Robert Schumann - Liederkreis op. 39

  • Sagitt meint:


    Anders als Heine ist Eichendorff ein ungebrochener Romantiker. Da wird nicht die Stimmung durch beißende Ironie gekippt, sondern Eichendorff widmet sich ganz der Mystik von Natur und Geistern. Schumann hat in seiner produktiven Phase einen Bund Eichendorffscher Lieder vertont und ihnen mit so großartigen Stücken wie Mondnacht, Zwielicht, In der Fremde usw. unsterbliche Denkmäler gesetzt.
    Unübertroffen nach wie vor DFD. Wie er diesen Zyklus gestaltet, macht ihm keiner nach. Da ist er genau in seinem Element. Die intellektuelle Durchdringung gepaart mit äußerst exakter Stimmführung und herrlichen Lyrismen, das kann s o nur er. Eine seiner Aufnahmen-für mich die schönste, völlig egal, das es mono ist- stammt aus seiner Salzburg-Zeit. Jedes Jahr wurde ein bestimmtes Programm vorgestellt,ganz der Lehrer, der Dieskau ja auch war. 1959- war es, glaube ich, ist es der Liederzyklus op. 39 gewesen. Was er da mit Gerald Moore zaubert, ist nur als Sternstunde des Liedgesangs zu bezeichnen.
    Ich möchte ihm eine Aufnahme an die Seite stellen,ohne zu behaupten, dass diese gleichwertig sei. Aber der jetzige Rektor der Kölner Musikhochschule, Josef Protschka, hat in den achtziger Jahren einige Liedaufnahmen gemacht, die man auch nur als großartig bezeichnen kann. Er ist sicher nicht so perfekt wie Dieskau, aber konnte die zarten Töne der Schumann-Lieder auch sehr gut treffen und hatte mit Helmut Deutsch einen gleichwertigen Klavierpartner- bei den den Schumann-Liedern spielt dies auch eine erhebliche Rolle.


    Ich bin gespannt, welche Anregungen zu diesem großartigen Liederkreis aus dem Kreis der Experten kommen....

  • Hallo sagitt!


    Ich besitze 3 Aufnahmen vom Liederkreis op.39: Olar Bär/Geoffrey Parsons, Thomas Quasthoff/Roberto Szidon, Hans-Peter Blochwitz/Rudolf Jansen, meine Lieblingsaufnahme ist die Quasthoff-Aufnahme, danach kommt Blochwitz, die Bär-Aufnahme ist mir stimmlich zu wenig prägnant, zu fade. Die DFD-Aufnahme kenne ich nicht, weil ich kein Fan von ihm bin. Er singt mir meisten zu kühl, zu unbeteiligt. Ich bevorzuge Sänger, die die Lieder leben. Aber das ist eine reine Geschmacksfrage.

  • Hallo Erna


    die Blochwitz-Aufnahme habe ich auch- da ich ja Fan dieser Stimme bin, halte sie aber für eine seiner schwächeren. Gegenüber DFD gibt es diese Vorbehalte, aber ich kann nur empfehlen, mal seine Schumann-Interpretationen aus den fünfziger Jahren zu hören. Das sind Offenbarungen. Mondnacht aus op. 39 oder Hör ich ein Liechen klingen aus op. 48.( mit Demus 1958 ). DFD ist absolut auf der Höhe seiner Kunst, er gestaltet diese Lieder mit ungeheurer Intensität, gerade in den leisen Tönen.
    Das ist ja die Kunst. Piano,Pianissimo nicht als entleertes Forte, sondern als die intensivste Art des Gesangs.
    Dazu kommt durch Zumischung der Oberstimme ein weicher Stimmansatz, der einfach vorbildlich ist.
    Nochmals: ich empfehle das Anhören. Wenn man dann davon nicht berührt ist, dann bleibt es in der Tat beim Geschmack- das kommt bei Stimmen ja immer vor: er/sie ist einfach nicht mein Geschmack.

  • Zitat

    Original von sagitt
    Anders als Heine ist Eichendorff ein ungebrochener Romantiker. Da wird nicht die Stimmung durch beißende Ironie gekippt, sondern Eichendorff widmet sich ganz der Mystik von Natur und Geistern. Schumann hat in seiner produktiven Phase einen Bund Eichendorffscher Lieder vertont und ihnen mit so großartigen Stücken wie Mondnacht, Zwielicht, In der Fremde usw. unsterbliche Denkmäler gesetzt.
    Unübertroffen nach wie vor DFD. Wie er diesen Zyklus gestaltet, macht ihm keiner nach. Da ist er genau in seinem Element. Die intellektuelle Durchdringung gepaart mit äußerst exakter Stimmführung und herrlichen Lyrismen, das kann s o nur er. Eine seiner Aufnahmen-für mich die schönste, völlig egal, das es mono ist- stammt aus seiner Salzburg-Zeit. Jedes Jahr wurde ein bestimmtes Programm vorgestellt,ganz der Lehrer, der Dieskau ja auch war. 1959- war es, glaube ich, ist es der Liederzyklus op. 39 gewesen. Was er da mit Gerald Moore zaubert, ist nur als Sternstunde des Liedgesangs zu bezeichnen.


    Ich stelle gerade fest, dass ich nur zwei op. 39 habe, einmal Fi-Di/Moore 1955 (EMI "Les Introuvables de FD") und Schreier. Ich habe gestern abend Fi-Di gehört, war ehrlich gesagt etwas enttäuscht, hatte die besser in Erinnerung, einige Lieder (zB Mondnacht) sind sehr schön gelungen, aber insgesamt überraschte mich, dass doch schon viele der Fi-Di-Übertreibungen vorhanden sind (die stören mich weniger bei den ohnehin doppelbödigen Heineliedern) und dann fand ich die Begleitung öfters zu stark im Hiintergrund (Klang auch nicht toll für '55 Studio). Vielleicht höre ich mir heute mal Schreier an (erwarte da aber auch keine Offenbarung). Mal schauen ob es ein op. 39 von Pregardien gibt, sein op.24 + Kerner-Lieder (op. 35?) habe ich als sehr gut in Erinnerung..
    Wie sieht es mit Frauenstimmen aus?


    viele Grüße


    JR

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • Man muss Quasthoffs Timbre von hoher Eigenart schon lieben - für viele ist es weich und erotisch, für mich immer ein wenig heiser und verschattet. Das er sich künstlerisch bis zum Äußersten verausgabt, steht außer Frage (zu Zeiten als diese Aufnahme entstanden ist, nämlich 1993, sich mehr als heute) - aber will man das immer?


    FiDi kann ich vor allem in einer älteren Aufnahme von 1955 (EMI) empfehlen. Da ist er noch nicht der überzüchtete Deklamator, der er im Stereozeitalter zunehmend wurde.


    Olaf Bärs Version ist nicht wirklich aufregend, aber doch von stimmlicher Schönheit und diskreter Gestaltung - ähnliches gilt für Blochwitz


    Eine wirklich HEISSE NUMMER ist für mich die Fasung von Werner Güra(Tenor) und Jan Schultsz - Güra hat einen schönen lyrischen Tenor, der bei aller Milde über eine Spur Metall und ausreichende Durchschlagskraft verfügt. Er gestaltet behutsam und stilvoll.


    Bryn Terfel und Malcolm Martineau sind auch nicht übel, allerdings reduziert sich bei Terfel alles ein wenig zu sehr auf sein prachtvoll-sonores Organ - das klingt betörend, ist aber künstlerisch nicht eben viel.


    Gerard Souzay war in den 50er und 60er Jahren die französische Antwort auf FiDi. Er ist leider tragisch füh verstummt. Aber in seinen alten Schumann-Aufnahmen hört man noch viel vom Charme und der Leuchtkraft seines hellen Baritons. Sein Deutsch ist freilich nicht ganz idiomatisch.


    Peter Schreier gehört zu denen, die den Liederkreis Op.39 gleich mehrfach vorgelegt haben. ich fand sein Timbre immer etwas zu scharf, fand dass seiner Stimme "Körper" fehlt. Technisch ist er dagegen makellos und obendrein ein umsichtiger, niemals überzeichnender Gestalter.


    Aber auch Ladies, wie Brigitte Fassbaender (mit Elisabeth Leonskaja) haben spannende Einspielungen des Liederkreises vorgelegt. Gerade die Fassbaender verbrannte förmlich bei ihrem Liedgesang und nahm um der Eindringlichkleit des Ausdrucks willen auch Schroffheiten, wie "brüchige" Registerwechsel in Kauf - das Ergebnis geht immer unter die Haut.


    Man sollte noch den "kleinen" Liederkreis Op. 24 erwähnen - er ist nicht minder schön. Auch von ihm gibt es ein paar lohnende Einspielungen.


    Grüße
    daniel

  • Hallo zusammen,


    meine Hermann-Prey-Sammlung enthält auch den Liederkreis op.24 mit der Begleitung von Leonard Hokanson.Die Aufnahme entstand vom 24.bis 29.Mai 1985 im Ostholsteiner Herrenhaus Hasselburg.Außerdem beinhaltet die CD noch die Dichterliebe und 5 weitere Heine-Lieder.
    Die Lieder werden sehr empfindsam vorgetragen,weshalb ich die Aufnahme allen Freunden von Hermann Prey sehr empfehlen kann.

    Freundliche Grüße Siegfried

  • Hallo, liebe Forianer,


    ich habe den Liederkreis op. 24 in der Interpretation von Peter Schreier, begleitet von Norman Shetler, dann den Liederkreis op. 39 in der Interpretation von Felicity Lott mit Graham Johnson, von Josef Protschka, begleitet von Helmut Deutsch sowie zwei baritonale Deutungen von Dietrich-Fischer Dieskau, 1985, begleitet von Alfred Brendel sowie Matthias Goerne 1998, begleitet von Eric Schneider.


    Ich ziehe die beiden Bariton-Versionen vor, vor allem die von Fischer-Dieskau, wenngleich er stimmlich 1985 längst über den Zenit seines Könnens hinaus war, aber gestalterisch war er immer noch auf absolutem Topniveau. Matthias Goerne wird veilleicht eines Tages in seine Fußstapfen treten, vielleicht zusammen mit Christian Gerhaher.
    Peter Schreier muss man zugute halten, dass er, der beste Tenor-Liedsänger seit Fritz Wunderlich, es immer wieder gewagt hat, sich in die Domäne der Baritone vorzuwagen, was ihm (als einzigem Tenor) in seiner legendären 1985er Winterreise aus der Dresdner Semperoper unter der überragenden Begleitung von Sviatoslav Richter ganz gut gelungen ist.


    Liebe Grüße


    Willi

    1. "Das Notwendigste, das Härteste und die Hauptsache in der Musik ist das Tempo". (Wolfgang Amadeus Mozart).
    2. "Es gibt nur ein Tempo, und das ist das richtige". (Wilhelm Furtwängler).

  • Ich habe das Wiederaufleben dieses Threads zum Anlass genommen, mich nach etlichen Jahren Pause dem Liederkreis op 39 zu widmen.


    Ich besitze nur zwei Aufnahmen , eine von Fischer Dieskau - eine von Olaf Bär. Ich erinnere mich noch genau, daß ich von Bärs Aufnahme enttäuscht war, ich war auf Fischer Dieskau fixiert, Heute sehe ich das differenzierter und weiß, daß ich Bär damals unrecht getan habe,


    Aber eigentlich möchte ich mich ein wenig mit dem Zyklus an sich befassen. Dabei helfen die Beihefte, denen man vor Jahren noch wesentlich mehr Aufmerksamkeit schenkte, als dies in der Regel heutzutage der Fall ist.
    Interessant Beispielsweise eine Bemerkung Fischer Dieskaus zum Thema "schöne Stimmen.
    Sie seien nur scheinbar für romantische Lieder geeignet, da sie sich lediglich mit der "entzückenden Hülle" begnügten.


    Wie man sehen kann, verteidigt Fischer Dieskau hier implizit seinen eigenen Interpretationsansatz, der von seinen Kritikern oft als "Überinterpretation" gesegen wird.


    Fischer Dieskau, will (so der Text meiner CD, er stammt von Wolf-Eberhard von Lewinski) den Hörer in den Kern eines Liedes hineinführen.


    Unwillkürlich wurde ich bei dieser Textstelle an Aussagen von Helmut Hofmann erinnert.


    So habe ich heute (vorerst) auf den Vergelich von Dietrich Fischer-Dieskau vs. Olaf Bär verzichtet - und versuche mich ein wenig mit Joseph von Eichendorff zu befassen, der ja die textliche Grundlage für den Liederkreis op 39 darstellt. Mal sehen was dabei herauskommt..


    mfg
    aus Wien
    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Eben lese ich: Jemand - Entschuldigung, es ist natürlich Alfred! - hat sich entschlossen, sich mit Eichendorff zu befassen, und ich jubele! Ich mache meinen ersten, nicht vorher gut durchdachten Eintrag hier.


    Eichendorff ist ja zur Zeit nicht gerade "in", obwohl vor gar nicht so langer Zeit eine neue Biographie von ihm erschienen ist: Hartwig Schultz, Joseph von Eichendorff, Insel Verlag 2007.
    Betrüblich ist, dass die "Modernität" Eichendorffs, die Adorno in seinem exzellenten Aufsatz "Zum Gedächtnis Eichendorffs" aufgezeigt hat (erschienen in der Zeitschrift "Akzente", Heft 1, 1958) in Vergessenheit geraten ist.


    Was fällt mir ein zum Thema "Eichendorff - Schumann?
    In Schumanns op.39 findet man den ganzen(!) Eichendorff, d.h. man findet all die Motive und sprachlichen Bilder, die für Eichendorff typisch sind.
    Eichendorff ist "Spätromantiker". Das ist er nicht primär von den biographischen Daten her, er ist es vor allem in seiner dichterischen Grundhaltung. Er greift all die für die Früh- und Hochromantiker typischen Motive auf, aber er liefert sich ihnen nicht mehr wirklich aus, er zitiert sie nur noch.
    Bei Ludwig Tieck verschwindet schon einmal ein Protagonist im tiefen Wald bei seinem Einswerden mit der Natur. Bei Eichendorff blickt er aus einem Fenster, sieht Menschen, die in die Ferne reisen und wird von einer tiefen Sehnsucht ergriffen: "Ach, wer da mitreisen könnte...", seufzt er.
    Bezeichnenderweise kehrt der "Taugenichts" nach seinem Ausbruch in zauberhafte Fernen zurück und beginnt ein braves bürgerliches Leben.


    Aus diesem Grund ist "Sehnsucht" das zentrale Stichwort bei Eichendorff. Man findet in seinen Werken immer wieder folgende Grundfiguren:
    Etwas (Ein Ton, ein Gesang, Blitze usw.) kommt aus weiter Ferne, es ruft, lockt, kann sogar verführen. Man möchte diesem Ruf in die weite Ferne folgen und tut es doch nicht, weil darin etwas Bedrohliches ist, etwas, das man als Gefährdung seiner Existenz empfindet. Man hat Angst, dass das Ich sich auflöst, dass es "entgrenzt" wird: "Hüte dich, sei wach und munter!". Bezeichnenderweise hatten die Frühromantiker diese Angst überhaupt nicht!


    All diese Motive findet man in Schumanns op.39.
    Die existentiellen Erfahrungen, die Eichendorffs Dichtung prägen, waren auch die von Schumann.
    Die Tatsache, dass dieser Liederzyklus als "kongenial" bezeichnet wurde und es ja auch tatsächlich ist, lässt sich aus dieser tiefinnerlichen Verwandtschaft erklären. Die Lieder Schumanns wiederholen aber nicht einfach musikalisch, was Eichendorff lyrisch gestaltet hat. Wäre es so, sie wären überflüssig.
    Sie leisten etwas ungleich Größeres: Sie setzen das "Lebensgefühl", die existentielle Grunderfahrung, die sich bei Eichendorff in den oben erwähnten lyrischen Bildern verdichtet hat, in musikalische Evokation um.
    Und noch etwas:
    Sie greifen in genialer Weise das musikalische Potential auf, das in den sprachlichen Klängen von Eichendorffs Versen schlummert.
    Darin besteht die "Kongenialität von op.39!


    Übrigens: In diesem Ansatz, in dieser Intention, von der sich Schumann bei seinen Vertonungen leiten lässt, unterscheidet er sich fundamental von Schubert! Deshalb sind Vergleiche zwischen beiden, etwa in Sachen Heinrich Heine- Vertonen, ziemlich problematisch.
    Das ist aber eine anderes Thema!


    Diese Anmerkungen könnten etwas ungeordnet sein. Die Begeisterung hat mich davongetragen!
    Zur Frage Olaf Bär oder Fischer-Dieskau sage ich nichts. Das könnte ich zwar, aber ich will nicht wieder das ach so beliebte Spiel hier lostreten.

  • Meine liebste Aufnahme des wundervollen Liederkreises op.39 ist die mit der hier leider vernachlässigten Regine Crespin, am Klavier begleitet von John Wustman, aufgenommen 1966.


    Mit lieben Grüßen
    Operngernhörer :hello:

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  • Sagitt meint:


    ich habe diesen Zyklus u.a. auch von Tenören. Blochwitz hat ihn gemacht, nicht eine seiner besten Aufnahmen, aber hervorragend Josef Protschka.


    Dieser Sänger hatte eine kurze, wie ich finde, viel zu kurze Mini-Karriere als Liedersänger. Obwohl er seinerzeit hochgelobt wurde,hat er sich lieber auf Oper konzentriet und auf Rollen, die seiner Stimme nicht gemäss waren, wie der Florestan. Dann war die Stimme hin und die Karriere vorbei.


    Seine " schone Müllerin" uind die beiden Schumann-Zyklen op. 39 und 48 gehören nach wie vor zu den besten Aufnahmen.

  • Wenn man, nachdem man sich wochenlang nur mit Schubert und seinen Liedern beschäftigt hat, zum ersten Mal wieder ein Eichendorff-Lied von Schumann hört, macht man eine eigentümliche und höchst aufschlussreiche Erfahrung:
    Es klingt nicht nur anders, auch der lyrische Text hat hier ein ungleich größeres Gewicht.
    Das kann eigentlich nicht daran liegen, dass die Gedichte Eichendorffs zumeist von höherer dichterischer Qualität sind als etwa die Mayrhofers oder Seidls. Schubert hat ja schließlich auch Gedichte von allerhöchstem dichterischem Rang vertont, siehe etwa die Goethes!
    Es hat vor allem damit zu tun, dass Schumann bei der Vertonung mit Gedichten anders umgeht als Schubert.


    Schubert hat sich in der Regel von den dichterischen Texten inspirieren lassen und aus den melodischen Linien, die dabei in ihm geweckt wurden, das Lied komponiert.
    Das Ergebnis war: Der Text ist vom Lied vollkommen aufgesogen. Er ist so vollkommen in musikalische Struktur transformiert, dass man ihn als eigenständiges Werk gar nicht mehr wahrnehmen muss (und auch nicht mehr wahrnimmt!), um das Lied in seinem Gehalt in sich aufzunehmen und zu erfassen.


    Arnold Schönberg hat sich einmal genau darüber gewundert. Er stellte fest, dass er, nachdem er die Texte von Schubertliedern einmal mehr oder wenig zufällig gelesen hatte, "dadurch für das Verständnis dieser Lieder gar nichts gewonnen hatte."


    Bei Schumann ist das ganz anders.
    Man muss ein Gespür für Lyrik haben, muss ein Gedicht ein wenig interpretieren können, wenn man begreifen will, worin die kompositorische Leistung Schumanns besteht.
    Bitte recht verstehen: Das gilt nicht für das hörende In-sich-Aufnehmen seiner Lieder. Da kann man sich einfach auf das "Wirkungspotential" verlassen, das in ihnen steckt.
    Es geht um das analytische Hören und den Versuch, die kompositorische Eigenart der Schumann-Lieder zu begreifen.


    Wenn in einem musikalischen Wunderwerk wie der "MONDNACHT" die Seele im Gedicht Eichendorffs ihre Flügel ausspannt, dann bleibt dieses sprachliche Bild in Schumanns Vertonung ganz gegenwärtig.
    Zugleich aber hat man aber beim Hören das Gefühl, dass man an diesem überwältigenden Ereignis teilhat, weil die Musik in ihrer ganz spezifischen Eigenart es nacherleben lässt.


    Man kann natürlich zeigen, woran das liegt. Man kann darauf aufmerksam machen, dass hier Terzen übereinander gelagert werden, dass am Ende des Liedes aus zwei Dreiachteltakten ein Dreivierteltakt wird, der einen buchstäblich in Bann zieht.
    Der weite Bogen der Gesangsstimme und mehr noch die Klavierbegleitung bilden die Bewegung des Ausspannens der Seelenflügel gleichsam ab.
    Nein! Das ist kein Abbilden. Dieses Wort trifft nicht den Kern der Sache.
    Es ist eine letztlich unbegreifliche Evokation von Gefühlen durch das Medium der Musik.

  • sagitt
    "Seine " schone Müllerin" uind die beiden Schumann-Zyklen op. 39 und 48 gehören nach wie vor zu den besten Aufnahmen."


    Schöne Müllerin und op. 48 mit Protschka kann ich nur bestätigen. Dann werde ich mir das op. 39 wohl mal zulegen müssen.


    LG, Bernward


    "Nicht weinen, dass es vorüber ist
    sondern lächeln, dass es gewesen ist"


    Waldemar Kmentt (1929-2015)


  • Sagitt schreibt:
    "ich habe den Zyklus u.a. auch von Tenören"
    Da habe ich mal bei mir ins Schumann-Regal geschaut und folgendes gefunden:


    Christian Elsner/Eugen Wangler
    Peter Schreier/Norman Shetler
    Scot Weir/Till A. Körber


    Zum "Reinhören" wurden "Mondnacht" und "Auf einer Burg" ausgewählt, weil es ja auch nicht sinnvoll ist, diesen Zyklus neun Mal hintereinander zu hören, denn da sind ja auch noch die Herren mit Baritonstimme:


    Sebastian Bluth/Anita Keller
    Fischer-Dieskau/Gerald Moore
    Matthias Goerne/Eric Schneider
    Hermann Prey/Karl Engel
    Andreas Schmidt/Markus Hinterhäuser
    Bryn Terfel/Malcolm Martineau


    In der Tat schwebt einmal mehr Dietrich Fischer-Dieskau über allem, aber das ist eigentlich für Liedkenner keine so große Überraschung.
    Es wäre mir peinlich, hier nun eine Art Tabelle mit Rangordnungen zu erstellen, aber ich glaube herausgehört zu haben, dass die typischen Liedsänger den Text besser interpretieren als die eigentlichen "Opernsänger"; die Aufnahme mit Terfel kann dafür als Beispiel gelten (aber ich habe von Terfel einige gute Schubert-Lieder, was die Aussage relativiert).


    Ja, die Tenöre können das auch, die Aufnahme von Peter Schreier hat mich voll überzeugt.


    Und - weil es auf dieser Seite mehrfach erwähnt wurde - noch eine Anmerkung zu Olaf Bär. Den Liederkreis op.39 kenne ich von ihm nicht, aber in zwei Schubert-Liederabenden, also live, war ich doch etwas enttäuscht.

  • Den 1. Stereo-Zyklus Dieskau/ Moore aus den 60ern fand ich nie wirklich befriedigend. Pars pro toto die letzten beiden Stücke:


    "Im Walde", das ich aus einer Auswahlplatte "Lieder der Romantik" (?) zeitgleich von Prey kenne: "Da blitzten viel Reiter, das Waldhorn klang, ... Und eh ichs gedacht, war alles verhallt" - bei Prey ist das ein mit allen Stimmfarben ausgekosteter Stimmungsgegensatz; Dieskau eilt wenig teilnahmsvoll darüber hinweg.


    "Frühlingsnacht", das Dieskau viel zu verhalten und an sich haltend, zu gemessen singt. Ich kenne eine wundervolle Version der jungen Rothenberger/ Weissenborn, die der Emphase und Extase des Stücks m.E. gerechter wird.


    Die frühere Mono-Version Dieskaus ist von vergleichsloser vokaler Kultur, der Bariton hier von einer Biegsamkeit und Anschmiegsamkeit, einer Weichhheit und Fülle (z.B. Nr. 1 und 2), aber (z.B. Nr. 3 und zumal Nr. 5) bereits von einem Unterton händefaltender Frömmigkeit begleitet, die um ihrer selbst willen dem Text übergestülpt wird (wahrscheinlich muß das Waldgespräch von einer Frau gesungen werden). Dieskau intoniert die Einleitungsstrophen der Mondnacht so leise, als müsse man hier auf Zehenspitzen lauschen - ein mit dem gemeinten Sommernachtsbild unvereinbarer Effekt. Die Seele spannt ihre Flügelchen entsprechend bloß ein ganz klein bißchen auf.


    Der große Ton (am Ende von Nr. 3 und Nr. 6 z.B.) wirkt dadurch immer etwas unvermittelt, gewaltsam und forciert; während ich bei Prey das beherzte Singen, den volkstümlichen Zugriff auf den Text und die sichere Expansion Dieskaus Raffinement vorziehe.


    :hello:

    Zerging in Dunst das heilge römsche Reich


    - uns bliebe gleich die heilge deutsche Kunst!

  • "Mondacht" ist das berühmteste Lied aus op.39, "Zwielicht" ist, wenn nicht das bedeutendste, so doch das ungewöhnlichste.
    In diesem Lied verdichten sich die spezifischen Eigenarten von op. 39: Es ist in hohem Maße repräsentativ für die Art, wie Eichendorff Schumann vertont hat.


    Ich greife, ohne lange nachzudenken, zu Fischer-Dieskau / Alfred Brendel (Philips CD, op.39 und Dichterliebe, Aufnahme 1975).
    Diese Nachdenkerei über die Frage, welches wohl die bedeutendste Interpretation des Liedes sei, und das anschließende Herumsuchen in der Sammlung von Schallplatten und CDs, - das ist manchmal ziemlich lästig und verdirbt einem die Freude am Hören.


    Dämmerung. Das erste Wort, der erste Ton in diesem Gedicht, der Ton, der alles einläutet. Schumann hat ihn eingefangen mit einem Gefälle von Molltönen im Klavier, von oben herab mehrere Tonarten durchlaufend, als hätten sie keinen Ort, wo sie innehalten könnten, zu Hause sein, sich selbst finden.
    Bach ist das, das Thema der h-moll-Fuge im Wohltemperierten Klavier I., aber irgendwie verkehrt herum.
    Was hat das hier zu suchen? Rätselhaft. Schumann, der große Musikkenner? Keine hinreichende Erklärung. Es ist aber genau die Musik, die hierhergehört.
    Manches geht in Nacht verloren. Alles ist vage hier, zwielichtig, in den Bildern Eichendorffs wie in den Klängen Schumanns.
    Die Dämmerung ist ja noch gar nicht da. Sie will nur ihre Flügel ausbreiten. Nein, - spreiten will sie die. Das klingt bedrohlicher, das ist etwas Gewaltsames im Ton. Der Dichter spricht.
    Die Bäume stehen nicht friedlich und still, sie rühren sich, es ist eine urgründige Bewegung in ihnen, wie in den Klängen des Klaviers: Schaurig, eine Flut in Moll.


    Zwielicht. Die Stunde, in der die Nacht auf der Schwelle des Tages steht. "Nacht ist wie ein stilles Meer ...", auch das ist Eichendorff. Aber in Nacht kann man auch verlorengehen. Da wandern Stimmen hin und her, nicht zu orten. Jäger blasen in der Ferne. Man sieht sie nicht, aber sie sind eine Gefahr für das Reh. Und da sind Gesichter, denen man plötzlich nicht mehr trauen kann.


    Schumann hat diese zwielichtige, ja bedohliche Atmosphäre auf geniale Weise musikalisch eingefangen: In den Klängen des Klaviers und in der melodischen Linie der Singstimme.
    Sie folgt der Linie der Sprechmelodie in bewundernswerter Harmonie. Auf "Flügel" sitzt im ersten Vers der Sprechton, und da sitzt er auch in der Melodie. Bei "schwere Träume" hält der Fluss des Verses ein, und die Melodie hält wie in einem Gedankenstrich inne.


    So strömt das hin, ein kontrapunktisches Gewebe von Moll-Tönen, bis die Verse der letzten Strophe einsetzen. Da gibt es eine Aufhellung in diesem Moll-Gewebe, da erhebt sich etwas neugeboren.
    Aber nur einen Takt lang. Und dann kommt die Mahnung. Nackt kommt sie, wie entbeint von allen Klängen und Tönen: Hüte dich!


    Kein Nachspiel. Schumann verzichtet auf das, was er sonst doch sehr liebt. Es gibt eine tiefe Notwendigkeit dafür.
    Große Musik!

  • Letztens erregte ich mich über die Tatsache, dass man die Winterreise mit Gitarrenbegleitung singt. Ich war der Meinung, dass eine Gitarre per se nicht die Funktion erfüllen könne, die Schubert dem Klavier in der Winterreise zugewiesen hat, mal abgesehen davon, dass allein schon vom Klangeindruck her das perkussive Element fehlt, das allein das Klavier einzubringen vermag.


    Ich dachte, das sei das Schlimmste, was mir an problematischem Umgang mit dem Kunstlied begegnen sollte. Ich hatte mich geirrt.
    Am 22. Mai dieses Jahres fand im Rahmen der Schwetzinger Festspiele ein Konzert statt, in dem Christoph Prégardien u.a. Lieder von Schumann sang. Er wurde begleitet von einer Kammermusikgruppe mit dem Namen "ensemble KONTRASTE". (Der Mitschnitt wurde am Pfingstmontag von SWR II gesendet).


    Das war nun wirklich der Gipfel!
    Mein erster Gedanke war: So etwas hätte Fischer-Dieskau niemals im Leben gemacht. Warum beteiligt sich ein Sänger wie Prégardien an einem solchen Unsinn?
    Bei der MONDNACHT hörte man zunächst das von Schumann komponierte Vorspiel mir Klavier. Dann aber setzten bei "als hätt´der Himmel..." leise Streichertöne ein, und bei "träumen müsst" war das volle Ensemble da. Die Stimme des Sängers ertrank förmlich in einer süßlichen Klangsoße. Bei "als flöge sie nach Haus" konnte ich mich des Eindrucks nicht erwehren, als schwebe der Sänger auf einem fliegenden Klangteppich davon.


    Es war unerträglich! Der blanke Kitsch!
    Ich kann mir nicht helfen, aber das war für mich wieder einmal eine typische Ausgeburt unserer Event- und Verpackungskultur. Es geht um die schöne Hülle und den Effekt, den sie bewirkt. Respekt vor dem Werk selbst und vor dem, was sein Schöpfer mit ihm ausdrücken wollte, scheinen heutzutage nicht mehr "in" zu sein.


    Immerhin habe ich bei dieser Gelegenheit - eben weil das Klavier fehlte! - wieder etwas gelernt über die Rolle der Klavierbegleitung in Schumanns Liedern, speziell in op.39.
    Der eigentümlich schwebende Ton der Singstimme in der Mondnacht bedarf, damit er sich in seiner Auf- und Abwärtsbewegung entfalten kann, der klanglichen Stützung durch die sich in Terzen übereinanderschichtenden Klavierakkorde. Und dort, wo der lyrische Text eine Akzentuierung erfordert, treten aus diesen Akkorden einzelne Töne deutlich hervor: "Die Luft ging durch die Felder ..."
    Die große Emphase, die bei "Und meine Seele spannte ..." in das Lied kommt, ist ganz wesentlich eine Leistung des Klaviers.


    Von all dem war in dieser Fassung mit Kammermusikensemble nichts, aber auch wirklich gar nichts zu hören.
    Und noch etwas fiel mir auf: Prégardien artikulierte dieses Mal viel nachlässiger, als ich das von ihm gewohnt bin.


    Ich fühle mich bestärkt in meiner Haltung:
    Ein Lied hat so interpretiert zu werden, wie das in den Noten steht.
    Hat eine(r) von euch dieses Konzert vielleicht auch gehört?
    Ich bin mir durchaus bewusst, dass ich in meiner möglicherweise allzu puristischen Haltung ein Korrektiv nötig haben könnte.

  • Meine Freunde,


    auch wenn ich die Meriten der Mondnacht durchaus zu schätzen wisse - kennt jemand eine Aufnahme, in der sich die übermäßige Oktavreibung e'-eis'' überzeugend anhört? - Die ausgedünnte Harmonie der Klavierbegleitung unterstreicht die dissonante Vokallinie dermaßen, daß die Mondnacht hier immer fast schon vorbei ist, ehe sie recht angefangen hat, für meine zarten Ohren.


    :hello:

    Zerging in Dunst das heilge römsche Reich


    - uns bliebe gleich die heilge deutsche Kunst!

  • Lieber Helmut Hofmann,
    nein, ich hab das nicht gehört, aber eine begeisterte Kritik zu diesem Konzert gelesen (wobei ich solcherart Verlautbarungen mit etwas Vorsicht genieße).


    Aber dieses Konzert (Prégardien gab hier ja drei Abende) hatte schließlich einen Vorlauf - und da war ich natürlich dabei.
    Am Pfingstsamstag war hier im Kammermusiksaal eine ÖFFENTLICHE GESPRÄCHSRUNDE: Die deutsche Romantik - Aufbruch ins Grenzenlose?


    Christoph Prégardien und Rüdiger Safranski waren die Protagonisten (das Gespräch wurde Pfingstmontag in SWR2 gesendet).
    In Verlaufe dieses Geprächs sagte Prégardien u.a. auch "wir verwalten kein Museum" und er fordert seine Studenten auf mutig zu sein.


    Safranskis Romantik-Buch wird ja von der Kritik auch völlig unterschiedlich bewertet, also an was soll man sich denn noch halten? Man tut wohl gut daran, zu eigenen Bewertungsmaßstäben zu kommen...


    Also kommen wir mal zu "meinem" Konzertabend mit den zwei Prégardiens:
    (auf einer anderen Seite des Forums habe ich kurz darüber informiert)


    SCHUMANN UND ANDERE ROMANTIKER - Das Konzert umfasste Liedkompositionen von Mozart, Beethoven, Schubert, Schreker, Brahms und Schumann.
    Zu Beginn des Abends trat Michael Gees an die Rampe und teilte mit, dass das ein Abend auch etwas abseits der üblichen Hörgewohnheiten werde...


    Das Publikum war zunächst dahingehend verunsichert, dass nach jedem Lied geklatscht wurde, natürlich mag ich so etwas überhaupt nicht, aber das war eher eine organisatorische Panne, weil zwei Sänger gleichzeitig auf der Bühne standen, dieser Fauxpas konnte abgestellt werden.


    Ansonsten wurde hier ganz ernsthaft und diszipliniert musiziert, als Unsinn sollte man so etwas eigentlich nicht bezeichnen (diesen Begriff verwende ich nur für "meinen" Berliner Schwanengesang).


    Aber ich gebe zu, es ist ein ernstes Thema und "Event- und Verpackungskultur" ist eine Gefahr, die ich durchaus sehe - einerseits...
    Andererseits hat mir der Abend recht gut gefallen, weil ich da eben zuhause bin (ich meine das Metier) und mal wirklich etwas noch nie Dagewesenes erleben konnte.
    Nein, Fischer-Dieskau wäre das nicht "passiert", aber es ist zu fragen, ob überhaupt etwas passiert ist.


    Am 18. Juni höre ich Prégardien nochmal bei der Schubertiade in Schwarzenberg, ganz seriös mit "Schwanengesang", ohne Event-Charakter - keine Aufregung, alles wird gut.

  • Ich bin froh, dass Du auf die positive Kritik dieser Veranstaltung hingewiesen hast, lieber hart.
    Ich habe diese zwar nicht gelesen, kann mir aber denken, worauf sie sich u.a. gründet.
    Die Interpretation der Hölderlin-Vertonungen von Wilhelm Killmayer, die Prégardien nach den Schumann-Liedern brachte, hat mich sehr beeindruckt. Das war perfekt musiziert!
    Aus meiner Kritik, die sich ja ausschließlich auf die Schumann-Lieder bezog, konnte man einen ganz falschen Eindruck von diesem Liederabend bekommen. War ein Fehler, meinerseits.

  • Banner Trailer 2 Gelbe Rose
  • Zwiespalt, ein Leseerlebnis



    Eichendorfs Zwielicht-Gedicht hat auf mich nie so suggestiv gewirkt wie auf z.B. HH


    Schweigt der Menschen laute Lust:
    Rauscht die Erde wie in Träumen
    wunderbar mit allen Bäumen,
    was dem Herzen kaum bewußt,
    alte Zeiten, linde Trauer,
    und es schweifen leise Schauer
    wetterleuchtend durch die Brust.



    das erschien mir immer wie die Originalversion, die in Zwielicht (Str.1) bloß variiert wird.



    Dämmrung will die Flügel spreiten -


    zugegeben, der erste Vers besitzt große Magie (spreiten hat übrigens gar nichts Bedrohliches, es ist bloß poetisch überhöht). Aber schon das Schaurig des zweiten Verses fällt ab, ist zu deutlich und zerstört die Stimmung, die suggeriert, nicht benannt werden müßte. Ebenso wie Vers 4 die rhetorische Frage:


    Was will dieses Graun bedeuten?


    Unheimlich am Gedicht sind leider die gesuchte und geradezu klaustrophobisch konventionelle Wald-Metaphorik, das grasende Reh zumal und die blasenden Jäger.


    Stimmen hin und wieder wandern


    - wiederum ein eigenartig unbildlicher Leerlaufvers zum Strophenschluß.


    Was dann folgt, erinnert etwas an Kalenderweisheiten (Sinnt er Krieg im tückschen Frieden wirkt dermaßen abgedroschen und spruchreif, dazu auch übertrieben durch den paranoiden Krieg, wo doch Hinterlist und Tücke schon reichen würden).


    Was heut gehet müde unter,
    Hebt sich morgen neu geboren


    - da ist nun alle Stimmung zum Teufel, das schmeckt nach Sonntagspredigt.


    Fazit: manchmal ist die komponierte Fassung durchgängiger als der Text.

    Zerging in Dunst das heilge römsche Reich


    - uns bliebe gleich die heilge deutsche Kunst!

  • Sei mir nicht böse, lieber farinelli, aber so, wie du das hier bei "Zwielicht" machst, sollte man, meine ich, mit einem Eichendorff-Gedicht nicht umgehen. Mir jedenfalls tut das in der Seele weh.
    Wenn man einzelne Bilder aus dem Kontext löst, sie isoliert und mit dem Messer analytischer Rationalität seziert, zerstört man ihren Zauber.
    Das muss ich natürlich begründen.


    Wenn man Eichendorffs Gedichte nicht einfach nur liest, - wozu sie ja eigentlich da sind -, sondern nach der Methode der Literaturwissenschaft interpretatorisch an sie herangeht, dann fällt einem ein merkwürdiger Sachverhalt auf:
    Bestimmte Bilder kehren bei diesem Dichter immer wieder, und sie sind alle nach einem bestimmten Muster aufgebaut. Dieses Muster ist zudem von einer auffälligen Simplizität, so dass die Bilder, betrachtet man sie auf ihren sprachlichen Aufbau hin, fast banal wirken.
    Beispiele: "goldene Sterne", "weite Ferne", "stilles Land", "prächtige Sommernacht", "sacht rauschende Wälder", "stille Gegend", "dämmernde Lauben", "schwindelnde Felsenschlüfte", "stille Einsamkeit", und so fort.


    Das Verblüffende ist nun, dass einem dieser Sachverhalt beim unreflektierten Lesen überhaupt nicht auffällt. Erst der Germanistenblick stößt darauf und versucht natürlich, dieses Rätsel der Eichendorff-Lyrik zu lösen.
    Das geschah durch zwei bahnbrechende Untersuchungen in den sechziger Jahren, auf die ich hier nicht näher eingehen möchte. Deren Ergebnis ist allerdings für das Eichendorff-Verständnis wichtig.


    Der Zauber, der von dieser eigentümlichen Stereotypie seiner Sprachfiguren und Motive ausgeht, beruht darauf, dass ihre Einfachheit völlig vergessen lässt, dass sie poetische Produkte sind. Sie wirken beinahe so "naturhaft" wie die Bilder und die Sprache des Volksliedes.
    Ihre einfache Nennung im lyrischen Kontext suggeriert dem Leser, dass die Welt, von der die Gedichte Eichendorffs handeln, sich in ihnen selbst ausspricht.
    Nicht der Dichter spricht, - die Dinge sprechen.


    Der Dichter Paul Heyse hat in den neunziger Jahren des 19. Jhs. einen seiner Romanhelden folgendes über Eichendorff sagen lassen:
    "Keiner unserer Lyriker hat diesen heimatlichen Zauberklang, der in so rührender Eintönigkeit mit so wenigen Bildern und Akkorden unser Herz gefangen nimmt. Ich weiß ihn auswendig, und doch ist er immer wieder neu wie die Stimmen der Natur selbst."


    Vielleicht noch ein typisches Beispiel dafür:
    Eichendorff NACHTS


    Ich stehe am Waldesschatten
    Wie an des Lebens Rand,
    Die Länder wie dämmernde Matten,
    Der Strom wie ein silbern Band.


    Von fern nur schlagen die Glocken
    Über die Wälder herein,
    Ein Reh hebt den Kopf erschrocken
    Und schlummert gleich wieder ein.


    Der Wald aber rühret die Wipfel
    Im Traum von der Felsenwand.
    Denn der Herr geht über die Gipfel
    Und segnet das stille Land.


    Dieses Bild vom Reh wirkt, wenn man es aus dem Gedicht herauslöst, ein wenig kitischig. Im sprachlichen Kontext des ganzen Gedichts aber entfaltet eine fast magische Kraft.
    Es evoziert auf eindringliche Weise die universale nächtliche Ruhe.


    Dieses Gedicht ist übrigens von Pfitzner auf geniale Weise vertont worden.
    Wie ich überhaupt noch einmal bei dieser Gelegenheit auf die teilweise wunderschönen Eichendorff-Lieder Pfitzners verweisen möchte.

  • Es ist nicht thread-Thema und ich bin sicher nicht kompetent, Eichendorff zu analysieren. Aber ich finde "Zwielicht" ingesamt erheblich einheitlicher gelungen als "Nachts", was nach der ersten Strophe m.E. deutlich nachlässt, selbst wenn es sich in der dritten wieder ein wenig fängt. Das Reh ist da nur der Tiefpunkt, kein Ausreißer...


    Ad "Zwielicht": Die Pointe ist doch die "Destruktion" des "Kalenderverses" (Was heut müde gehet unter/hebt sich morgen neugeboren) durch: "Manches bleibt in Nacht verloren/ Hüte dich, sei wach und munter!"


    Ich mochte das Gedicht jedenfalls schon als Teenager sehr gerne, lange bevor ich die Vertonung zum ersten Mal gehört habe.


    :hello:


    JR

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • Formal gesehen hast Du recht, lieber Johannes Roehl: Eichendorff ist nicht thread-Thema.


    Aber ich darf darauf hinweisen, dass es kein Zufall ist, dass Schumann 21 Gedichte von Eichendorff vertont hat.
    Er fühlte sich von diesem Dichter unmittelbar angesprochen. Eichendorff war für ihn ein Vertreter der "neuen Dichterschule", die es erst ermöglicht habe, dass "eine kunstvollere und tiefsinnigere Art des Liedes" geschaffen werden könne.


    So hat Schumann sein Liedschaffen verstanden. Sein op.39, um das es hier ja geht, ist ein großartiger Beweis dafür. Die "Initialzündung" dazu, wenn ich es einmal so salopp formulieren darf, gab der ganz spezifische lyrische Zauber, der von den Gedichten Eichendorffs auf den Komponisten Schumann ausging.


    Diesen Zauber hier in diesem Thread ein wenig ins Bewusstsein zu rufen, das war mein Anliegen.
    Dein Geständnis, dass Du "Zwielicht" schon als Teenager sehr gemocht hast, hat mich gerührt!

  • Lieber Helmut,


    das 1.Lied aus diesem Liederkreis haben die Beteiligten ja nun in einem anderen Thread "geklärt".


    Es wäre eine gute Sache, den ganzen Liederkreis so zu "behandeln"; allerdings wäre für mich folgende Reihenfolge sinnvoll:


    1. Jedes Gedicht einzeln auf seine Aussage/Inhalt zu untersuchen - in der Diskussion darüber nicht überbrückbare andere Ansichten festhalten - siehe 2. + 3.


    2. Die Gedichtaussagen - mit den Unterschieden gem. 1. - auf ihre musikalische Umsetzung untersuchen, dabei u. U. nochmals Abweichungen des Komponisten zu 1. feststellen und alle diese Unterschiede festhalten.


    3. Erst dann macht ein Interpretationsvergleich Sinn, wobei die unter 1. und 2. festgestellten Differenzen dabei einfließen müssten.(Wobei für mich FiDi der Interpret ist; wenn ich mit einzelnen Passagen oder ganzen Gedichten mit seiner Interpretation nicht völlig zufrieden bin, dann weiß ich das für mich und auch warum - und ich weiß auch, dass ich nie eine in allen Teilen für mich perfekte Interpretation finden werde - und aus verschiednen Interpretationen mir auf der Festplatte dann "die Interpretation" zusammen zu "schustern", das wäre ja wohl das Allerletzte - vom Zeitaufwand und den Kosten ganz zu schweigen.)


    Dieses Vorgehen ist sehr zeitaufwändig und schwierig, auch was die praktische Umsetzung angeht - ich würde z. B. Dein (erfahrenes) Tempo - Beitrag/Antwort - nicht mithalten können.
    (Für mich besonders schwierig, weil
    1. es mich intellektuell sehr fordert
    2. ich im Forum auch noch andere Interessen habe, außer Kunstlied (der Thread "Was wir schon immer über Musik und Gehirn…" kostet(e) mich viel Zeit, ist mir aber wichtig; in einem anderen Thread hast Du schon erfahren, wie bedeutsam mir die emotionale Seite ist.)
    3. - und das müsste eigentlich an 1. Stelle stehen - ich im Alltag etliche Verpflichtungen habe.)


    Hinzu kommt, wer "ist mit von der Partie"? - farinelli und???
    Sind 2-3 zu wenig - sind 5-6 zuviel?


    Ich bin unschlüssig!


    Herzliche Grüße
    zweiterbass

    Wer die Musik sich erkiest, hat ein himmlisch Gut bekommen (gewonnen)... Eduard Mörike/Hugo Distler

    2 Mal editiert, zuletzt von zweiterbass ()

  • Lieber zweiterbass,


    an sich ist das eine gute Idee. Aber ich sehe Probleme, und die zeichnen sich in einer Deiner Formulierungen ab, die ich jetzt mal zitieren möchte:


    "Hinzu kommt, wer "ist mit von der Partie"? - farinelli und???
    Sind 2-3 zu wenig - sind 5-6 zuviel?"


    Ich meine, dieses Vorhaben ist nur zu realisieren, wenn sich möglichst viele Taminoaner/innen daran beteiligen. Sonst wird das auf eine Angelegenheit hinauslaufen, die sich zwischen Dir und mir und vielleicht farinelli abspielt, der sich aber dazu überhaupt noch nicht geäußert hat.


    Ich habe im Thread "Sprache und Musik im Lied" die äußerst unangenehme Erfahrung der relativen bis absoluten "Echolosigkeit" meiner Beiträge gemacht. Die möchte ich nicht noch einmal in einem anderen Thread machen müssen. Die Frage ist doch:


    Wie groß ist das Interesse an einer differenzierten Betrachtung der einzelnen Lieder von op.39, wie Du sie in Deinem Vorschlag skizziert hast?


  • *** Nach dem Tamino-Crash in 2010 rekonstruiert von meiner Festplatte ***


    Was ist das Eigentümliche des Zyklus‘? Die starken romantischen Bilder von Rosen, Bächlein, Wolken, Wäldern, Wipfeln, Schlössern, Rittern, Hexen, Sternen und Mondesschimmer? Sind es die Stimmungen von Verschwiegenheit, Geheimnis, Stille, Einsamkeit, Dämmerung, Nacht, Liebesglück und Hochzeit? Vielleicht keines von beiden, sondern – eine Abstraktionsebene höher - die Unmittelbarkeit, die Ungebrochenheit dieser Bilder. Es gibt dahinter kein „eigentlich ist alles anders“, es gibt keine Andeutung von Ironie. Es gibt aber eine Gleichzeitigkeit von Wirklichkeit und Unwirklichkeit, die einander nicht negieren, sondern einander gelten lassen, und die Ahnung davon, dass dieser Widerspruch transzendiert wird in der Sehnsucht nach einer anderen Welt.


    So meine ich, derjenige Interpret wäre auf falschem Wege, der sich in der Ausformung von Details verlöre oder die Lieder gar von der intellektuellen Seite her anginge. Es kommt viel mehr darauf an, jedes Lied unter dem ihm eigenen Stimmungsbogen als Einheit darzustellen, und die spezifische Farbe und Emotion möglichst suggestiv vor dem geistigen Auge des Hörers zu imaginieren. Die Aufgabe heißt, den Grundton des Liedes von Anfang an zu treffen und im Laufe der Miniatur nur noch in angemessener Weise abzuschattieren.


    Wie in der Dichterliebe op. 48 finden wir auch in op. 39 verschlüsselte Botschaften an Clara, etwa die Klavierbassnoten E-H-E (Ehe) in der „Mondnacht“ und im „Zwielicht“ bei der Textstelle „Hast ein Reh du lieb vor andern, lass es nicht alleine grasen“.



    Dame Margaret Price scheint der Kraft der Bilder nicht ganz zu trauen. Sie müht sich hörbar, alles deutlicher zu sagen und präziser auszudrücken, als es eventuell gemeint war. Ihr Vortrag leidet unter einer überdeutlichen Artikulation der Konsonanten (z. B. Nr. 2: „das sieht so friSCH und fröhliCH“ – herausgemeißelte Differenzierung zwischen „sch“ und „ch“ – trotz aller Korrektheit wirkt es penibel und aufdringlich). Obwohl sie den liedspezifischen Grundton stets sehr gut trifft – vom hervorragenden Pianisten Graham Johnson bestens unterstützt - , verhindert dieses exakte Herausarbeiten der Wortkonturen oft das Aufkommen der helldunklen Atmosphäre, derer diese Lieder bedürfen, um ihren Zauber zu entfalten. Auch in Nr. 8 „In der Fremde“ übersingt sie kräftig zupackend die Vortragsbezeichnungen „Zart, heimlich“ sowie das vorgeschriebene Piano.


    Ansonsten ist das alles handwerklich perfekt gesungen, und die Sängerin weiß wohl um die unendlichen Schattierungsmöglichkeiten, um die aberdutzend Abstufungen zwischen Hell und Dunkel, und setzt diese sehr wohl in sinnvoller Weise ein. Fast unnötig zu erwähnen, dass sie völlig akzentfrei singt. Sie ist häufig auf der zügigen Seite der Tempi („Mondnacht“ in 3:54), ohne, dass es je geeilt klänge. Es ist vor allem die stellenweise überscharfe Artikulation der Konsonanten, die dem Sichverlieren in den Moment entgegen steht – schade.



    Nach den ersten Takten von Nr. 1 „In der Fremde“ mit Peter Schreier in einer frühen Aufnahme, die um 1975 mit dem Pianisten Norman Shetler entstanden ist, habe ich bemerkt, was der Aufnahme von Dame Margaret Price noch fehlt: Die innere Ruhe. Peter Schreier nimmt sofort gefangen durch seine Gelassenheit, durch das Geschehenlassen, durch das absichtslose Durchwandern der Miniaturen. Ich finde es verblüffend, wie dieses scheinbare Nicht-Gestalten mich viel mehr in das Lied hineinzieht als die Differenzierungsbemühungen der vorigen Aufnahme. Geradezu magisch. Peter Schreier wirkt auf mich in dem Maße natürlich, in dem ich das Singen von Dame Margaret Price künstlich empfand. Gerade das ist vielleicht die Kunst der Darstellung von op. 39, dass man die Kunst nicht als solche wahrnimmt, sondern für Natur hält. Das würde gerade zu Eichendorff sehr gut passen. Erstaunlich finde ich auch, wie gut Schreier und Shetler für jedes Lied einen Spannungsbogen finden: Ich komme gleich hinein, es gibt vielleicht Steigerungen, Zuspitzungen, aber jedes Lied kommt auch wieder nach Hause, ist ein abgeschlossenes Ganzes. - Unaufdringlich, doch klar verständlich der Text.


    Nicht jeder mag Schreier helles, obertonreiches Timbre – ich komme sehr gut damit zurecht. In Porträts des Sängers ist immer wieder zu lesen, dass seine Stimme über vergleichsweise wenig Farben verfüge. Diese Feststellung kann auch die hier vorliegende Einspielung nicht entkräften. Dennoch: Wort, Musik und Interpretation sind hier hörbare Einheit. Wer dem Sänger, der vielen vor allem als Evangelist der Passionen J. S. Bachs im Ohr sein mag, die Fähigkeit zur Leidenschaft abzusprechen versucht ist, höre die „Frühlingsnacht“, mit der er den Zyklus krönend beschließt. Ich habe op. 39 in der Wiedergabe von Peter Schreier und Norman Shetler sehr genossen.



    Sehr elegisch hebt der Zyklus bei Josef Protschka und Helmut Deutsch an – fast zweieinhalb Minuten für Nr. 1 „In der Fremde“ ist rekordverdächtig. Diese Tendenz setzt sich in den folgenden Liedern fort, etwa in der „Mondnacht“ mit 4:49, in „Auf einer Burg“ mit 3:33, in „Zwielicht“ mit 4:04. Man sollte etwas mehr Zeit für diese Version mitbringen.


    Das ist natürlich noch keine Aussage über die künstlerische Qualität. Auf der handwerklichen Seite ist großes Können zu bestaunen, angefangen bei der hervorragenden (aber unaufdringlichen) Textverständlichkeit, über die Atemkontrolle, die dynamische Spannweite, die Fähigkeit, die Stimme frei schwingen zu lassen – auch in höherer Lage - , der Ausgleich der Register usw. usw., es ist alles „da“. Und doch: Was Schreier/Shetler gelang, nämlich vom ersten Takt an die Grundstimmung des Liedes in den Raum zu stellen und den Hörer hineinzunehmen in das Bild aus Wort und Ton, das geschieht hier in meiner Wahrnehmung nur in Ansätzen. Es bleibt ein Vortrag, es bleibt eine Distanz zwischen Lied, Interpret und Hörer, die nicht überwunden wird. So ziehen sich Lieder wie Nr. 7 „Auf einer Burg“ oder Nr. 9 „Wehmut“ doch ziemlich lange hin. Protschka und Deutsch scheitern daran, die Zeit, die sie sich nehmen, in Ruhe und Atmosphäre zu verwandeln. Es ist alles „richtig gemacht“, aber ich erinnere mich beim Hören an Mahlers Worte: „Das Wesentliche steht hinter den Noten“ – wie recht hatte er doch. Erst im letzten Lied „Frühlingsnacht“, in dem sie wirklich Leidenschaft zum Hörer transportieren, höre ich, was den beiden Interpreten möglich gewesen wäre – zu spät.



    Werner Güra vermag mich alleine schon durch sein Timbre zu fesseln. Hell, leicht, völlig frei in der Höhe, mit perfektem Vokalausgleich - das klingt alles so, als wäre Singen das Einfachste von der Welt. Zusammen mit dem von Jan Schultsz gespielten historischen Klavier, über das das Beiheft leider nur „Bechstein piano“ sagt, entsteht ein ganz eigener Klang für diesen Zyklus. Nicht so perkussiv und obertönig wie manchmal bei Prégardien/Staier, irgendwo zwischen diesen und dem üblichen Steinway-Klang. Sehr apart.


    Groß ist die Differenzierungskunst des Sängers, zu bestaunen etwa (aber nicht nur) in Nr. 3 „Waldesgespräch“. Er stellt sie aber nicht plakativ zur Schau. Wenn es „fröhlich“ im Text heißt (Nr. 2 „Intermezzo“), nimmt er das nicht gleich zum Anlass, wie ein schlechter Schauspieler den Textinhalt durch vokalen Gestus einfach zu verdoppeln.


    Die Ruhe und Magie der Schreier/Shetler-Einspielung geht ihnen leider ab. Es fehlt manchmal am entspannten Nachgeben, am Weniger-Tun, am Einfach-Geschehen-Lassen. In der „Mondnacht“ spannen die Flügel der Seele nicht weit aus, dieses Lied wird recht gleichmäßig-glatt vorgetragen. Dieses Lied ist mit am wenigsten gelungen. Sie evozieren durchaus bei manchen Liedern eine angemessene Atmosphäre, es ist weit mehr als nur „richtig gemacht“ wie bei Protschka/Deutsch. Aber das Hineinziehen in die Bilder, das Güra und Schultsz am ehesten in den schnelleren Liedern wie Nr. 6 „Schöne Fremde“ oder Nr. 8 „In der Fremde“ gelingt, ereignet sich bei den ruhigeren Liedern nur in Ansätzen. Das große Plus der Aufnahme ist die herrliche Stimme Güras und der Zusammenklang mit dem Bechstein.


    Wie so oft, so ist auch bei diesem Zyklus die diskographische Hinterlassenschaft Dietrich Fischer-Dieskaus vielfältig. Die älteste mir vorliegende Aufnahme von Schumanns op. 39 mit Dietrich Fischer-Dieskau wurde im März 1954 zusammen mit Gerald Moore für die EMI in der Abbey Road eingespielt und ist z. B. in dieser Box enthalten:



    Sehr zurückhaltend beginnt der Zyklus, geradezu keusch die ersten beiden Lieder. In Nr. 3 „Waldesgespräch“ höre ich eine breite Palette von Stimmfarben. Auffällig ist im ganzen Zyklus der elastische Umgang mit dem Tempo, auch da, wo der Komponist kein Verlangsamen, kein Beschleunigen vorgeschrieben hat – die beiden Interpreten nehmen sich diesbezüglich alle Freiheiten. In Nr. 4 „Die Stille“ lässt der Sänger in der Zeile „kein Mensch es sonst wissen sollt‘ “ das Schluss-t weg – so steht es zwar nicht bei Schumann, aber bei Eichendorff. Fischer-Dieskau hat es gelesen. So auch in allen folgenden Aufnahmen.


    Im Unterschied zu Schreier/Shetler schaffen Fischer-Dieskau/Moore die Stimmungen nicht aus der Magie eines gelungenen Anfangs, sondern durch viele kleine Differenzierungen. Die Stimmungen entstehen durch kleinste Betonungen, Farbveränderungen, Artikulationsvarianten; weniger durch eine einzelne für sich alleine, als vielmehr durch deren Summe. So bleiben auch eher langsam genommene Lieder wie Nr. 7 „Auf einer Burg“ unter einem Spannungsbogen, der trägt. Diese Interpretation lebt nicht vom Zauber, sondern von der Vielfalt der kleinen und kleinsten Veränderungen von Farben, Tempi, Zartheiten. Ich finde es sehr spannend, zuzuhören, es könnte ewig (zumindest sehr lange) so weitergehen ohne langweilig zu sein, aber es bleibt eine Distanz zwischen den Interpreten und dem Stück. Während bei Schreier/Shetler die Lieder von innen leuchten und durch deren Mund bzw. deren Finger zum Sprechen gebracht werden, zeigen Fischer-Dieskau/Moore die Schönheiten und Details von außen. Schreier/Shetler exponieren die Stimmung eines Liedes in wenigen Tönen und müssen dann eigentlich nichts mehr tun, um das Lied interessant darzustellen, weil die wesentlichen Parameter perfekt umrissen sind. Fischer-Dieskau/Moore beginnen unspezifischer und kommen erst im Laufe eines Liedes durch Detailarbeit zum Kern der Sache.


    Die ganze Distanz zeigt exemplarisch ein Vergleich des letzten Liedes „Frühlingsnacht“: Gebremste Emotion bei Fischer-Dieskau/Moore. Bei Schreier/Shetler hingegen ist die Vortragsbezeichnung „leidenschaftlich“ vom ersten Ton an spürbar, das jubiliert und vibriert bis zur Emphase des abschließenden „Sie ist dein!“. Bei der einen Aufnahme spricht der Dichter, bei der anderen der Studienrat.



    Die nächste Aufnahme stammt aus dem Monat Oktober 1955 mit dem Pianisten Günther Weißenborn. Das erste Lied ist um einen entscheidenden Tick schneller und vor allem atmosphärischer – die Einsamkeit des lyrischen Ichs wird greifbar. Die Interpretation kann insgesamt so beschrieben werden, dass die filigrane Mikrodifferenzierung des Jahres 1954 einer großflächigeren und doch stimmigeren Darstellung gewichen ist. Die Lieder bleiben in sich jeweils homogener, insbesondere, weil die zahlreichen Rubati im Vergleich zu 1954 reduziert wurden. Das begünstigt die Einheit des Liedes, und Sänger und Pianist machen den emotionalen Rahmen des Liedes schneller erfassbar. Trotzdem erlaubt sich Fischer-Dieskau hier intensiveren Ausdruck als in der älteren Aufnahme, durchschreitet einen größeren Radius seiner stimmlichen Mittel. Die Stimme klingt meist heller timbriert als in der älteren Aufnahme. Die Distanz zwischen Werk und Interpret ist aber nicht restlos beseitigt.


    Die „Mondnacht“ ist mit 3:33 einer der schnellsten. - Im letzten Lied fehlt wieder die Leidenschaft. Fischer-Dieskau behält alles unter Kontrolle, lässt nicht los, gibt die Emotionen nicht frei, wenngleich es durchaus leidenschaftlicher als in 1954 klingt.



    Einen großen Schritt weiter in der von 1954 nach 1955 eingeschlagenen Richtung geht die Wiedergabe des Zyklus‘, die am 29. Juli 1959 bei einem Liederabend im Rahmen der Salzburger Festspiele mitgeschnitten wurde. Dietrich Fischer-Dieskau und Gerald Moore imaginieren in wenigen Momenten den Grundton, die bestimmende Farbe eines jeden Liedes. An den entscheidenden Stellen scheint es, als ob sich die Interpreten zurücknehmen und das Lied alleine wirken lassen. Es klingt entspannter und gelassener als Mitte der 50er Jahre. Hier werden Räume geöffnet, in denen die „Seele ihre Flügel weit ausspannen“ kann. Dass dies gerade unter den Bedingungen einer Live-Aufnahme geschieht, hätte ich nicht vermutet.


    Die kleinen Temporückungen aus dem Jahre 1954 sind wieder da, aber um wieviel organischer wirkt dies alles, wie wenig „gemacht“! Doch der Zauber dieser Aufnahme liegt vielleicht vor allem in der Liebkosung einzelner Phrasen, die von Fischer-Dieskau mit einer selbst für ihn seltenen Zartheit in den Raum gestellt werden. Es ist nicht mehr das Entdecken und Darstellen der Details, die er gefunden hatte und - wie ein Mineraloge seine Gesteinssammlung - stolz präsentierte. Ich höre nunmehr eine fast erotische Resonanz zwischen Werk und Interpret, es vibriert und pulst, mehr innerlich gefühlt als äußerlich wahrnehmbar. Eine Sternstunde des Liedgesangs.



    Rund achtzehn Jahre nach dem oben genannten Live-Mitschnitt ging Dietrich Fischer-Dieskau als 52jähriger noch einmal ins Schallplattenstudio, um Schumanns op. 39 aufzunehmen. Auf den ersten Blick hat sich wenig geändert: Die Tempi sind meist bis auf wenige Sekunden dieselben wie damals in Salzburg, der Grundton jedes Liedes wird von Anfang an getroffen, die Einheit der Lieder wird herausgestellt, vieles scheint von derselben Zartheit getragen wie im Jahre 1959. Ich habe auch diese Einspielung sehr gerne gehört.


    Einige wenige Einschränkungen möchte ich machten, sie sind gering. Hohe Passagen (Nr. 3, in der Rede der Hexe: „Es ist schon spät, es ist schon kalt“) stehen dem Sänger vielleicht nicht mehr ganz so anstrengungsfrei zur Verfügung. Das „große Glück“ am Ende von Nr. 6 ist mehr postuliert als visionär geschaut. Die Portamenti in Nr. 7 „Auf einer Burg“ sind für meinen Geschmack grenzwertig. Doch dies alles ist eher marginal. Was ich schmerzlicher vermisse, ist das Glück des Augenblicks, das die Aufnahme von 1959 trägt.

  • Zitat Wolfram:


    "*** Nach dem Tamino-Crash in 2010 rekonstruiert von meiner Festplatte ***"


    So sehr zu begrüßen ist, dass diese ausführliche und sehr differenzierte Analyse von Interpretationen des Zyklus wieder ins Forum gestellt wurde, - man hätte sich doch gewünscht, dass - und wenn auch nur mit einem Nebensatz! - auf die Initiative von zweiterbass (Beitrag vom 7. Januar) eingegangen worden wäre.


    So wäre es zum Beispiel doch hochinteressant, der folgenden Feststellung nachzugehen und sie anhand einer Betrachtung der einzelnen Lieder zu konkretisieren und auf ihre Gültigkeit zu überprüfen:


    "Es gibt aber eine Gleichzeitigkeit von Wirklichkeit und Unwirklichkeit, die einander nicht negieren, sondern einander gelten lassen, und die Ahnung davon, dass dieser Widerspruch transzendiert wird in der Sehnsucht nach einer anderen Welt." (Zitat Wolfram)


    Nur so ein Gedankenspiel: Man übertrage diesen Satz mal auf das Lied "ZWIELICHT" ...


    ... und dann ahnt man, wie segensreich das Prinzip des Dialogs ist.

  • Lieber Helmut,
    liebe Kunstliedfreunde,


    meine zuletzt geäußerte Unschlüssigkeit stelle ich nun mal beiseite, vielleicht tut das Helmut mit seinen Zweifeln auch, Wolfram "ist ja schon im Boot",
    farinelli? ( H A L L O ! ) - wäre sehr zu wünschen - dann sind wir doch schon zu Viert, bei ca. 800 reg. Usern werden sich doch noch …? finden! (und wenn Helmut doch Recht behält, dann schläft's halt irgendwann wieder ein.)


    Die von Schubert vertonten "Müller-Gedichte" waren schon vom Dichter als ein Werk konzipiert; Gleiches vermute (?) ich bei den Schumann'schen Kerner-Liedern; op. 39 sicher nicht, dennoch könnte man einen direkten Bezug zu Schumanns Lebenslauf (z. T.) finden, den ich zumindest beim "Waldesgespräche" (noch?) nicht erkennen kann.


    In Abweichung von meinem ursprünglichen Vorschlag - es vereinfacht die Handhabung - werde ich in meinem nächsten Beitrag zu "Intermezzo" meine Gedanken zum Text (incl. Lebensbezug Schumann) und der musikalischen Umsetzung mitteilen. Natürlich lasse ich Helmut gerne den Vortritt - dann brauche ich u. U. nur noch meine kleinen Wünsche anmelden.


    Herzliche Grüße
    zweiterbass

    Wer die Musik sich erkiest, hat ein himmlisch Gut bekommen (gewonnen)... Eduard Mörike/Hugo Distler

  • Nur ganz kurz und als Nachtrag:


    Du sagst, lieber zweiterbass: "Wolfram ist schon im Boot". Ich fände es sehr schön, wenn dem so wäre, habe seinen Beitrag aber nicht so verstanden.


    Deine Vermutung bezüglich der Kerner-Lieder - Du hattest sie mit einem Fragezeichen versehen - ist richtig: Die Auswahl stammt, wie bei op,39 auch, von Schumann selbst. Dass in beiden Fällen ein Zusammenhang mit der Biographie besteht, wurde in den betreffenden Threads bereits aufgezeigt.


    Schön, dass Du so optimistisch bist. Meine Skepsis hindert mich daran, diesen Optimismus zu teilen, aber ich beflügele Dich sehr gerne darin.

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