Karajans Ästhetik - seelenlos? - Verwandte Ansätze in anderen Bereichen und Kulturen

  • Man wirft mir immer wieder die Ideen für Threads vor die Füsse - ohne sie selbst zu starten.
    Ich selbst habe beim Start dieses Threads ein zwiespältiges Gefühl - kann aber mein Interesse am Thema nicht verhehlen.
    Im Thread
    Was ist dran an Karajan ? - Versuch einer Analyse
    wurde die Frage aufgeworfen, ob es Parallelen zwischen Karajans musikalischer Ästhetik und jener von Leni Rieffenstahl gäbe - und prompt wurden die beiden ästhetischen Ansätze als "seelenlos" bezeichnet. Sooo einfach sollte man es sich aber nicht machen...


    Ich überlasse Euch fürs erste den Thread zur freien Verfügung.

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Ich finde den Vergleich interessant. Allerdings ist er auch gefährlich (und ich las auch, dass MSchenk darauf hinwies, dass dem so wäre).


    Die Frage ist, ob man mit so einem Vergleich nicht gerade denjenigen Leuten, die Karajan ohnehin gerne in die Nähe des Nationalsozialismus rücken wollen (m. E. war er sicher kein Nazi, allenfalls ein Profiteur; Nachteile brachte ihm dies unmittelbar nach dem Krieg dennoch), zusätzliches Material hierfür liefert.


    Jedenfalls fand Karajans ganz große Karriere erst nach dem Krieg statt (Hitler soll ihn ja nicht sonderlich gemocht haben), während es bei der Riefenstahl (die Hitler schätzte) sicher die Zeit bis 1945 war, auch wenn sie danach nicht vergessen war.

    »Und besser ist's: verdienen und nicht haben,

    Als zu besitzen unverdiente Gaben.«

    – Luís de Camões

  • Zitat

    Die Frage ist, ob man mit so einem Vergleich nicht gerade denjenigen Leuten, die Karajan ohnehin gerne in die Nähe des Nationalsozialismus rücken wollen (m. E. war er sicher kein Nazi, allenfalls ein Profiteur; Nachteile brachte ihm dies unmittelbar nach dem Krieg dennoch), zusätzliches Material hierfür liefert.


    Diese Leute brauchen das nicht - die haben ohnedies ihre vorgefasste Meinung.
    Aber Karajans Ruf - das hat die Vergangenheit gezeigt - ist davon unbeeinträchtigt geblieben.
    Er ist weitgehend sacrosankt.
    Während - und hier ist schon der erste Unterschied - Leni Rieffenstahl nach dem Krieg in einigen Ländern geächtet war und boykottiert wurde - war Karajan bei Politikern aller Herrn Länder der Hahn im Korb.
    Wir müssen hier fürs erste mal klären OB die Behauptung überhaupt stimmt - und wenn ja
    INWIEWEIT es hier Parallelen gibt - und WARUM


    Dann kann man sich damit auseinandersetzen, weshalb beide ästhetischen Ansätze scheinbar so erfolgreich waren,
    woher sie stammen und wer sich noch ähnlicher Methoden (wenn man das überhaupt so sagen kann) bedient hat.


    Ich bitte aber stets im Auge zu behalten, daß KARAJAN der Punkt ist um den sich der gesamte Thread dreht.


    mit freundlichen Grüßen aus Wien


    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • wurde die Frage aufgeworfen, ob es Parallelen zwischen Karajans musikalischer Ästhetik und jener von Leni Rieffenstahl gäbe - und prompt wurden die beiden ästhetischen Ansätze als "seelenlos" bezeichnet.

    Lieber Alfred,


    dieser Denkansatz ist im Prinzip überhaupt nicht neu. In der Romantik gibt es die Kritik der klassischen Schönheit als "seelenlos". Die Winckelmannschen weißen Statuen haben keinen Blick, bemängelt die christliche Romantik. Wenn man Ähnliches Karajan vorhält, nur weil er Ästhet ist, finde ich das deshalb nicht besonders geistreich. Was an Karajans Dirigieren soll also seelenlos sein? Daß er überhaupt Ästhet ist? Oder eine spezifische Karajan-Ästhetik? Worin besteht denn die genau? Der Vergleich mit Leni Rieffenstahl ist ein bisschen abenteuerlich finde ich. Wie klingt denn ein faschistischer Beethoven bzw. ein Beethoven mit faschistischer Ästhetik? Karajan war freilich ein Orchestertyrann. Aber das war Toscanini ganz genauso. Und der war bekanntlich Antifaschist. So kommt man jedenfalls an das Phänomen Karajan nicht heran.


    Schöne Grüße
    Holger

  • Man wirft mir immer wieder die Ideen für Threads vor die Füsse - ohne sie selbst zu starten.

    Zugegeben verließ mich dann doch der Mut, da ich weder ein ausgewiesener Karajan-Experte bin, noch im filmischen Schaffen Riefenstahls besonders bewandert ...



    Wir müssen hier fürs erste mal klären OB die Behauptung überhaupt stimmt - und wenn ja INWIEWEIT es hier Parallelen gibt - und WARUM

    Trotz der oben gemachten Einschränkung möchte ich mich nun auch nicht "der Feigheit vor dem Feind" bezichtigen lassen; also: Zum einen wäre die visuelle Ebene zu benennen, welche etwa in den filmischen Wiedergaben Karajanscher Interpretationen zum Tragen kommt und zum anderen natürlich die musikalisch-interpretatorische Ebene. In beiden Fällen scheint mir, arbeitet vor allem der späte Karajan auf eine Form absoluter Schönheit oder Makellosigkeit hin, die mir allein in seinem fraglos exorbitanten Willen zur Perfektion nicht ausreichend begründet erscheint. - Wäre es anders, d.h. wäre es Karajan tatsächlich "nur" um Perfektion gegangen, wäre dies m.E. ein interpretatorisches Armutszeugnis. Was wohl definitiv seinem Drang hin zur Perfektion geschuldet ist, dass er jeweils die neuesten technischen Mittel eingesetzt hat (einsetzen konnte).


    Nun meine ich, den Ansatz makelloser Schönheit eben auch in den Werken Riefenstahls wiederzufinden. Und auch sie hat sich m.W. der jeweils neuesten film-technischen Mittel bedient.


    Wenn ich aber bei Karajan behaupte, sein Drang zur Perfektion ist Resultat einer tiefer liegenden - eventuell sogar psychologisch begründbaren - Disposition, so muss ich dies konsequenterweise auch für Riefenstahl annehmen. Damit läge aber sogar eine gewisse Form von Wesensverwandtschaft vor.

    mfG Michael


    Eine Meinungsäußerung ist noch kein Diskurs, eine Behauptung noch kein Argument und ein Argument noch kein Beweis.

  • Nun meine ich, den Ansatz makelloser Schönheit eben auch in den Werken Riefenstahls wiederzufinden. Und auch sie hat sich m.W. der jeweils neuesten film-technischen Mittel bedient.

    ... und in einer antiken Statue findet sie sich genauso oder einem klassizistischen Gebäude. Das ist als Vergleichsmaßstab viel zu allgemein. Wodurch unterscheidet sich denn eine Breker-Statue von ihrem antiken Vorbild? Die klassische Schönheit ist individuell, während das totalitäre Schönheitsideal monumentalisiert und das Individuelle negiert und ins Un- und Überpersönliche wendet. Kann man Analoges wirklich Karajans Beethoven-Interpretationen vorhalten? Ich glaube kaum. Und daß die Regie damals den Dirigenten im Blick hat und nicht den einzelnen Musiker, entspricht der allgemein verbreiteten Auffassung vom Dirigenten damals. Da ist Karajan überhaupt nicht alleine. Nur wurden die anderen nicht so schön gefilmt.


    Beste Grüße
    Holger

  • Celi und Karajan, das Gegenpaar. Dazu fällt mir ein interessantes Videointerview mit ersterem ein, wo er sich über letzteren äußert:



    Seeeehr despektierlich. :D

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    – Luís de Camões

  • Karajan war freilich ein Orchestertyrann. Aber das war Toscanini ganz genauso.


    Nein, Karajan ist nicht annähernd mit Toscanini vergleichbar! Es gibt einige Probenmitschnitte, die zeigen, dass Karajan ein konsequenter Prober mit klaren Vorstellungen war, der auch die Überzeugungskraft und das Durchsetzungsvermögen hatte, seine Vorstellungen zu realisieren; er war dabei aber weit von einem Pulttyrannen entfernt; so hätte auch nicht die umfangreiche Zusammenarbeit mit dem Philharmonia Orchester funktioniert, auch die Wiener Philharmoniker sind bekanntlich allergisch auf Pulttyrannen - man denke an ihre "Probleme" mit Arturo Toscanini und Fritz Reiner...).

    Ciao


    Von Herzen - Möge es wieder - Zu Herzen gehn!


  • Also - obwohl sehr verschieden - Es sind BEIDES - sehr ästhetische Einspielungen, die bei allem Feuer nie aus der Kontrolle geraten.
    Aber kommen wir zu Karajas Schönheitsideal und was er mit Lini Riefenstahl gemeinsam hat.


    Zunächst waren mal BEIDE Perfektionisten, die nicht nur wussten was sie vermitteln WOLLTEN , sondern die das auch KONNTEN.


    Solche Menschen ziehen natürlich auch stets Leute an, die sich dieser Kunstfertigkeit "bemächtigen" wollen, ich meine das im Sinne von "davon profitieren"
    Das können Schallplattenfirmen, Filmgesellschaften, auch Automarken, die die Künstler für Werbespots einsetzen - oder aber auch Politiker sein.
    Künstler auf diesem Level bemerken oft gar nicht, wenn sie "mißbraucht" werden - oder aber - es ist ihnen einfach egal, weil für sie nur die Kunst zählt - alles andere ist ihnen egal.
    Morgen nachmittag oder abend. werde ich versuchen zu ergründen welche Art von Ästhetik die beiden (angeblich ?) verband - was viele Menschen so faszinierend an ihrer Kunst fanden -und was manche daran verstört


    mfg aus Wien
    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Tamino Beethoven_Moedling Banner
  • Zunächst wollte ich ja auch im anderen Thread (zu Karajans Gunsten) einwerfen, dass man die möglicherweise an Riefenstahl erinnernde Bildästhetik der von Karajan selbst geschnittenen Filme nicht mit seiner musikalischen Ästhetik verwechseln dürfe. Ganz sicher bin ich mir da aber nicht.
    Allerdings wäre es mir lieber, wenn er sich völlig aus der Bildregie beim Abfilmen von Konzerten herausgehalten hätte. Die Art, wie er die Musiker da mittels optischer Rhythmik und durch Unschärfe anonymisiert abfilmen liess, macht ihn angreifbar, ebenso wie er sich selbst darstellte. Ich weiss nicht, ob jemand hier einmal seine Orchesterverfilmung des Gewitters aus Beethovens Pastorale gesehen hat. Die Musiker wurden da derart geometrisch hingesetzt und vom Dach aus abgefilmt....ich mag das nicht. Die sicherlicher von ihm inspirierte Orchesteraufstellung erzeugt da bei mir militärische Assoziationen - ein machtvolles Klangkollektiv, bei dem der Einzelne nichts, der visualiserte Wille des Dirigenten aber alles ist.


    Beim Gewitter der 6. wendet er dann ungewohnte Perspektiven und schnelle, mit der Musik einhergehende Bildschnitte an. Durch eine solche Videoarbeit macht er sich für meinen Geschmack den tollen Eindruck, den sein in diesem Satz doch sehr beeindruckendes Dirigat hervorruft selbst wieder kaputt.
    Seine Beethoveninterpretationen mag ich also teilweise sehr - allerdings höre ich sie mir dann auf CD an und muss diese Bildsprache in der Tat nicht dazuhaben. Celibidache sagt in dem Interview, dass der begabte junge Mensch Karajan an seiner masslosen Eitelkeit erkrankt sei. Ich wünschte mir, es gäbe diese eigenen Filmregiearbeiten Karajans besser nicht (die Orchesterfilme wie das oben gepostete Tschaikowsky-Beispiel meine ich), dann könnte ich ihm als jemand, der froh ist, viele Karajan-Aufnahmen zu besitzen, leichter widersprechen. Er hätte es anderen überlassen sollen.


    Den schlüssigen Ausführungen Holgers zum Thema Ästhetik allgemein und bei Karajan stimme ich im Übrigen sehr zu.


    Er stellte auch die Frage nach der musikalischen Ästhetik des Dirigenten Karajan. Da fällt mir zunächst einmal ein, dass er sich erst einmal eine Klangqualität in der Probe erarbeitete, bevor er anfing mit Dynamik, Phrasierung, Tempo und den anderen Parameter zu arbeiten. Da ich selbst im Dirigierunterricht sitze, fällt mir immer auf, dass die angehenden Kollegen diesen Punkt so gut wie nie beachten. Es geht gleich immer los mit...."ja, von Takt 6 ab mehr Richtung..." oder so etwas. Aber was hilft dieses Herumdoktern, wenn der Klang bescheiden ist, die Stimmen oder Instrumente inhomogen oder hässlich klingen?
    Für mich ist da Karajans Ansatz in diesem Punkt sehr vorbildlich.


    Dann ist bei Karajan natürlich der Legatostrom zu nennen. Dieser kann herrlich klingen, Zusammenhänge schaffen, dem dramaturgischem Ablauf dienlich sein, uvm. Bei bestimmter Musik kann es jedoch auch entstellend wirken, weil die nun einmal auf der Basis anderer ästhetischer Prinzipien, wie z.B. der reich artikulierten gestischen Klangrede, komponiert wurde.


    Zudem konnten die Streicher bei ihm besonders warm und energiereich und die Bläser besonders strahlend klingen. Seinem Sibelius, seinem Wagner, durchaus auch seinem Beethoven, Bruckner und Brahms konnte das guttun. Generell zu sprechen fällt hier schwer - es gibt auch herrliche Stellen bei Brahms, in denen er einfach nur durch Drücken und Ziehen über viele Schönheiten hinweggeht, die bei manchen Kollegen dann wesentlich schöner, weil ausgearbeiter und menschlischer klingen.
    Den bei aller Schönheit auch erstaunlich durchsichtigen Klang, den er mit den Wiener Philharmonikern bei Bruckner hatte, finde ich an vielen Stellen fast überzeugender als den dickeren Klang, den er mit den Berlinern erreichte.


    Seine Fähigkeit, einen grossen Bogen vom ersten bis zur letzten Note einer Symphonie zu spannen, möchte ich auch noch erwähnen. Ich glaube, dass er in diesem Punkt unerreicht ist, und das dieser Aspekt heute unterbewertet wird.


    Noch zu dem von Holger geposteten Vergleich: Hier finde ich Celibidaches Interpretation wesentlich ansprechender, verständlicher, menschlicher. Ich wollte nur kurz hineinhören/sehen, konnte aber einfach nicht stoppen, weil mir da eine Geschichte erzählt wurde. Karajans Interpretation wirkte auf mich da im Vergleich recht einfalls- und leblos, und die Bildästhetik berührt mich manchmal peinlich. Hier musste ich mich zum Weiterhören fast schon zwingen. Ich kannte Karajans Interpretation nicht, habe sie mir aber nach dem Celi-Film kurz vorgestellt. Tatsächlich kam es dann ungefähr so, wie ich es mir schon dachte...


    Zum Celi-Interview: Ich verstehe schon, was er meint und finde auch, dass in gewissen Fällen an seiner Kritik an den Kollegen Böhm und Karajan eine Wahrheit enthalten ist. Natürlich überzieht und pauschalisiert er verbal aber sehr - man muss verstehen wollen, wie er das meint. Ein Mann wie Karajan ist ja nicht "unmusikalisch" im normalen Wortsinn. Da muss man dann verstehen, was Celi mit "musikalisch" meint. Ich meine zu ahnen, dass es etwas mit dem Thema Menschlichkeit zu tun hat....
    Böhms Genauigkeit kann manchmal als pedantisches Buchstabieren (also nicht Musik machen) empfunden werden, oft aber auch nicht. Dass Celibidache z.B. die herrliche Aufnahme der 5. von Schubert mit den Wiener Philharmonikern kannte, bezweifle ich dann auch sehr. Er lehnte ja ohnehin Aufnahmen ab...


    Auch an seiner Eitelkeitsaussage beim Thema Karajan ist etwas dran, dennoch beweist er ja durch sein Reden und Handeln, dass er sich selbst auch oft als Menschen mit eingebautem, einzigem Rechthaben sieht. Zum Schluss versteht nur noch er etwas von Musik... :D Aber ich habe Verständnis dafür, dass er das aus seiner Perspektive der tiefen Einsichten, die er in die Musik gewann, so sehen musste.



    Gruss
    Glockenton

    "Jede Note muss wissen woher sie kommt und wohin sie geht" ( Nikolaus Harnoncourt)

  • Hallo,


    ich wage es, mich hier zu äußern und trenne sehr scharf zwischen der optischen und der musikalischen Ästhetik:


    Das von Holger eingestellte Video zeigt Karajan in ungewohnter Bildführung - ich kenne andere Videos und bei denen ist die Eitelkeit Karajans mit Händen zu greifen - für mich nur noch eine peinliche Selbstinszenierung!
    Inwieweit seine im persönlichen Bereich zur Schau gestellte Rücksichtslosigkeit auch im musikalischen Bereich präsent war? Es gibt Interviews von Künstlern/innen, die in seinem von ihm selbst gesteuerten Flugzeug mitfliegen "durften" - es muss teilweise gefühlsmäßig chaotisch zugegangen sein, zumindest für die "normale Fliegerei" gewohnten Mitpassagiere.


    Wer die Bildführung bei Celibidache zu verantworten hatte? - bestimmt nicht er selbst. Seine Bildpräsenz als Dirigent dürfte üblich gewesen sein und ist von den Inszenierungen Karajans sehr entfernt.


    Nun kommt bei mir der Chorsänger durch: Ein mit geschlossenen Augen dirigierender Chordirigent, der fehlende Blickkontakt zum Chor, zu den Chorstimmen, zum einzelnen Chorsänger/in - für mich unvorstellbar - was bei Karajan oft? wie oft? vorkommt? Richtig, ein philharmonisches Orchester ist kein auch noch so großer Chor und wie oft Orchestermusiker zum Dirigenten sehen im Unterschied zu Chorsängern?



    Zur musikalischen Ästhetik, überspitzt formuliert: Der rhythmische und z. T. dynamische Klangbrei, bei Karajan zu hören, ist weit entfernt von der präzisen Ausformulierung die ich bei Celibidache höre und die mir mehr entspricht.


    Viele Grüße
    zweiterbass

    Wer die Musik sich erkiest, hat ein himmlisch Gut bekommen (gewonnen)... Eduard Mörike/Hugo Distler

  • Ich kenne diese Karajan-Videos nicht und bin auch nicht genügend mit Riefenstahls Werk vertraut.
    Ich selbst sehe, wenn man denn solche Vergleiche bemühen will, Karajan eher in der Nähe des klassischen Industriedesigns der 1950er und Prä-Flowerpower-60er, entsprechend den von ihm geliebten Sportwagen und Flugzeugen :D


    Im Ernst, die Kritik des "Seelenlosen" geht meines Wissens auf die Anfangszeit Karajans bei den Berlinern und den unmittelbaren Vergleich mit Furtwängler zurück. So stellt sich das jedenfalls in dem Büchlein des Paukers Thärichen über "Furtwängler vs. Karajan" dar. Während bei Furtwängler Spontaneität während der Aufführung, genaues Hören der Musiker aufeinander (u.a. angeblich wegen Furtwänglers ungenauen Schlags) zentral waren, musste bei Karajan die gut geölte Maschine so laufen, dass das Dirigat mit geschlossenen Augen möglich war, was von etlichen Musikern als Distanzierung, Kälte usw. empfunden wurde.
    [EDIT: Vgl. den Kommentar von zweiterbass; ich habe das Buch nicht mehr zu Hand, aber bei Thärichen finden sich explizit Äußerungen von Musikern, die die geschlossenen Augen als irritierenden Kontaktverlust empfunden haben]
    Und anscheinend auch bei einem Teil des Publikums. Gerade gegenüber Furtwängler ist "technokratisch" sicher keine ungerechte Charakterisierung Karajans.

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • Dann ist bei Karajan natürlich der Legatostrom zu nennen. Dieser kann herrlich klingen, Zusammenhänge schaffen, dem dramaturgischem Ablauf dienlich sein, uvm. Bei bestimmter Musik kann es jedoch auch entstellend wirken, weil die nun einmal auf der Basis anderer ästhetischer Prinzipien, wie z.B. der reich artikulierten gestischen Klangrede, komponiert wurde.

    Lieber Glockenton,


    Danke für Deine schönen Erläuterungen, die ich natürlich besonders erhellend finde, weil Du selber das Dirigierhandwerk erlernst! :) Ich habe mal vor vielen Jahren einen Probenmitschnitt aus der Schweiz mit Karajan gesehen. Was machte er? Die Bläser artikulierten schön "sprechend". Genau das wollte er aber nicht haben! Er hat es ihnen verboten! Sie sollten nur einfach den Ton spielen. Das ist natürlich so eine Sache. Vom späten Karajan gibt es eine Aufnahme von der "Moldau", die ist in dieser Hinsicht schrecklich, weil sie dieses Gestische (das die Tschechische Philharmonie etwa so wunderbar "im Blut" hat) vollständlich eliminiert. Das wirkt einfach flau. Verstanden habe ich das nie so richtig. Bis ich Richard Wagners Schrift "Über das Dirigieren" las. Da schreibt Wagner nämlich an einer Stelle, daß man den Bläsern das "unwillkürliche Artikulieren" abgewöhnen müsse! Was Du über den "Legatoton" schreibst, paßt dazu. Das ist bei Karajan offenbar die Wagner-Schule, der Versuch, eine kontinuierliche "unendliche Melodie" zu verwirklichen - aber auch so etwas wie einen "synthetischen" Klang, den er ganz nach eigenen Vorstellungen erzeugen wollte, würde ich ergänzen.


    Noch zu dem von Holger geposteten Vergleich: Hier finde ich Celibidaches Interpretation wesentlich ansprechender, verständlicher, menschlicher. Ich wollte nur kurz hineinhören/sehen, konnte aber einfach nicht stoppen, weil mir da eine Geschichte erzählt wurde. Karajans Interpretation wirkte auf mich da im Vergleich recht einfalls- und leblos, und die Bildästhetik berührt mich manchmal peinlich. Hier musste ich mich zum Weiterhören fast schon zwingen. Ich kannte Karajans Interpretation nicht, habe sie mir aber nach dem Celi-Film kurz vorgestellt. Tatsächlich kam es dann ungefähr so, wie ich es mir schon dachte...

    Mir gefällt auch eindeutig Celibidache besser. Celibidaches Interpretation ist im Ansatz "klassizistisch" - er forcert nicht. Bei ihm hört man noch, daß dieses ein entspanntes, geradezu tänzerisch leichtes Kehraus-Finale ("lieto fine") ist. Karajan dagegen hetzt da durch. So kann man das freilich auch machen und vertreten. Aber in dieser Richtung ziehe ich eindeutig Mrawinskys Expressionismus vor. Bei Karajan wirkt das eben letztlich doch nur virtuos, aber nicht wirklich exzessiv leidenschaftlich wie bei Mrawinsky. Da ist schon eine gewisse kühle Distanz drin. Obwohl das wahrlich gut interpretiert ist - wenn man mal von den Bildern absieht. Vielleicht muß man faiirer Weise sagen, daß Karajan auf diesem Gebiet Pionier war. Man hatte noch nicht viel Erfahrung mit solchen Filmaufnahmen. Da wird immer der Orchesterblock dem Dirigenten gegenübergestellt (der Hirte und seine Schafherde...), das ist einfach schwer erträglich. Die Bild-Inszenierung bei Celi dagegen ist modern, da werden wie heute allgemein üblich die einzelnen Instrumente und Musiker abwechselnd gezeigt, wenn sie in Aktion treten.


    Zur musikalischen Ästhetik, überspitzt formuliert: Der rhythmische und z. T. dynamische Klangbrei, bei Karajan zu hören, ist weit entfernt von der präzisen Ausformulierung die ich bei Celibidache höre und die mir mehr entspricht.

    Lieber Horst,


    das ist ein schönes geradezu exemplarisches Beispiel für mich, wie unterschiedlich ein "ästhetisches" Dirigieren sein kann. Celibidaches Stil ist klassizistisch (er hat diesen Satz in jungen Jahren ja durchaus auch viel feuriger dirigiert!), aber individualisierend. Das ist geradezu kammermusikalisch durchsichtig, man hört einfach alles, jede einzelne Phrase, jeder Atemzug hat Bedeutung und Sinn. Bei Karajan dagegen haben wir eine "integrale" Auffassung: das ist ein großer Block, der gemeinschaftlich agiert mit deutlicher Dominanz der Streicher. Daher kommt der Eindruck des "Unpersönlichen" nicht zuletzt auch. Wobei der Vergleich mit Leni Riefenstahl an einer entscheidenden Stelle hinkt. Riefenstahl hat man ja vorgeworfen, die Massenaufmärsche zu ästhetisieren, die totalitäre Auflösung des Individuums in ein anonymes Ganzes. Bei Karajan ist aber frappierend, daß diese Entindividualisierung doch so weit nicht geht. Er betont die einzelnen Orchestergruppen sehr, die abwechselnd aus dem Ganzen heraustreten und eine führende Rolle übernehmen. Das hat durchaus seinen Reiz.


    Wo versagt Karajan? Seine 5. Beethoven gefällt mir sehr gut, er scheitert aber bezeichnend bei der 3., der Eroica - und zwar in der Fuge. Karajan denkt "hierarchisch" - führende Stimme und Begleitung. Die Fuge ist aber eine Form, die eigentlich von der Chormusik geprägt ist. Das sind selbständige Stimmen, die "demokratisch" eigenständig zusammenwirken. Ich finde es frappierend, wie Karajan krampfhaft versucht, diese Stimmenpolyphonie in einen homophonen Satz homogenisierend zu verwandeln - was gehörig schief geht!


    Schöne Grüße an Euch alle - ich höre mir jetzt Celi mit "Les Preludes" von Liszt an! :hello:


    Holger

  • Geht's jetzt um die Ästhetik der Videos oder die musikalische Interpretation?


    Filmisch gefällt mir das Karajan-Video nicht; ich finde diese Naheinstellungen, bei denen man nur die Paukenschlegel oder nur die Hände der Musiker, nur die Bögen usw. sieht, albern und teils ablenkend, wenn zB eine Holzbläserpassage dominiert, man aber die parallel sägenden Celli oder Bässe sieht.
    Aber faschistoid ist daran nichts, ich sehe keinen "Triumph des Willens"


    Das Celi-Video ist größtenteils erheblich sinnvoller gefilmt und geschnitten. Auch der Klang gefällt mir (Kopfhörer am Laptop) etwas besser. Sowohl wärmerer als auch farbigerer Klang als bei Karajan (d.h. wenn es um klangliche Schönheit geht, würde ich Celi hier vorziehen, soviel man das von der Youtube-Qualität sagen kann). Ich mag das Stück ehrlich gesagt nicht besonders. Celi ist vielleicht einen Tick zu langsam, aber ich höre bei ihm mehr. Das hymnische Ende ist mir bei Karajan etwas zu zackig (obwohl ich sonst für den Satz schlankere und eher noch "zackigere" Interpretationen wie Fricsay oder Szell bevorzugt habe). Bei Celi ist es eine entspanntere, "leuchtende" Auflösung. Den Anfang des schnellen Teils würde ich noch ruppiger, "rustikaler" bevorzugen, unabhängig vom Tempo.


    Ich weiß nicht, ob ich das schonmal geäußert habe. Mich wundert Glockentons Bewunderung für Karajan ein wenig. Ich will Karajans Meriten nicht bestreiten, aber er ist für mich mehr oder weniger der "Anti-Klangrede"-Dirigent. Bei "großen Bögen" und Steigerungen mag er grandios sein, aber charakteristische Phrasierungen höre ich nur selten. Die Klangbrei-Tendenz ist zwar nicht durchweg gegeben, aber häufig.
    (Und so dramatisch und zackig er manchmal ist, es werden andererseits in der Mikrodynamik Sachen eingeebnet; wir hatten das schonmal im Falle von Brahms' Erster angesprochen. Diese Unterschiede höre ich nicht nur im Vergleich mit HIPisten, sondern auch zB Kleiber, Wand u.a. Ich schrieb auch ein wenig dazu in einem Thread zu Beethovens 5., als ich Kleiber Vater/Sohn und Karajan verglichen habe, wobei mir Karajans Einspielung dennoch ziemlich gut gefällt.)
    Nun mag gerade der Tschaikowsky hier kein gutes Beispiel sein, aber Celi kommt mir hier durchweg plastischer und "sprechender" vor, etwa in einer Passage die man als eine Art Antwort der Bratschen oder Celli auf die Geigen sehen könnte (ab 4:22 bei Celi).


    EDIT: Ich sehe jetzt erst, dass Holger, zweiterbass und oben anscheinend auch schon Glockenton sich schon ganz ähnlich bzgl. der Interpretationen geäußert haben. Ich schwöre, ich habe das vorher nicht gelesen... aber vielleicht ist ja was dran, wenn wir das unabhängig voneinander so hören... und alle die Videoinszenierung eher peinlich finden :D

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  • Hallo - Ihr kreativ Phantasiebegabten - bei manchen Diskussionen muss ich passen, weil mir die Kapriolen in den Denkabläufen, die zu solch gewagt-absurden Vergleichen führen - viel zu verschlungen sind. Verzeiht, aber da komme ich nicht mit, es übersteigt meine geistige Kapazität. :baeh01:


    Herzlichst
    Operus

    Umfassende Information - gebündelte Erfahrung - lebendige Diskussion- die ganze Welt der klassischen Musik - das ist Tamino!

  • Celibidache besser als Karajan ?


    Als es Mitte der fünfziger Jahre um die Neubesetzung der Chefposition bei den Berliner Philharmonikern ging, soll Furtwängler geäußert haben, K. (= Karajan) sei besser als C. (= Celibidache). Furtwängler war jemand, der beide kannte und beurteilen konnte.


    LG,
    Portator

  • Zitat

    d.h. wenn es um klangliche Schönheit geht, würde ich Celi hier vorziehen


    In diesem Falle durchaus.


    Zurück zum Thema:
    Im Falle von Karajan war natürlich die Tonaufnahme gemeint, im Falle von Rieffenstahl das künstlerische Gesamtkonzept ihrer Filme. Die ursprüngliche Frage (nicht von mir ins Spiel gebracht), welche letztlich den Start dieses Threads auslöste, war, ob man die ästhetischen Grundzüge von Karajans Musikverständnis irgendwie mit jenen von Leni Rieffenstahl vergleichen könnte. Ich würde das vorsichtig und zögerlich bejahen - aber natürlich nicht nur.
    Fragen wir uns vorerst worin denn das Gemeinsame überhaupt besteht (wenn es besteht)
    Fragen wir uns weites warum diese Ästhetik jeweils bei ihrer Zielgruppe Anklang fand
    und fragen wir uns weiters ob es vergleichbare Künstler, Kunstrichtungen oder Zeitalter gab, bzw eine Klientel, ein Publikum, welche diese Ästhetik ebenso schätzten bzw. wo denn hier das Geheimnis des Erfolges ist...


    mit freundlichen Grüßen aus Wien
    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Leni Riefenstahl hat eine moderne, extravagante Schnittechnik eingesetzt und damit die Filmästhetik (mit-)revolutioniert. - Es gelingt mir nicht, darin irgendeine Gemeinsamkeit zu Karajan zu erkennen. - Später hat die Riefenstahl neuartige Themen gesucht, etwa im Bereich der Ethnologie. Auch das hat überhaupt nichts mit Karajans künstlerischem Lebensentwurf zu tun. Der Vergleich hinkt nicht, er ist schwachsinnig. Sorry.


    :hello:

    Zerging in Dunst das heilge römsche Reich


    - uns bliebe gleich die heilge deutsche Kunst!

  • Tamino Beethoven_Moedling Banner
  • Mir gefällt Celibidaches Aufnahme auch besser (auch wenn Karajan beileibe nicht schlecht ist). Die Stelle bei ca. 2:50 bis 3:40 gelingt bei Celi einfach bedeutend besser, um nur ein Beispiel zu nennen. Der Paukenwirbel ist derart spannend und lang, das kommt einfach herrlich rüber. Wunderbarer Ausbruch des Orchesters danach.

    »Und besser ist's: verdienen und nicht haben,

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    – Luís de Camões

  • Gerne möchte ich noch ein bisschen auf Holger und Johannes eingehen, wenn ich darf:


    Ich stimme Euren Aussagen voll zu - Karajans Ideal ist wohl vor allem ein flexibel modulierbarer Klangstrom und wohl kaum die Klangrede, weshalb sein Stil m.E. sehr gut zu einem Komponisten wie Wagner passt, welcher ja auch einen damals neuen Dirigiers- und Komponierstil prägte, der genau davon durchzogen war.
    Gerade habe ich einen Hörbabend mit einem Musikerkollegen, der auch komponiert und dirigiert hinter mir. Auf dem Programm stand erst Bruckner 7 Probe und Satz 1+2 mit Celibidache/BPO, nach einer Pause dann Liszt Sposalizio und Il Penseroso mit Brendel, danach Wagner mit Karajan, u.a. Meistersinger-Ouvertüre, Tannhäuser und Bachanale. Wir waren uns einig, dass die karajansche Ästhetik ideal zu Wagners Orchestermusik passt, vielleicht seine -wie ich finde- auch spürbare innere Grundhaltung, die irgendwie weniger nach bescheidenem Dienen an der Kunst, sondern schon eher nach einem sehr selbstbewussten Willensakt klingt. So weit möchte ich aber deshalb nicht gehen, diesen Umstand irgendwie mit den Inhalten des Films "Triumpf des Willens" in Verbindung zu sehen.
    Allerdings ist es schon so, dass ich vor einigen Tagen, als ich anfing die Bruckner-DVD mit Karajan zu schauen, spontan sagte: "er wusste sehr genau, was er wollte und konnte seinen enorm starken Willen ohne grosses plakatives Vorzeigen mit geschlossenen Augen auf schon transzendente Weise auf die Musiker übertragen"
    Die Werke wurden von ihm, wenn nötig, seiner Ästhetik angepasst. Anders herum wäre es ja richtiger. Wenn das aber harmonierte, dann konnten unvergessliche Sternstunden entstehen, wenn nicht, dann konnte sich an den Ergebnissen die Kritik schnell entzünden.


    Im Kern sehe ich an der verbal überzogenen Celibidache-Kritik an Karajan durchaus eine gewisse Wahrheit: Sein Selbstbewusstsein, dass seine Gegner gerne als Eitelkeit darstellten, war ihm einerseits hilfreich, andererseits aber auch hinderlich. Er war ja ein disziplinierter und wahnsinnig fleissiger Perfektionist, konnte jeden Ton der Partituren auswendig usw. Dieser Umstand, wohl so manche gute Aufführung und natürlich die Sternstunden haben ihn wohl dahingebracht, sich nicht nur von der für einen Dirigenten naturgegebenen Rolle des Rechthabens her zu definieren (da steht er nicht alleine da, Celi, Wand und Böhm hatten wohl auch etwas von diesem Neigung), sondern sich in an seiner eigenen Rolle, an seinem eigenen völlig unbestreitbarem Genius zu berauschen. Die von ihm regissierten Musikfilme legen mir jedenfalls den Verdacht nahe. Nötig hätte er das nicht gehabt. So manche seiner Interpretationen kann derart gut für sich selbst stehen, dass sie diese hin- und wieder schon leicht unangehm berührenden Visualisierungen gar bedurft hätten.


    Faszinierend finde ich ihn eigentlich immer und lehrreich ist seine künstlerirsche Hinterlassenschaft für mich ziemlich oft, auch wenn ich für bestimmte Literatur einen anderen ästhetischen Ansatz vorziehe.


    Gruss
    Glockenton

    "Jede Note muss wissen woher sie kommt und wohin sie geht" ( Nikolaus Harnoncourt)

  • Hallo,
    nachstehend mein Verständnis von Musikästhetik (und zu Fragen dieses Threads):


    1. Musikästhetik betrifft den Komponisten, seine Werke und die dafür von ihm verwendete Art der Kompositionstechnik. Die Interpreten - hier speziell Dirigenten - als Nachschöpfende haben also dem Werk zu dienen und sich an den Intentionen des Komponisten auszurichten. Dass hier Merkmale der Interpreten mit einfließen ist unvermeidbar, genauso wie es auf Merkmale des Hörenden ankommt, wie er die Musik für sich "interpretiert". Die Individualität von Musik beginnt beim Komponisten (jedem einzelnen Werk von ihm), geht weiter über die Interpreten (zeit- und stimmungsabhängig - siehe unterschiedliche Interpretationsergebnisse) und endet bei jedem einzelnen Hörer (auch wieder zeit- und stimmungsabhängig).


    2. Daraus folgt, dass die Musikästhetik eines Interpreten stets mit der Frage seiner Interpretation verbunden ist, sein muss. Je mehr er dem Werk dient, umso besser wird seine Werkinterpretation sein - dabei kann ihm seine Individualität (werkabhängig) nützlich oder hinderlich sein, was wiederum davon abhängig sein kann, wie sehr er seine Individualität im Stande ist zurück zu nehmen.


    3. Ob die Visualisierung von Musik (Oper usw. ausgenommen) dem Verständnis von Musik dient, ist wiederum eine individuell zu entscheidende Frage (ich für mich verneine das in den meisten Fällen - also sogar werkindividuell verschieden).



    (Zu 1. bis 3. gibt es im Forum einen Thread, der stets lesens- und beachtenswert sein könnte, insbesondere die dort beispielhaft genannte Literatur.)



    4. Die optische Selbstdarstellung Karajans in Videos ("selbst" deswegen, weil ich die meine, die auf seinen sehr detaillierten Vorgaben beruhen) die ich kenne, lassen keinen Zweifel an seiner Eitelkeit, Selbstverliebtheit aufkommen.


    Inwieweit sich 4. auch auf die Musikästhetik von Karajan auswirkt, kann ich also nur in Abhängigkeit des Werkes und seiner jeweiligen Interpretation beantworten und da ich Musik höre und zum Verständnis meist keinen visuellen Eindruck brauche (auch das von Holger eingestellte Video der Karajanaufnahme habe ich mehrmals abgehört und dabei in Word einen kleinen Teil meines Beitrages Nr. 12 geschrieben - und das Bild war eben abgeschaltet), hat sich diese Frage für mich nicht gestellt.


    Viele Grüße
    zweiterbass

    Wer die Musik sich erkiest, hat ein himmlisch Gut bekommen (gewonnen)... Eduard Mörike/Hugo Distler

  • Hallo,
    nachstehend mein Verständnis von Musikästhetik (und zu Fragen dieses Threads):


    1. Musikästhetik betrifft den Komponisten, seine Werke und die dafür von ihm verwendete Art der Kompositionstechnik. Die Interpreten - hier speziell Dirigenten - als Nachschöpfende haben also dem Werk zu dienen und sich an den Intentionen des Komponisten auszurichten. Dass hier Merkmale der Interpreten mit einfließen ist unvermeidbar, genauso wie es auf Merkmale des Hörenden ankommt, wie er die Musik für sich "interpretiert". Die Individualität von Musik beginnt beim Komponisten (jedem einzelnen Werk von ihm), geht weiter über die Interpreten (zeit- und stimmungsabhängig - siehe unterschiedliche Interpretationsergebnisse) und endet bei jedem einzelnen Hörer (auch wieder zeit- und stimmungsabhängig).


    2. Daraus folgt, dass die Musikästhetik eines Interpreten stets mit der Frage seiner Interpretation verbunden ist, sein muss. Je mehr er dem Werk dient, umso besser wird seine Werkinterpretation sein - dabei kann ihm seine Individualität (werkabhängig) nützlich oder hinderlich sein, was wiederum davon abhängig sein kann, wie sehr er seine Individualität im Stande ist zurück zu nehmen.


    Gewiss sollte sich die Interpretation nach dem Werk richten. Aber das hilft ja oft nicht viel weiter. Wir kennen Intentionen von Komponisten meist nicht über das hinaus, was sie in eine Partitur geschrieben haben. Wenn wir nur bei den schon angesprochenen Aspekten "Klangrede" vs. "klangliche Verschmelzung" oder "klangliche Überwältigung" o.ä. oder "Detail" vs. "große Bögen" bleiben: Selbstverständlich gilt es bei den meisten Komponisten beide Aspekte zu berücksichtigen (Jedenfalls normalerweise in Klassik und Romantik; im Barock sollte vielleicht die "Klangrede" dominieren und in der Moderne kommt es noch stärker auf den Komponisten/Stil an.)
    Und die Balance ist wieder eine Sache der Interpretation.


    Die klanglichen Gesten sind ja immer halbwegs da, sofern den Rhythmen, Bindebögen usw. der Partitur einigermaßen gefolgt wird. Selbst bei einem Stück, in dem zB Karajan für meine Begriffe viel zu legato artikulieren lässt, den 2. Satz aus Beethovens 7., hat natürlich den taa-ta-ta-taa-taa-Rhythmus noch erkennbar. Wobei oft viele artikulatorische und dynamische Details eben nicht genau drinstehen bzw. gar nicht so genau notierbar sind, so dass wieder erheblicher Spielraum besteht. Genau darin unterscheiden sich dann oft Interpretationen.


    Viele Hörer haben ja bei einigen Interpretationen der extremeren HIPisten (Harnoncourt, Jacobs, Minkowski) nachvollziehbarerweise den Eindruck, etwa bei deren Mozart-Dirigaten werde der Wald vor Bäumen verpasst. (Man höre ggf. in online-Klangschnipsel vom Anfang des 2. Satzes der "Jupitersinfonie" oder auch 39 und 40) Eine sehr starke Ausformung des sprachlich-gestischen Elements wird oft als übertrieben, abgehackt, manieriert, "unnatürlich", auf Kosten der "langen Linie" usw. empfunden und das ist gewiss nicht verkehrt. Hier geht die Balance dann nach der anderen Seite verloren.

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • Lieber Holger,


    früher hätten wir das durchaus machen können, denn ich habe vor meinem Umzug 2005 nach Norwegen in Westerenger gelebt....nicht weit weg von Bielefeld, wie Du sicher weisst. Da kannte ich aber Tamino noch nicht. An Il Pensoroso habe ich neulich mit meinem Klavierprofessor selbst gearbeitet. Harmonisch gesehen gibt es kaum einen besseren Übergang, um anschliessend Wagner zu hören :-)


    LG
    Glockenton

    "Jede Note muss wissen woher sie kommt und wohin sie geht" ( Nikolaus Harnoncourt)

  • Zitat

    4. Die optische Selbstdarstellung Karajans in Videos ("selbst" deswegen, weil ich die meine, die auf seinen sehr detaillierten Vorgaben beruhen) die ich kenne, lassen keinen Zweifel an seiner Eitelkeit, Selbstverliebtheit aufkommen.


    Ich halte diese Aussage für falsch, der "göttliche Karajan" war eine Projektion seiner Verehrer, der Presse und seines Labels.
    Irgendwann hat er erkannt, daß dieser Nimbus ihm nützt - hat ihn gepflegt und gezielt eingesetzt. Mit Eitelkeit hat das nichts zu tun. Weder Geld noch Probenzeiten spielten irgendeine Rolle bei der Verwirklichung des künstlerischen Credo.


    mit freundlichen Grüßen aus Wien
    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • früher hätten wir das durchaus machen können, denn ich habe vor meinem Umzug 2005 nach Norwegen in Westerenger gelebt....nicht weit weg von Bielefeld, wie Du sicher weisst.


    Lieber Glockenton.


    in Norwegen ist es ja auch viel schöner als im ollen Bielefeld und Westfalen! :)


    Herzliche Grüße
    Holger

  • Irgendwann hat er erkannt, daß dieser Nimbus ihm nützt - hat ihn gepflegt und gezielt eingesetzt. Mit Eitelkeit hat das nichts zu tun.

    Sondern? Ob selbst initiiert oder drangehängt, wo ist der Unterschied?



    Weder Geld noch Probenzeiten spielten irgendeine Rolle bei der Verwirklichung des künstlerischen Credo.

    Welches Credo meinst Du, das musikalische oder das visuelle (visuelle bei Musik die nicht Oper usw. ist) ?


    Viele Grüße aus Nürnberg
    zweiterbass

    Wer die Musik sich erkiest, hat ein himmlisch Gut bekommen (gewonnen)... Eduard Mörike/Hugo Distler

  • Zitat

    Sondern? Ob selbst initiiert oder drangehängt, wo ist der Unterschied?

    in der Motivation:


    EITELKEIT dient der persönlichen Befriedigung der Eitelkeit.


    die zur Schau Stellung einer "charismatischen Person" oder "vorgetäuschtes Selbstbewusstsein" dient zur Erreichung eines definierten Ziels (beispielsweise der Erhöhung der Absatzzahlen von Schallplatten oder dem Füllen von Konzerthäusern)
    Es handelt sich hierbei nicht um Eitelkeit sondern der geplanten Verwirklichung eines strategischen Ziels unter Anpassung an die unterschwelligen Wünsche der angepeilten Zielgruppe.....


    mfg aus Wien
    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



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