas, was sich prinzipiell der dramatischen, szenischen Darstellung entzieht. Das ist das Paradox, was Wagner lösen muß. Denn szenische Präsenz heißt ja dramaturgisch: die leitenden Handlungsmotive bewußt machen, so daß sie vom Zuschauer bzw. Hörer verstanden werden. Deswegen greift Wagner hier zum Mythos und Märchen - dem Zaubertrank. Denn die Form symbolischer Andeutung gibt ihm die dramaturgische Möglichkeit, etwas, was niemals selbst als Motiv präsent sein kann, als dramatisch verständliches Motiv zumindest indirekt zu präsentieren. Das ist also ein dramaturgisch völlig schlüssiges Konzept.


    Beste Grüße
    Holger

  • Es gibt, komplementär zu Sartres Ansatz, aber auch Theorien, wonach erst der Andere uns die Möglichkeiten unserer Selbst eröffnet - und Isoldes Reflexion über "dies kleine Wörtlein und" legt es nahe, daß das principium individuationis so lange defizitär bleibt, wie nicht beide, ich und du, in Liebe zusammenfinden (in jedem Du ist ja ein darauf ausgerichtetes und davon widerscheinendes Ich mitgedacht).


    Schopenhauers Willenskonzept erlaubte, soweit ich mich erinnere, keine Befreiung in Richtung des Willensprinzips, sondern bloß ein Erlösung im Quietiv des Willens, z.B. in der ästhetischen Haltung. Der Wille ist per se blind, triebhaft und zerstörerisch. Wagner Quadratur des Kreises bestand also eigentlich darin, die Erlösung vom Willen zu einer Erklösung im Willen zu machen. Das Rauschkonzept, das ja im Liebestod ("Wogen wonniger Düfte") unmißverständlich aufgegriffen wird, betrifft ganz entscheidend das Trankmotiv, mit dem eine künstliche Übersteigerung und Vereinseitigung des Begehrens vonstatten geht.


    Das auf dem Höhepunkt abbrechende Liebesduett des zweiten Aktes illustriert diese wechselseitige Extase als sexuelle Vereinigung, deren Sinn nicht, wie in der Frau ohne Schatten, der generative Aspekt der Arterhaltung und Zeugung ist, sondern die gegenseitige Ent-Individuation im Koitus. - Wagner aber bleibt nicht dabei stehen, sondern deutet das musikalische Material von Tristans Liebesweise in Isoldes Liebestod nochmals um, und zwar in Form einer metaphysischen Überhöhung, die im Schlußbild nichts schwül Erotisches mehr assoziiert, sondern die Entäußerung des Selbst an einen Urkosmos spirituell ausmalt als eine - und das ist die eigentliche Pointe - quasi unkörperliche, verinnerlichte, transzendentale Bewegung.


    "Des Weltatems wehendes All" unterlegt dem blinden Willensprinzip höchste göttliche Attribute des Vernehmens und der Venehmbarkeit (Odem); der physische Tod spielt christlich in ein höheres Leben (der atmende Kosmos) hinüber, das zugleich wogender Ozean und ätherische Seelenspähre ist. Auch Isolde ist im Himmel eine Dame geworden ...


    Zwischen beiden Stufen, auf denen Tristans Liebesweise zum Klingen gebracht wird, steht der dritte Akt, der ja nichts anderes tut, als die Episode von Tristans Wundlager unter Isoldes ärztlicher Aufsicht aufzugreifen. Sein Sterbensverlangen, scheint mir, bietet einen weiteren Schlüssel für die berühmte Blickstelle - denn Tristan gab sich mit diesem Blick in Isoldes Hand. Daß er nicht auf das Schwert sah, heißt für mich: ihm war völlig bewußt, daß er nun sterben müsse, und sein Blick besagte: "Stoß zu! Es macht mir nichts aus, es ist mir gleichgültig". Tristan, das legt die Oper als ganzes nahe, ist Isolde immer ein Stück voraus, und die "Liebe" beider ist bloß ein Durchgangsstadium auf dem Weg, endlich sein Sein zu verlieren. Durch die Liebesverblendung gelangt Isolde schließlich auch dahin, Tristans Lebensmüdigkeit zu verstehen und zu bejahen.


    Der Liebestod steht in der Tradition der romantischen Wahnsinnsszenen, wie wir sie etwa in der Lucia di Lammermoor finden. Die entrückte weibliche Braut, zwischen Mordtat und hochzeitlichen Visionen, steht Pate für die Wiedererweckung Tristans, der doch im Fortgang von Isoldes verklärter Abschiedshymne gar keine Rolle mehr spielt, sich sozuagen ganz ins Unkörperliche ("süßer Atem") auflöst, ehe Isolde selber das Irdische abstreift. Tristan ist ein statischer, Isolde ein dynamischer Charakter. Ihre psychologische Entwicklung umspannt und überstrahlt zuletzt die Todesvisionen Tristans, der in seinem Fieberwahn keine derart versöhnliche Verklärung erfährt, sondern den weit geöffneten Toren eines finsteren Abgrunds entgegenfährt. Isolde, von Wagner mit der Assunta identifiziert, entschärft damit den metaphysischen Kern der Fabel. Die Überhöhung der weiblichen Liebesintuition aber rächt sich, denn auch Isolde stirbt allein.


    :hello:

    Zerging in Dunst das heilge römsche Reich


    - uns bliebe gleich die heilge deutsche Kunst!

  • Der Liebestod steht in der Tradition der romantischen Wahnsinnsszenen, wie wir sie etwa in der Lucia di Lammermoor finden.

    Einen inneren Zusammenhang sehe ich allerdings nicht.
    Lucia wehrt sich mit dem Messer gegen den Vergewaltigungsversuch eines ihr aufgezwungenen Ehemanns und findet sich als unfreiwillige Mörderin wieder, was ihre psychischen Kräfte übersteigt.
    Diese Verkettung unglücklicher Umstände führen meine Gedanken eher zu La forza del destino als zu Tristan und Isode.
    Daneben findet sich in Donizettis Oper eine große Portion Gesellschaftskritik.



    Die Überhöhung der weiblichen Liebesintuition aber rächt sich, denn auch Isolde stirbt allein.

    Das empfinde ich anders. Der Text des Liebestods gibt mir für Deine Ansicht keine Hinweise.
    Ich sehe Isoldes Ertrinken und Versinken als ein Nachfolgen wie es beim Tod Kurwenals schon angedeutet wird: "Tristan! Trauter! Schilt mich nicht, dass der Treue auch mitkommt."


    So gesehen ist der Liebestod nicht nur ein Ende, sondern auch ein Anfang.

  • Er hat halt keinen Zugang zu TRISTAN, das ist alles


    Ein absoluter Tristan-Fan hat einmal zu mir gesagt: "Entweder man mag den Tristan oder man mag ihn nicht. Es gibt kein Zwischending." Dem habe ich mich angeschlossen und bin bis heute dabei geblieben, allen philosophischen Deutungen zum Trotz. Ich mag diese Oper.


    La Roche

    Ich streite für die Schönheit und den edlen Anstand des Theaters. Mit dieser Parole im Herzen leb' ich mein Leben für das Theater, und ich werde weiterleben in den Annalen seiner Geschichte!

    Zitat des Theaterdirektors La Roche aus Capriccio von Richard Strauss.

  • Im Anschluß an Holgers letzten, wie ich finde, ausgezeichneten Beitrag gestatte ich mir, meinen - weniger Wagner-freundlichen - Standpunkt zu schärfen.


    Zunächst bietet der Tristan eine wohlmotivierte äußere Handlung. Mitten im Geschehen einsetzend, erblicken wir die Brautfahrt einer irischen Königstochter und erfahren von den näheren Umständen, zumal der verwickelten Vorgeschichte der Beziehungen zwischen Braut und Brautwerber, der nicht in eigener Sache handelnd das hohe Fräulein heimführt, sondern sie seinem König zubestimmt.


    Isoldes verräterischen Geständnissen über ihre Gefühle und Motive vor und während der Reise steht Tristans vielsagende Schweigsamkeit gegenüber. Ich denke, ohne Holger bei der Deutung der Krankenbett- und Blickszene zu widersprechen, daß auf beiden Seiten früh eine (unausgesprochene) erotische Spannung ins Spiel kommt, die Tristan wie Isolde dazu verlanlaßt, sich einander vom Hals zu schaffen, um voneinander loszukommen.


    Daß eine Frau sich in den Mörder ihres Verlobten verliebt, ist, wenn man entsprechende Hollywoodfilme berücksichtigt, offenbar keine ganz abwegige Vorstellung. Daß sich ein Mann der Frau, die er liebt, unwürdig findet (oder daß er, was auf dasselbe hinausläuft, sich in die Verlobte seines besten Freundes verliebt) ist ebenfalls melodramatischer Urschleim.


    Im Gegesatz zur hysterischen Isolde gleicht Tristan einem Mann, der über seine Gefühle nicht spricht. Aber auch Isolde verbirgt ihr Innerstes, nämlich die Ambivalenz der von Haß in Liebe umschlagenden Wallungen.


    So weit, so einleuchtend wäre die Oper psychologisch zu verstehen. Da nun schaltet Wagner ein zweite Ebene ein. Denn statt des endlich ausgeräumten Mißverständnisses zweier stolzer Liebender, die einander gegenseitig das Eingeständnis ihrer Liebe zu entringen trachten, ohne selbst etwas davon preiszugeben, bricht zwischen Tristan und Isolde eine nicht mehr psychologische, individuell motivierbare Leidenschaft aus, sondern eine metaphysische Abstraktion davon. Wenn Schopenhauer sich den Willen unendlich dachte, war damit nicht gemeint, daß diese Unendlichkeit eines Prinzips dem Individuum widerfährt. Von hier an sieht die Oper nur noch wie Psychologie aus; in Wahrheit setzen sich die Protagonisten allen Ernstes auch theoretisch mit ihrer begrifflich verordneten Passion auseinander.


    Nicht zufällig ähneln Tristan und Isolde gereiften Herrschaften, die spät und auf der Grundlage eingehender Selbst-Erforschungen ein sexueller Frühling ereilt, den sie nicht aneinander, sondern aneinander vorbei erleben wie bei einer anonymen Paar-Analyse. Sie erfahren kein Begehren, sondern eine Theorie davon. Das Maß der subjektiven Begehrungsfähigkeiten ist bei beiden vorübergehend aufgehoben, das Ziel- und Grenzenlose der amorphen Libido, also etwas Formales, wird zum Erlebnis, einem Gehalt, substituiert.


    Aber wenn mir dann Hören und Sehen vergeht -
    wo ist dann dein Bub?


    so lautete es scheinheilig naiv im Rosenkavalier. Tristan und Isolde halten sich mit dergleichen gar nicht erst auf, sie wollen den Rausch, daß ihnen Hören und Sehen vergeht, die Narkose bei vollem Bewußtsein erleben und mitvollziehen:


    So stürben wir, um ungetrennt
    ewig einig ohne End
    ... namenlos in Lieb umfangen
    ganz uns selbst gegeben
    der Liebe nur zu leben


    Für mich ist diese Psychologisierung von Metaphysik - zumal in den Ausmaßen der reflexiv erörternden Dialogpassagen - ein fragwürdiges dramaturgisches Vorgehen. Die Figuren, die Motivation der Story, die hochemotionale Musik laden immer wieder zur Identifikation ein. Aber statt zweier Schicksale hat man nur Mitgefühl für ein Theorem empfunden. Ein Leiden, das bloß Ausdrucks eines leidenden Prinzps ist, schlägt in Rhetorik um. Genau hierin gründet übrigens auch die Funktion des Trankes - der Umschlag individuellen Sehnens in das Begehren schlechthin.


    Holger und die meisten anderen hier finden diese Art der Figurenführung sicherlich faszinierend und neuartige Wege beschreitend. Für mich ist schon viel gewonnen, wenn man bei seiner Argumentation wenigstens die unvereinbaren Ebenen auseinanderhält.


    :hello:

    Zerging in Dunst das heilge römsche Reich


    - uns bliebe gleich die heilge deutsche Kunst!

  • So weit, so einleuchtend wäre die Oper psychologisch zu verstehen. Da nun schaltet Wagner ein zweite Ebene ein. Denn statt des endlich ausgeräumten Mißverständnisses zweier stolzer Liebender, die einander gegenseitig das Eingeständnis ihrer Liebe zu entringen trachten, ohne selbst etwas davon preiszugeben, bricht zwischen Tristan und Isolde eine nicht mehr psychologische, individuell motivierbare Leidenschaft aus, sondern eine metaphysische Abstraktion davon.


    Und wie wäre es dann weitergegangen, nach dem ausgeräumten Missvertändnis?


    Eine Schlafrock und Zipfelmützenstory? Woher noch die Motivation für die Ekstase nehmen?


    Warum übrigens, legt man bei Wagner andere Maßstäbe an als bei anderen Komponisten?
    Welches Mädchen lässt sich denn anstelle des Geliebten erstechen, kurz nachdem es erfahren hat, was für ein mieser Typ er ist? (Rigoletto)
    Welche normale Frau wirft schon kleine Kinder ins Feuer und tut zwanzig Jahre später nichts dazu, ihren Pflegesohn zu retten. (Il trovatore)


    Und Donna Anna? Die erkennt den Mörder ihres Vaters am - man höre und staune - "amici, addio". Waren das Don Giovannis letzte Worte an der Leiche des Komturs?


    Von Cosi fan tutte, und er Zauberflöte gar nicht zu reden.


    Wie wichtig ist überhaupt die psychologische Glaubwürdigkeit eines Sujets?
    Mein Tristan-Erfahrung vom Stockholm der 70er-Jahre: warum standen die Leute Schlange?


    1) Birgit Nilsson
    2) festlicher Opernbesuch
    3) Wagners Musik
    4) Gutes Orchester und Dirigent
    5) die Handlung
    .......
    und dann irgendwo der Text und weil deutsch gesungen wurde, haben ihn die Wenigsten verstanden.


    Kann man Wagner nur noch genießen, wenn die Musik zweitrangig wird und die Psychologie ins Zentrum rückt, dann disqualifiziert man ihn als Musiker und ist sich selbst im Weg.
    Niemand verlangt schließlich, dass seine Werke als Theaterstücke auf die Bühne kommen.

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  • Es gibt, komplementär zu Sartres Ansatz, aber auch Theorien, wonach erst der Andere uns die Möglichkeiten unserer Selbst eröffnet - und Isoldes Reflexion über "dies kleine Wörtlein und" legt es nahe, daß das principium individuationis so lange defizitär bleibt, wie nicht beide, ich und du, in Liebe zusammenfinden (in jedem Du ist ja ein darauf ausgerichtetes und davon widerscheinendes Ich mitgedacht).

    Lieber Farinelli,


    besten Danke für Deinen wunderbaren, ungemein geistvollen Beitrag - den ich natürlich nicht einfach erschöpfend beantwortend kann, dazu ist er viel zu beziehungsreich und es ist viel schöner, ihn als Anregung für weiteres Nachdenken aufzunehmen. Deshalb nur einige Bemerkungen - und auf Deinen zweiten komme ich gleich noch zurück.


    Sartres Blick ist ja nicht nur negativ, sondern sehr ambivalent. Der Blick raubt uns zwar die Freiheit. Aber der Gebrauch der Freiheit ist zumeist der der "mauvaise foi", der "Unwahrhaftigkeit". Wer belügen uns ständig selbst. Der fesselnde Blick dagegen enthüllt die Wahrheit, das, was wir eigentlich sind, aber nicht wahrhaben wollen. Der ertappte Eifersüchtige - im bannenden Blick ist er nichts als Eifersucht und kann vor dieser bitteren Wahrheit nicht mehr davonlaufen, sich nichts mehr vormachen durch seine Freiheit des Entwurfs, durch den er sich ständig selbst zu einem Anderen macht, als er eigentlich ist. ("Ich bin der, der ich nicht bin und nicht der, der ich bin.") Ohne den Anderen gibt es keine wirkliche Selbsterkenntnis, das ist Sartres Korrektur des Idealismus. Insofern sehe ich da eine Parallele zu Isolde: Ist sie in ihrem Haß und ihrer Tötungsabsicht nicht in einem "Wahn" befangen (mit Schopenhauer: dem Wahn der Vorstellungswelt), von dem sie der Blick Tristans schließlich befreit? Es kommt das Mitleid als das "Rein-Menschliche" (Wagners Begriff) zum Vorschein, die wahre menschliche Natur, welche die geselllschaftliche Existenz mit ihren Regeln und Konventionen, ihren Rollen und Ritualen, zu denen auch Rache und Haß gehören, als wahnhaft erscheinen lassen.



    Schopenhauers Willenskonzept erlaubte, soweit ich mich erinnere, keine Befreiung in Richtung des Willensprinzips, sondern bloß ein Erlösung im Quietiv des Willens, z.B. in der ästhetischen Haltung. Der Wille ist per se blind, triebhaft und zerstörerisch. Wagner Quadratur des Kreises bestand also eigentlich darin, die Erlösung vom Willen zu einer Erklösung im Willen zu machen. Das Rauschkonzept, das ja im Liebestod ("Wogen wonniger Düfte") unmißverständlich aufgegriffen wird, betrifft ganz entscheidend das Trankmotiv, mit dem eine künstliche Übersteigerung und Vereinseitigung des Begehrens vonstatten geht.

    Das "Quietiv des Willens" heißt nach Schopenhauer, daß "der Wille frei sich selbst aufhebt". Zum Willen, den Schopenhauer als "Wille zum Leben" faßt, gehört die Selbstaffirmation, die Möglichkeit der Selbstbejahung oder Selbstverneinung. Insofern ist die Erlösung vom Willen immer eine Erlösung im Willen - denn der Wille ist ja ein freier Wille, er kann also nicht "von außen" negiert werden, sondern nur durch sich selbst. Verneinung heißt bei Schopenhauer, "sein ganzes vorhandenes Streben zu verneinen". Nun hat Wagner Schopenhauer aber in der Tat umgedeutet. Die Entsagung und Resigation ist bei Schopenhauer das Resultat einer Erkenntnis der "Idee" der Welt - das ist also sehr intellektualistisch gedacht. Bei Wagner dagegen vollzieht sich die Entsagung durch den Rausch der Liebe, einen Fatalismus blinder Leidenschaft. Schopenhauer denkt ganz anders beim Aushängen des Willens nicht zuletzt an den Buddhismus, also eine "Erleuchtung". Und auch bei der Kunst sind es ja die ewigen Ideen, welche das Quietiv ausmachen, also eine "Objektivation" desWillens in einer besonderen Art der Vorstellung und Erkenntnis.



    Daß der Schluß von "Tristan und Isolde" metaphysisch ist, keine Frage. Aber es ist auch eine Apotheose von sinnlicher Lust, in der das Subjekt geradezu badet. Ist es nicht letztlch die Musik selber, in die sich alles auflöst als eine geistige Sinnlichkeit und sinnliche Geistigkeit? Musik als metaphysische Sinnlichkeit, als höchste Form der Harmonie?


    Die Blickszene: Wie Isolde das beschreibt, scheint mir Tristan nicht trotzig zu schauen sondern eher hilflos. Wie sollte er denn sonst auch Mitleid erwecken? Das ist eine Frage, wie weit man hier "psychologisieren" darf. Dazu gleich mehr! :hello:


    Beste Grüße
    Holger

  • Lieber Farinelli,


    die Frage, wie weit man mit dem "Psychologisieren" gehen darf, betrifft letztlich die Ästhetik. Man kann ein Kunstwerk ja in verschiedenen Einstellungen betrachten. Eine Psychoanalyse der Charaktere kann sehr spannende Dinge zu Tage fördern, aber ist das auch ästhetisch relevant, ist die Frage. Dramentheoretisch kann man immer das Rasiermesser ansetzen und sagen: Nur diejenigen Motive sind relevant für das Verständnis des Dramas, welche auch wirklich erkennbar die Handlung motivieren. Alles andere wären dann geistreiche Spekulationen, die sich der Rezipient natürlich erlauben darf. Aber der Ästhetiker darf dann fragen: Ist das noch im Sinne des Verständnisses des Kunstwerks und seiner Intention?


    Das Problem mit dem "Theoretischen". Ich hatte schon einmal darauf hingewiesen, daß es in der Romantik die Tendenz gibt, die Gefühlssphäre insgesamt zu ästhetisieren. Die Romantiker sprechen von "Kunstgefühlen", um sich vom gewöhnlichen Sensualismus abzusetzen. Was Du schreibst, trifft sicher einen wesentlichen Grundzug Wagners: diese Art des Erlebens ist sehr artifiziell. Die Frage ist nur, ob man dieses artifizielle Erleben am "natürlichen" Erleben und seiner "Psychologie" überhaupt messen darf. Wenn man das tut, erscheint es leicht als theoretisch-abstrakt. Ich würde sagen: Wagner steht in dieser Frage einem Baudelaire nicht so fern mit seinem Versuch, ein "artifizielles Paradies" zu errichten. Das ist alles durch und durch fiktiv. Aber genau darin liegt das Berauschende, die Erlösung in Wagners Sinne. Das ist mit Nietzsche gesprochen eine "Artistenmetaphysik", ein ziemlich maßloser Ästhetizismus letztlich. Aber genau so gewollt. Man muß sich in gewissem Sinne von dieser Musik verführen lassen, in diese Scheinwelt "verlieren", um das eben nicht als "theoretisch" zu empfinden. Wir sind heute natürlich dieser Unbedarftheit gegenüber, den Schein für das Sein zu nehmen, skeptisch geworden. Insofern müssen wir uns einen "Ruck" geben, uns darauf einzulassen. Keine Frage. Aber warum sollten wir uns dem denn völlig versagen? Ab und zu darf man auch mal in ein ästhetisches Paradies flüchten! :hello:


    Schöne Grüße
    Holger

  • Ich muss gestehen ich konnte am Anfang auch nicht viel mit Tristan anfangen. Aber angeregt durch die sehr interessanate Diskussion im Salome Thread, habe ich mich mehr mit dem Hintergrund der Oper und der Symbolik befasst. Außerdam habe ich mir von einem Bekannten der Musik studiert, die Noten geben lassen. Und seit dem ich immer mehr verstehe gefällt mir die Oper immer besser. Zugegegeben meine Lieblings Wagneroper wird sie nie werden. Mit dem Hintergrundwissen das ich habe kann ich die Oper einfach besser genießen und auch verstehen.

  • Der Tristan war neben der Walküre die Wagner-Oper, die mir am schwersten zugänglich war. Heute fragt man sich, warum. Vielleicht ist es die Reduzierung auf sehr wenige Figuren. An der Musik kann es definitiv nicht liegen. Natürlich braucht es in jedem Fall adäquate Rolleninterpreten. Wird die Isolde von der Nilsson und der Tristan von Vickers gesungen, kann nichts schiefgehen.

    »Und besser ist's: verdienen und nicht haben,

    Als zu besitzen unverdiente Gaben.«

    – Luís de Camões

  • Hallo,


    mit der mehrfach hier geäußerten Meinung, Isolde hätte aus Mitleid "Tantris" gesund gepflegt, kann ich überhaupt nicht einig gehen:


    Wenn einer Frau der Verlobte von einem Mann getötet wird, der nun sterbensverwundet vor ihr liegt und ihr in die Augen blickt (nicht auf das Schwert, das sie in Händen hält!) , dann kann die Reaktion der Frau ihn gesund zu pflegen nicht Mitleid sein, auch nicht der Wunsch, ihn nach der Gesundung los zu werden, um seinen Blick nicht mehr ertragen zu müssen; nein, es kann nur tiefe, ihr selbst noch nicht bewusste Liebe sein, die sie sich noch nicht eingestehen kann. Wäre es nur Mitleid, wie klein müsste ihre Liebe zu ihrem getöteten Verlobten gewesen sein, um dem Wunsch nach Rache nicht nachzukommen.


    Und warum wohl geht Tristan auf der Schiffsüberfahrt zu Marke so auf Distanz zu Isolde, dass es deren Befehl braucht, um ihn als "Vasallen" zu sich zu beordern? Und Isolde antwortet Brangäne, als diese ihr Marke "schmackhaft" machen will: "Ungeminnt dem hehrsten Mann (sie meint Tristan!) stets mir nah zu sein - wie könnt' ich die Qual bestehen!"


    Sühne trinken: Beide wollen den Tod, aber nicht weil sie des Lebens überdrüssig sind, sondern weil sie dieses zu erwartende Leben nicht leben wollen.


    Entkleidet aller operndramaturgischen Effekte geht es um die tiefe Liebe zweier Menschen, die willentlich nicht zu überwinden ist, was aufgrund der gegebenen Situation notwendig wäre.


    Wagner reißt diese tiefe Liebe in so extreme (unmenschliche) Höhen, dass nur deren beider Tod die Lösung sein kann. Hätten Beide von der Verzeihung Markes gewusst - nicht weil es sich lt. Text um zauberische Liebe handelt - eine Metapher! - sondern weil Marke die späte Einsicht gewonnen hat, dass "gegen die [(den Zauber der!)] Liebe kein Kraut gewachsen ist" (wie der Volksmund sagt) - dann hätte Isolde ihren Tristan "mit dem Zauber ihrer beider Liebe" erneut "gesund machen" können und Isolde wäre der Liebestod erspart geblieben.


    Liebestod - weswegen ich die Nürnberger Inszenierung stimmig finde - Tristan steht hinter Isolde (sie fast umfangend), während sie den Liebestod singt.


    Viele Grüße
    zweiterbass



    Nachsatz: Ich sehe dieses Libretto fern aller ästhetischen, philosophischen, psychologischen oder sonst wie gearteten Betrachtung - und Tristan und Isolde (anders als manch andere Protagonisten in Wagneropern) auch nicht als Bühnenfiguren, sondern als leibhaftige Menschen.

    Wer die Musik sich erkiest, hat ein himmlisch Gut bekommen (gewonnen)... Eduard Mörike/Hugo Distler

  • Nachsatz: Ich sehe dieses Libretto fern aller ästhetischen, philosophischen oder sonst wie gearteten Betrachtung - und Tristan und Isolde (anders als manch andere Protagonisten in Wagneropern) auch nicht als Bühnenfiguren, sondern als leibhaftige Menschen.


    LieberZweiterbass,


    vielleicht ist hier der Wunsch der Vater des Gedankens.


    Adorno hat jedenfalls eine Sichtweise, die man nicht so ohne Weiteres abtun kann.


    Er meint, während das menschliche Leiden bei Schopenhauer gerade in seiner Armseligkeit als Erscheinung mit ganzem Ernst erscheint, wird es bei Wagner bagatellisiert durch seine Größe. (Auch meine Meinung, wenngeich hier Adorno in Verdacht gerät, Wagner als Vorläufer der nazionalsozialistischen Philosophie zu sehen)


    "Jene siechen, bleichen Helden Wagners, Tannhäuser, der Tristan des dritten Akts, Amfortas sind solche Symbole und noch ihre Blässe ist mehr die Schutzfarbe des verzehrenden unendichen Dranges als das Anzeichen der endlichen Qual menschlichen Elends".


    Und weiter: "Viele der Wagnerschen Helden sterben ohne physischen Schmerz, ja überhaupt ohne andere Begründung als die der Idee."


    Dass neben Mitleid ein unbewusstes Element Isoldes Handeln bestimmt, finde ich dagegen plausibel, auch wenn ich nicht glaube, dass der Gedanke an Morold hier eine Rolle spielt.

  • Zitat von Joseph II.

    Der Tristan war neben der Walküre die Wagner-Oper, die mir am schwersten zugänglich war.

    Ja, der TRISTAN! Da tue ich mich im Gegensatz zur WALKÜRE, die ich sehr liebe, außerordentlich schwer. Ich besitze u. A. die Aufnahme unter Fritz Reiner, hörte sie mir auch zweimal an, hatte aber Mühe bis zum Ende durchzuhalten. Vielleicht kommt die Erleuchtung und die Liebe zu dieser Oper beim dritten- oder viertenmal! :whistling:

    W.S.

  • Diese Sammlung von Beiträgen aus einem anderen Wagner-Thread soll als Startpunkt für weitere Diskussionen über Wagners Tristan und Isolde dienen. Erstaunlicherweise gibt es ja noch keinen eigenen Thread, der sich ausschließlich mit dem Inhalt des Werks auseinander setzt.


    :hello:

    Ciao


    Von Herzen - Möge es wieder - Zu Herzen gehn!


  • Das Autograph der Oper "Tristan und Isolde" liegt in Faksimile vor. Das Nationalarchiv der Richard-Wagner-Stiftung Bayreuth und der Bärenreiter-Verlag haben es herausgebracht. Mehr in der Produktinformation. Der hohe Preis ist gerechtfertigt, denn der Aufwand, der für die Herausgabe betrieben wird, ist enorm.


    Es wundert mich, dass es erst seit 7. Januar 2013 im Taminoforum einen "Tristan und Isolde"-Thread gibt. Oder habe ich da etwas übersehen?


    Nur die Zusammenfassung der Handlung habe ich gefunden. WAGNER, Richard: TRISTAN UND ISOLDE
    .

    Vor Schuberts Musik stürzt die Träne aus dem Auge, ohne erst die Seele zu befragen:
    so unbildlich und real fällt sie in uns ein. Wir weinen, ohne zu wissen warum; Theodor W. Adorno - 1928




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