BACH, Johann Sebastian, zugeschrieben: LUKAS-PASSION


  • Johann Sebastian Bach (1685-1750) zugeschrieben:
    PASSIO DOMINI NOSTRI JESU CHRISTI SECUNDUM LUCAM

    Passionsmusik in zwei Teilen, BWV 246 (Anhang II 30)*
    Texte: Lukas-Evangelium und freie Dichtungen eines unbekannten Dichters


    BachLukasEmpfehlungsschreiben.jpg



    Stimmen- und Orchesterbesetzung


    Solisten und Chor: Sopran, Alt, Tenor, Bass
    Flauto traverso I/II - Oboe I/II - Taille - Fagott
    Violino I/II - Viola - Violoncello - Orgel
    Continuo



    INHALTSANGABE


    Erster Teil


    (Der freie Text des unbekannten Dichters wird vollständig, der Evangelientext nach Lukas 22 und 23 erklärend wiedergegeben.)


    Die Passion wird von einem Chorsatz eingeleitet, dessen Text noch barocke Sprachkraft besitzt, die Musik aber bereits die Vorklassik erkennen lässt:


    Furcht und Zittern, Scham und Schmerzen,
    Herr, zerknirschen unsre Herzen/Beim Gedächtnis deiner Not.
    Wir sind Sklavenknecht und Sünder,
    Du bist Herrscher und Entbinder und/Erwählst für uns den Tod.



    Mit ständig repetierenden Achtelbewegungen der Streicher drückt der Komponist zwar das textlich vorgegebene Zittern aus, es gelingt ihm aber nicht, Furcht, Scham und Schmerzen in der gleichen Weise vermitteln.


    Sodann schildert der Evangelist, dass in Jerusalem die Geistlichen und Schriftgelehrten nach einem Weg suchen, wie sie Jesus töten können, ohne Ärger im Volk hervorzurufen. Fast übergangslos kommt hier Judas, von dem, wie es der Erzähler nennt, Satanas Besitz ergriffen hat, ins Spiel, der dem Klerus eine Problemlösung anbietet, die aber nicht näher erläutert wird. Der Bericht wird an dieser Stelle durch den ersten von zweiunddreißig Chorälen unterbrochen, der Judas ins Gewissen redet und zur Umkehr aufruft:


    Verruchter Knecht, wo denkst du hin,/Wie denkst du nur an Goldgewinn
    Und fürchtest nicht die Hölle?/Willst du um schnödes Geld und Gut
    Verraten deines Meisters Blut,/Als Satansgeselle?
    Denk' an die lange Ewigkeit,/Kehr um, kehr um! Noch ist es Zeit.




    Unterdessen sind sich die Hohenpriester und Schriftgelehrten mit Judas einig geworden: Der Anhänger Jesu bekommt Geld für seine Dienste. Das ist dem Chor eine neue Warnung mittels eines Chorals wert, die mit der Musik zum Paul-Gerhardt-Lied „O Haupt voll Blut und Wunden“ unterlegt ist (der eigentliche Komponist dieser Melodie ist Hans Leo Haßler, der sie ursprünglich für das Liebeslied „Mein G'müth ist mir verwirret“ schuf):


    Die Seel' weiß hoch zu schätzen,/Was Hand und Kasten füllt,
    Was Augen kann ergötzen/Und Lust der Sinne stillt.
    Sie ringt nach eitlen Dingen/Und bleibt der ew'gen bar:
    Wer reißt sie aus den Schlingen/Der tödlichen Gefahr?




    Doch die Warnungen kommen bei Judas nicht an, er ist fest entschlossen, seinen Meister den Hohenpriestern und Schriftgelehrten zu übergeben, jetzt zusätzlich noch durch den erwarteten Geldsegen angestachelt. Tiefe Anteilnahme, sowohl textlich als auch melodisch, drückt der bereits dritte Choraleinschub aus:


    Stille, stille! Ist die Losung/Der Gottlosen in der Welt:
    Traue ja nicht der Liebkosung,/Wenn sie sich zu dir gesellt.
    Spricht der Mund ein gutes Wort,/Hegt das Herze Trug und Mord,
    Und dass es die List erfülle,/Ist die Losung: Stille, stille!




    Der Evangelist berichtet, dass Jesus die Jünger Johannes und Petrus in die Stadt schickt, um einen Platz für das Essen des Osterlamms zu reservieren. Er gibt den beiden sogar einen klaren Hinweis: Sie werden einem Mann mit einem Wasserkrug begegnen, der sie zu einer Herberge geleiten wird; dort sollen sie dem Wirt ihr Kommen zu dem wichtigen jüdischen Ritual ankündigen. Berührend in seiner einfachen Harmonisierung klingt der Chorkommentar zu diesem Essen:


    Weide mich und mach' mich satt,/Himmelsspeise!
    Tränke mich, mein Herz ist matt,/Seelenweide!
    Sei du meine Ruhestatt,/Jesu, Ruh der Seelen!
    Diese Melodie wird auch dem nächsten Choral unterlegt:
    Nicht ist lieblicher als du,/Liebste Liebe,
    Nichts ist freundlicher als du,/Milde Liebe,
    Auch nichts süßer ist als du,/Jesu, süße Liebe.



    der damit den Bericht des Evangelisten reflektiert, dass die beiden Jünger es so vorfinden, wie es der Meister vorausgesagt hat. Als sich alle am Abend in der Herberge treffen, erwähnt Jesus den vor ihm liegenden Leidensweg. Viel wichtiger ist jedoch, dass Jesus das rituelle Pessachmahl zur Einsetzung des Heiligen Abendmahls, der Eucharistie, benutzt: Darin verspricht Christus seine Anwesenheit unter den Teilnehmern, so oft man es „zu meinem Gedächtnis“ begeht. Zwei hier eingefügte Arien sind auf das Ereignis abgestimmt, zunächst äußert sich der Sopran über Brot und Leib:


    Dein Leib, das Manna meiner Seele,/Erquickt und stärkt die matte Brust,
    Es schmecket, wenn ich es genieße
    Dem Geist so wunderbarlich süße/Und schafft ihm lauter Himmelslust.



    sodann der Alt über Wein und Blut:


    Du gibst mir Blut, ich schenk' dir Tränen;/Nur ist mein Tausch gar schlecht an Wert,
    Du triefst und ich weine um die Wette,
    Ach! Dass ich so was Kostbar's hätte,/Als mir dein Kraftkelch hier gewährt.




    Ziemlich abrupt wird der Bericht des Evangelisten dramatisch, denn Jesus bezichtigt einen aus der Runde als Verräter, und löst damit Betroffenheit aus, denn jeder fragt sich sofort, ob er gemeint sei. Ein Vers aus Paul Gerhardts Choral „O Welt, sie hier dein Leben“ (mit der Melodie zu „Innsbruck, ich muss dich lassen“ von Heinrich Isaac, die aber auch dem Abendlied „Nun ruhen alle Wälder“ und dem Trauerchoral „O Welt, ich muss dich lassen“ unterlegt ist), stellt die


    Einsichtsfähigkeit des sündhaften Menschen heraus:
    Ich, ich und meine Sünden,/Die sich wie Körnlein finden
    Des Sandes an dem Meer,/Die haben dir erreget
    Das Elend, das dich schläget,/Und das betrübte Marterheer.




    Plötzlich gibt es einen Streit unter den Jüngern, wer wohl unter ihnen für den Größten gehalten werde; Jesus schlichtet den Disput mit dem Hinweis, der Größte solle sein wie der Jüngste, und der Vornehmste solle sein wie ein Diener - eine klare, auf die christliche Nächstenliebe abgehobene Forderung. Der folgende Choral ist insofern als ein Gelöbnis der Jüngerschaft zu verstehen:


    Ich werde dir zu Ehren alles wagen,/Kein Kreuz nicht achten,
    Keine Schmach noch Plagen,/Nichts von Verfolgung,
    Nichts von Todesschmerzen/Nehmen zu Herzen.



    Die Melodie, leicht abgewandelt, aber doch deutlich erkennbar, schuf Johann Crüger und wurde dem Choral „Herzliebster Jesu, was hast du verbrochen“ unterlegt.


    Jesus aber wirft einen Blick in die Zukunft und weissagt seinen Jüngern, dass sie dereinst mit ihm am „Tische in meinem Reich“ sitzen werden, um über die zwölf Stämme Israels zu richten. Der Chor reflektiert Jesu Zukunftsblick mit Text und Musik zum „Te Deum“ aus dem 4. Jahrhundert, allerdings in der Eindeutschung durch Martin Luther:


    Der heiligen zwölf Boten Zahl/Und die lieben Propheten all',
    Die teuren Märt'rer allzumal/Loben dich, Herr, mit großem Schall.




    Der weitere rezitativische Bericht weist plötzlich und erstmals durch Jesus dem Petrus eine zukünftig herausragende Position zu: Satanas, sagt der Rabbi, werde alle in Bedrängnis bringen, und Petrus falle die wichtige Aufgabe zu, die Brüder im Kampf mit dem Bösen zu stärken. Als Petrus daraufhin seine Bereitschaft erkennen lässt, lieber mit seinem Rabbi in den Tod zu gehen, holt ihn Jesus mit der Weissagung, dass er ihn verleugnen werde, noch ehe der Hahn krähen wird, auf den Boden der Realität zurück.


    Danach geht Jesus „nach seiner Gewohnheit“ zum Gebet an den Ölberg und fordert seine Jünger auf, sie sollen beten und wachen, auf dass sie „nicht in Anfechtung fallen“. Der hier eingeschobene Choral


    Wir armen Sünder bitten,/Du wollest uns erhören,/Lieber Herre Gott!



    ist ein Eingeständnis der Jünger über die eigene Unzulänglichkeit, und ein Gebet.


    Jesus aber geht abseits und bittet den Vater im Himmel, den Kelch von ihm zu nehmen, aber nur „dein Wille geschehe“- Ausdruck von Ergebenheit in das vorbestimmte Schicksal, vom Chor ergreifend auf die Melodie von „Nun danket alle Gott“ (Text [nach Sirach 50, 24-26] und Musik von Martin Rinckart in der Fassung von Johann Crüger) ausgedrückt:


    Mein Vater, wie du willt,/So bin ich auch zufrieden;
    Was du mir auf der Welt/Zu meinem Teil beschieden.
    Ich nehm' es auf dein Wort,/Dein Wille werd' erfüllet,
    Und sage allezeit:/Mein Vater, wie du willt.




    Der Evangelist berichtet, dass ein Engel vom Himmel kommt, um den mit sich und seinem Schicksal ringenden Jesus zu stärken; dabei fällt „Schweiß wie Blutstropfen“ auf die Erde - ein Vorgang, den der eingefügte Choralvers als Gebet reflektiert:


    Durch deines Todes Kampf/Und blutigen Schweiß hilf uns,/Lieber Herre Gott!




    Als Jesus zurückkommt und seine Jünger schlafend vorfindet, zeigt er sich enttäuscht, weckt sie auf und bittet sie erneut, wachsam zu sein. Auch hier erklingt ein Gebetschoral:


    Lass mich Gnade für dir [vor dir] finden,/Der ich bin voll Traurigkeit,
    Hilf du mir selbst überwinden,/So oft ich muss in den Streit,
    Meinen Glauben täglich mehr',/Deines Geistes Schwert verehr',
    Damit ich den Feind kann schlagen,/Alle Pfeile von mir jagen.



    der deutlich macht, dass der Mensch aus eigener Kraft nicht die „Anfechtung“ überwinden kann. Die Melodie stammt von Loys Bourgeois (1551), der Text aus „Treuer Gott, ich muss dir klagen“ von Johann Hermann aus dem Jahre 1630.


    Nun hat Judas seinen großen Auftritt: er kommt mit einer Schar Bewaffneter auf die Szene und zeigt den Häschern durch einen Kuss, wen sie zu verhaften und vor die Hohenpriester zu bringen haben. Jesu Frage: „Judas, verrätst du des Menschen Sohn mit einem Kuss?“ ist dem Chor (zur Melodie von „O Haupt voll Blut und Wunden“) eine eindringliche Warnung nicht nur an Judas, sondern auch an die Blender und Heuchler, wert:


    Von außen sich gut stellen,/Im Herzen böse sein,
    Zu Judas sich gesellen,/Trägt nur Verdammnis ein.
    Wenn du mit Judasküssen/Verrätst des Menschen Sohn,
    Du wirst es büßen müssen/Einst vor des Richters Thron.




    Der Auftritt von Judas und den Häschern erweckt in den Jüngern einen Kampfesmut, der sie ihre Waffen ziehen lässt, um ihren Meister zu verteidigen. Bevor der sie beruhigen kann, schlägt einer von ihnen, Lukas nennt ihn nicht mit Namen, mit seiner Waffe dem Knecht des Hohenpriesters „sein rechtes Ohr“ ab. Jesus aber heilt den Verwundeten und weist gleichzeitig seine Anhänger in die Schranken. Diesen Vorgang reflektiert ein neuer Vers auf die Melodie von „Innsbruck, ich muss dich lassen“ von Heinrich Isaac:


    Ich will daraus studieren,/Wie ich mein Herz soll zieren
    Mit stillem sanftem Mut,/Und wie ich die soll lieben,
    Die mich so sehr betrüben/Mit Werken, so die Bosheit tut.




    Nun steht Jesus vor dem Klerus und den Tempelältesten und der Evangelist berichtet, dass er sie darauf hinweist, im Tempel gelehrt zu haben, ohne von ihnen behelligt zu werden; jetzt aber haben sie ihn mit Schwertern und Stangen gegriffen, wie einen Verbrecher. Man verbringt Jesus nun ohne weiteres Verhör in den Palast der obersten Hohenpriesters und „Petrus folgt ihm von ferne“. Der Chor betet im Choralton aus dem „Vater unser“:


    Und führe uns nicht in Versuchung,/Sondern erlöse uns von dem Übel.




    Im Palast identifiziert eine Magd im Schein der Feuer Petrus als einen der Anhänger Jesu, doch Petrus leugnet strikt ab. Eine andere Dienerin springt der ersten bei, doch abermals leugnet Petrus. Als kurz darauf ein Diener behauptet, auch er habe ihn, vornehmlich an der Sprache, erkannt, leugnet Petrus zum dritten mal. Und in diesem Moment ertönt der Ruf des Hahns. Das Geschehen kommentiert der Chor mit dem fünften Vers aus dem Choral „Weg, mein Herz, mit den Gedanken“ von Paul Gerhardt:


    Kein Hirt kann so fleißig gehen/Nach den Schaf, das sich verläuft.
    Sollt'st du Gottes Herze sehen,/Wie sich da der Kummer häuft,
    Wie es dürstet, jächt und brennt/Nach dem, was sich abgetrennt
    Von ihm und auch von den Seinen,/Würdest du für Liebe weinen.



    Die Melodie ist erstmals im 17 Jahrhundert in Bamberg, geistlich um das Jahr 1735 in der Herrnhuter Brüdergemeinde nachgewiesen.


    Zwei Sätze fügt der Evangelist jetzt noch an: Petrus erinnert sich an Jesu Weissagung, ihn dreimal zu verleugnen, ehe der Hahn kräht, geht hinaus und „weint bitterlich“ über sein Versagen. Danach erhält der Solo-Tenor eine große Da-capo-Arie, die das Geschehene mit barockem Ausdruck, aber in frühklassischem Musikgewand reflektiert:


    Den Fels hat Moses' Stab geschlagen,/Drum quillt aus ihm ein starker Fluss.
    Gesetz und Fluch schreckt den Verbrecher,/Er fürchtet einen harten Rächer;
    Selbst ein Gewissen wird ihm sagen,/Dass er des Todes sterben muss.




    Dann beschließt ein kurzer Choral (auf der Grundlage des Psalms 130), nur vom Chorbass gesungen und vom Basso continuo begleitet, den ersten Teil dieser Passion. Diese Teilung ist allerdings nicht original (s.a. die Werkinformation):


    Aus der Tiefe rufe ich:/Jesu Gnade tröste mich.
    Ich hab' Unrecht zwar getan,/Aber Jesum nimmt mich an.




    Zweiter Teil


    Johann Sebastian Bach hat für diesen Teil, der nach Leipziger Tradition der Predigt folgte, eine nur wenige Takte umfassende Einleitung komponiert (s.a. die Werkinformation), die in das Rezitativ überleitet und die originale Continuo-Begleitung ersetzt: Der Evangelist berichtet von der Demütigung Jesu durch die Häscher, die ihm erst die Augen verbinden, dann schlagen und verspotten: „Weissage uns, wer dich schlug!“ Es folgt der bereits achtzehnte Choraleinschub dieser Passionsmusik:


    Dass du nicht ewig Schande mögest tragen,
    Lässt er sich schimpflich ins Gesichte schlagen;
    Weil dich zum öftern eitler Ruhm erfreuet/Wird er verspeiet.



    Während der Verstext sich in keinem der damaligen Gesangbücher findet, ist die Melodie bekannt, denn sie entstammt einem der bekanntesten Passionslieder „Herzliebster Jesu, was hast du verbrochen“ von Johann Crüger.


    Jesus wird vor das Synedrium gebracht, wo man ihn direkt mit der Fragen angeht, ob er Christus sei. Seine Antwort erstaunt: Wenn er es sage, glaube man ihm nicht, wenn er aber Fragen stelle, antworte man ihm nicht, man lasse ihn aber auch nicht frei. Dann folgt eine für die Kleriker elektrisierende Bemerkung „Von nun an wird des Menschen Sohn sitzen zur rechten Hand der Kraft Gottes“- die sie umgehend nachfragen lässt: „Bist du denn der Sohn Gottes?“ Bevor Jesus seine Zustimmung auf diese Frage geben kann, gibt der Chor die Antwort mit einem Zitat aus dem von Luther eingedeutschten „Te Deum“:


    Du König der Ehren, Jesu Christ,/Gott Vaters ew'ger Sohn du bist.




    Und genau das wollen die Verantwortlichen hören: Das ist schlimme Gotteslästerung, nach jüdischem Gesetz mit dem Tode bedroht: „Was bedürfen wir weiter Zeugnis?“ Also muss der Angeklagte vor den römischen Statthalter gebracht, dort verklagt, und auch von Pilatus verurteilt werden. Für Pilatus ist die Frage nach der Gottessohnschaft viel zu akademisch, deshalb bleibt er politisch und fragt Jesus, ob er der Juden König sei. Und dessen klares „Du sagest's“ wird sofort chorisch mit einem Satz aus dem „Te Deum“ bestätigt:


    Dein göttlich Macht und Herrlichkeit/Geht üb'r Himmel und Erden weit.




    Die sich des Pilatus' Urteil sicher glaubenden Hohenpriester, Ältesten und Schriftgelehrten
    erhalten jedoch von dem Römer eine enttäuschende Abfuhr, denn der kann keine Schuld feststellen. Das religiös begründete Bestreben der Juden nach dem Tode dieses Mannes ist für Pilatus nicht nachvollziehbar. Der folgende Choral scheint dem Römer zuzurufen, wer hier eigentlich als Angeklagter stehen müsste:


    Ich bin's, ich sollte büßen,/An Händen und an Füßen
    Gebunden in der Höll'./Die Geißeln und die Banden,
    Und was du ausgestanden,/Das hat verdienet meine Seel'.



    Es ist ein Vers aus dem Paul-Gerhardt-Lied „O Welt, sieh hier dein Leben“ mit der Melodie aus dem schon mehrmals erwähnten „Innsbruck“-Lied von Heinrich Isaac.


    So schnell, berichtet der Evangelist, geben die Mitglieder des Synedriums jedoch nicht auf, aber Pilatus bewegt sich nicht in ihrem Sinne und sie geraten in Rage: Der Galiläer ist ein Aufwiegler, schallt ihr Protest, und gehört ans Kreuz. Bei dem Wort „Galiläer“ wird Pilatus hellhörig und sogar entscheidungsschnell: In diesem Fall ist doch Herodes* zuständig und deshalb lässt er Jesus sofort zu ihm bringen, da er sich gerade in Jerusalem aufhält.
    (* Nach dem Tod von Herodes dem Großen teilte Rom das Land unter dessen vier Söhne auf, untersagte ihnen aber die Bezeichnung „König“ und unterstellte sie dem Prokurator. Galiläa regierte zu Jesu Zeit Herodes Antipas.)


    Vor Herodes sieht es für Jesus zunächst nach einer Wende zum Guten aus, denn der Herrscher „ward sehr froh“, den Mann, von dem er schon viel gehört hat, jetzt persönlich kennenzulernen. Allerdings möchte er von ihm auch „Zeichen“ sehen, weshalb er ihn „mancherlei“ fragt, aber von Jesus keine Antwort erhält. Bevor der Evangelist die Reaktion von Herodes auf Jesu Schweigen mitteilt, kommentiert der Solo-Tenor mit einer Arie, die ihren auffälligen Klang durch hervorgehobene Holzbläser und ein solistisch geführtes Fagott erhält, diese Sprachlosigkeit:


    Das Lamm verstummt vor seinem Scherer/Und leidet alles mit Geduld.
    Wenn man bei Rach' und Bosheit schweiget,/Gelassen ist und Großmut zeiget,
    Verwandelt sich oft Wut in Huld.




    Als der Evangelist den Bericht wieder aufnimmt, hören wir von Herodes' Ärger über Jesu Schweigen, erfahren aber auch von dessen subtiler Vorgehensweise: Er befiehlt seinen Dienern, dem Jesus ein weißes Kleid anzulegen und ihn zu Pilatus zurückzuschicken. Der eingefügte Choral


    Was kann die Unschuld besser kleiden,/Als des Herodes weißes Kleid,
    Ob auch die Juden wie die Heiden,/Entbrennen voller Hass und Neid.
    Sie zeugten trotz der Spötterei,/Dass Jesus Christ unschuldig sei.



    (mit der Melodie des Liedes „Wer nur den lieben Gott lässt walten“ von Georg Neumark) reflektiert nicht nur die Verkleidungsszene, sie hat auch Pilatus eine ganz bestimmte Botschaft zu vermitteln: Bei den Römern war das weiße Kleid einem Menschen bestimmt, der sich um ein höheres Amt bewarb; berücksichtigt man, dass das lateinische „candidus“ (Ableitung „Kandidat“) auf deutsch „Weiß“ heißt, lässt sich des Herodes Spott nur zu gut verstehen. Und Pilatus verstand genau, was ihm Herodes mitteilen will - mit der Folge, so sagt der Evangelist, dass die bisher in herzlicher Abneigung verbundenen Herren Pilatus und Herodes plötzlich Freunde sind.


    Pilatus bleibt in seinem Urteil aber bei seiner Meinung: Er vermag keine Schuld an diesem „Menschen“ zu erkennen, weshalb er ihn lediglich züchten, dann jedoch wieder frei lassen will. Das kommentiert der Chor mit zwei Versen, in dem der erste Fragen stellt, die der zweite umgehend beantwortet:


    Ei, was hat er denn getan,/Was sind seine Schulden,
    Dass er da vor jedermann/Solche Schmach muss dulden?
    Hat er etwa Gott betrübt/Bei gesunden Tagen,
    Dass er ihm anitzo gibt/Seinen Lohn mit Plagen?
    Nein, fürwahr, wahrhaftig nein!/Er ist ohne Sünden;
    Sondern was der Mensch für Pein/Billig sollt' empfinden,
    Was für Krankheit, Angst und Weh/Uns von Recht gebühret.
    Das ist's, so ihn in die Höh'/An das Kreuz geführet!



    Die hier variiert vorgetragene Melodie stammt von Melchior Vulpius (1609); sie wurde dem Choral „Jesu, deine Passion will ich jetzt bedenken“ von Siegmund von Birken (1663) unterlegt.


    Die Gewohnheit, zum Pessachfest einen Gefangenen frei zu lassen, die Pilatus sicherlich im Kopf hatte, will das Volk nicht in Frage stellen, aber es darf eben nicht dieser Jesus, dafür aber gerne Mörder „Barrabam“ sein. Jesus aber, so ruft die Menschenmenge laut, müsse ans Kreuz: „Hinweg, hinweg mit diesem“ und her mit Barrabam! Plötzlich ist Pilatus, wie vom Berichterstatter Lukas zu vernehmen ist, umgefallen: Er gibt dem schreienden Volk nach, und der Chor äußert sich (auf die Melodie „Freu dich sehr, o meine Seele“ von Loys Bourgeois) nachdenklich:


    Es wird in der Sünder Hände/Überliefert Gottes Lamm,
    Dass sich dein Verderben wende/Jud' und Heiden sind ihm gram.
    Und verwerfen diesen Stein,/Der ihr Eckstein sollte sein.
    Ach, dies leidet der Gerechte/Für die bösen Sündenknechte.




    Jesus wird nun nach Golgatha geführt. Unterwegs greift man einen gewissen Simon von Cyrene auf, der Jesu Kreuz tragen muss. Das Volk ist natürlich voyeuristisch und folgt dem Trauerzug, die „Weiber (...) klagten und beweineten“ den Geschundenen. Hier wird ein kommentierendes Terzett für zwei Soprane und Alt eingefügt, das durch zwei Traversflöten den charakteristischen Klang erhält:


    Weh und Schmerz in dem Gebären/Heißt nicht gegen deine Not.
    Ach wir armen Sünderinnen/Werden itzt den Fluch recht innen,
    Und wir trügen mit Geduld/Unsrer ersten Mutter Schuld,
    Retteten dich uns're Zähren/Nur vor deinem bittern Tod!




    Jesus spricht die „Töchter von Jerusalem“ an und sagt, dass sie nicht über ihn, sondern lieber über sich selber und ihre Kinder weinen sollen: „(...) es wird die Zeit kommen, in welcher man sagen wird: Selig sind die Unfruchtbaren und die Leiber, die nicht geboren haben, und die Brüste, die nicht gesäugt haben! Dann werden sie anfangen, zu sagen zu den Bergen: Fallet über uns! und zu den Hügeln: Deckt uns! Denn so man das tut am grünen Holz, was will am dürren werden?“


    Nun ist die Stunde der Kreuzigung da: Auf Golgatha werden mit Jesus noch zwei andere „Übeltäter“ ans Kreuz geschlagen, jene beiden außen, er in der Mitte. Jesu Gedanken gelten in diesem Moment den Handelnden, nicht sich selbst: „Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun.“ Auch das wird durch einen Choreinschub (auf die Melodie zu „Was mein Gott will, das g'scheh allzeit“ von Claudin de Seremy [1529]) kommentiert:


    Sein' allererste Sorge war,/Zu schützen die ihn hassen.
    Bat, dass sein Gott der bösen Schar/Wollt' ihre Sünd' erlassen.
    Vergib! Vergib! Sprach er aus Lieb',/O Vater, ihnen allen.
    Ihr'r keiner ist der säh' und wüsst', in was für Tat sie fallen.




    Die Kriegsknechte teilen, wie der Evangelist berichtet, Jesu Kleider und werfen das Los; währenddessen spotten die Umstehenden: „Allen hat er geholfen, er helfe sich selber, ist er doch Christus, der Auserwählte Gottes.“ Das animiert die römischen Soldaten, ebenfalls an dem Spott teilzunehmen: Sie geben Jesus Essig zu trinken und rufen: „Bist du der Juden König, so hilf dir selber!“ Der an dieser Stelle eingefügte Chorsatz


    Ich bin krank, komm, stärke mich,/Meine Stärke!
    Ich bin matt, erquicke mich,/Süßer Jesu!
    Wenn ich sterbe, tröste mich,/Jesu du mein Tröster!



    greift auf die Musik zu „Weide mich und mach' mich satt“ aus dem ersten Teil zurück.


    Der Evangelist bemerkt, dass über Jesu Kreuz in griechischer, lateinischer und hebräischer Sprache der Hinweis „Dies ist der Juden König“ angebracht war. Kreuz und Dornenkrone werden im folgenden Vers durch den Chor als Befreiungstat für die Sünder beschrieben:


    Das Kreuz ist der Königsthron,/Drauf man dich wird setzen,
    Dein Haupt mit der Dornenkron'/Bis in Tod verletzen;
    Jesu, dein Reich auf der Welt/Ist in lauter Leiden,
    So ist es von dir bestellt/Bis zum letzten Scheiden.




    Einer der beiden anderen Gekreuzigten (das Libretto bezeichnet ihn als „Latro Impius“- Verstockter Mörder) spottet in Richtung Jesus, wenn er Gottes Sohn sei, dann solle er sich, aber auch ihnen helfen. Das gefällt dem zweiten Gekreuzigten, dem „Poenitens“ (Reuiger) nicht, er greift seinen Kumpan an: Wir haben unsere Strafe verdient, aber jener hat nichts getan. Dann bittet er Jesus, an ihn zu denken, wenn in sein Reich kommt. Der folgende Choralvers ist ebenfalls auf die Musik zu „Weide mich und mach' mich satt“ aus dem ersten Teil vertont:


    Tausendmal gedenk ich dein,/Mein Erlöser,
    Und begehre dich allein,/Mein Erlöser,
    Sehne mich bei dir zu sein,/Mein Erlöser,
    Jesu,/Mein Erlöser.



    Jesus tröstet den Reuigen mit dem Versprechen, dass er noch heute mit ihm Paradiese sein werde. Das führt hier zu einem Freudenchoral:


    Freu' dich sehr, o meine Seele,/Und vergiss all' Not und Qual,
    Weil dich nun Christus, dein Herre,/Ruft aus diesem Jammertal:
    Aus Trübsal und großem Leid/Sollst du fahren in die Freud',
    Die kein Ohre hat gehöret/Und in Ewigkeit auch währet.




    Nun berichtet der Evangelist von merkwürdigen Naturphänomenen: Von der sechsten bis zur neunten Stunde verfinsterte sich der Himmel und in dieser Zeit zerriss auch noch der Vorhang im Tempel. Bevor Jesus mit den Worten „Vater, ich befehle meinen Geist in deine Hände“ verstirbt, kommentiert der Sopran die merkwürdigen Zeichen der Natur:


    Selbst der Bau der Welt erschüttert/Über frecher Menschen Wut.
    Er erkennt, was ihr gemacht:
    Sie vergießen unbedacht/Ihres eig'nen Schöpfers Blut.




    Nach Jesu Dahinscheiden erklingt eine melancholische-zarte Trauermusik für zwei Oboen, Taille d’hautbois (Tenoroboe), Fagott und Continuo. Sie wird nach dem kommentierenden Choraleinschub


    Derselbe mein Herr Jesu Christ/Vor all' mein' Sünd gestorben ist
    Und auferstanden mir zu gut,
    Der Höllen Glut gelöscht/Mit seinem teuren Blut.



    ohne Änderung in der Melodik und ungekürzt wiederholt.


    Der römische Hauptmann, der die Kreuzigung möglicherweise zu protokollieren hatte, ist über die ihm unerklärlichen Naturphänomene erschrocken und erklärt, dass hier wohl ein frommer Mensch gestorben ist. Das neugierige Volk aber geht, die einen wahrscheinlich beruhigt über ein gelöstes Problem, die anderen enttäuscht über eine verlorene Hoffnung, davon. Der folgende Choral dürfte als Äußerung der Enttäuschten zu verstehen sein:


    Straf' mich nicht in deinem Zorn/Großer Gott, verschone,
    Ach, lass mich nicht sein verlor'n,/Nach Verdienst nicht lohne.
    Hat die Sünd'/Dich entzünd't
    Lösch' ab in dem Lamme/Deines Grimmes Flamme.



    Es erklingt die Melodie eines unbekannten Autors zu „Mache dich, mein Geist, bereit“ aus dem Jahre 1686.


    Ehe der Evangelist uns einen Ratsherren mit Namen Joseph von Arimathia vorstellt, den er außerdem als fromm bezeichnet, weist er darauf hin, dass unter dem Kreuz noch Jesu Verwandtschaft und „die Weiber, die ihm aus Galiläa“ nachgefolgt waren, standen. Mehr erzählt der Berichterstatter von dieser Personengruppe nicht; dafür aber, dass Joseph zu Pilatus ging und ihn „um den Leib Jesu“ bat, natürlich um ihn zu begraben. Die Beisetzung wird in einer Tenor-Arie mit barocker Sprache beschrieben, während die Musik bereits auf die Stilrichtung der Empfindsamkeit hinweist:


    Lasst mich ihn nur noch einmal küssen/Und legt dann meinen Freund ins Grab.
    Herr Jesu, deine blassen Wangen
    Erwecken bei mir dies Verlangen,/Denn meine Liebe stirbt nicht ab.




    Danach schließt der Bericht des Evangelisten mit dem Hinweis, dass der Verstorbene in einem „gehauen Grab, darin niemand je gelegen war“, beigesetzt wurde. Ein einfacher, zweistrophiger Choral beendet die Lukas-Passion:


    Nun ruh' Erlöser in der Gruft,/Bis dich des Vaters Stimme ruft.
    Dein heil'ger Leib wird aufersteh'n/Und nimmer die Verwesung seh'n.
    Wir müssen die Verwesung seh'n/Wenn wir dereinst zu Grabe geh'n.
    Gott Lob, dass unser treuer Hirt,/Der für uns starb, uns wecken wird.




    INFORMATIONEN ZUM WERK


    Zu Johann Sebastian Bachs Amtspflichten gehörte es, die sonntäglichen Gottesdienste mit eigenen, aber auch Kompositionen anderer Meister aufzuführen; nachweisbar sind z. B. Kantaten von Georg Philipp Telemann, Johann Ludwig Bach (genannt der „Meininger Bach“, acht Jahre älterer Vetter des Thomaskantors, und von ihm sehr geschätzt), Messen verschiedener Komponisten, dann Reinhard Keisers Markus-Passion und die hier zu besprechende Lukas-Passion eines unbekannten Autors.


    Dass Johann Sebastian Bach diese Lukas-Passion zugeschrieben wird, liegt vordergründig an der in seiner Handschrift vorliegenden Partiturabschrift (die sein Zweitältester Carl Philipp Emanuel ab einer bestimmten Seite fertiggestellt hat), und die sich heute in der Staatsbibliothek Berlin befindet. Da außerdem diese Handschrift die bei Bach übliche Anrufung Christi „J[esus].J[uva].“ (was soviel bedeutet wie „Jesus hilf“) aufweist, lag es nahe, ihn als Komponisten anzusehen. Das Titelblatt, respektive der Kopftitel, weisen allerdings keine Autorenangabe auf.


    Nach heutigem Forschungsstand kam die Handschrift aus Wilhelm Friedemann Bachs Nachlass an den Verlag Breitkopf in Leipzig. Der Handschriften-Sammler und vormalige Bassist Franz Hauser (siehe auch die Werkinformationen zur „Markus-Passion“), der mit Felix Mendelssohn Bartholdy befreundet war, erwarb sie zu Beginn des 19. Jahrhundert und bat seinen Freund um eine Stellungnahme, die hier auszugsweise wiedergegeben werden soll:


    Es thut mir leid, daß du für die „Passion St. Lucas“ so viel Geld gegeben hast; zwar als unbezweifeltes Manuscript ist es nicht zu theuer bezahlt, aber ebenso gewiß ist diese Musik auch nicht von ihm (…) Du fragst, aus welchem Grunde der Lucas nicht von Sebastian Bach sein soll? Aus inneren (...); wenn das von Sebastian ist, so lass‘ ich mich hängen, und doch ist‘s unleugbar seine Handschrift. Aber es ist zu reinlich, er hat es abgeschrieben.(...)


    Dieser Meinung hat sich auch Johannes Brahms angeschlossen. Hausers Sohn, ebenfalls Sänger, sogar mit dem Titel eines Kammersängers geehrt, hat das Manuskript nach dem Tode seines Vaters in Karlsruhe Brahms vorgelegt; auch Brahms ging davon aus, dass Bach die Passionsmusik eines unbekannten Autors wahrscheinlich für Aufführungszwecke abgeschrieben hat, keinesfalls jedoch der Komponist war. Philipp Spitta dagegen hielt die Lukas-Passion für ein Jugendwerk des Thomaskantors, und durch sein Eintreten für die Echtheit gelangte sie schließlich in die alte Bach- Gesamtausgabe.


    Jeglichen Zweifel beseitigte 1911 Max Schneider durch den Nachweis, dass Carl Philipp Emanuel Bach den überwiegenden Teil der Abschrift geschrieben hatte. Gleichwohl nahm Wolfgang Schmieder die Lukas-Passion noch 1950 in sein BWV auf, und erteilte ihr die Nummer 246. Wenngleich Bachs Autorschaft also heute ausgeschlossen ist, sollte der Vorwurf einer „extrem schwachen“ Komposition zumindest überdacht werden: Immerhin war sie dem Thomaskantor die Mühe zweier Aufführungen wert.


    Diese Wertschätzung wurde noch verstärkt, als man 1971 in Japan ein offenbar aus der Partitur herausgefallenes oder auch herausgenommenes Blatt fand, das den für Bass und Basso continuo gesetzten Schlusschoral des ersten Teils in Bachs Handschrift mit einer von ihm stammenden meisterhaften Instrumentalbegleitung enthält. Die um etwa 1745 entstandene Handschrift belegt, dass Bach die Lukas-Passion in seiner letzten Amtszeit nochmals aufzuführen gedachte - eine tatsächliche Wiedergabe ist aber nicht feststellbar.


    Als weiteren Eingriff Bachs in die Vorlage müssen einige Instrumentaltakte angesehen werden, die den Schluss nahelegen, dass diese Passionsmusik einteilig angelegt war, durch die Hinzufügung besagten Instrumentalteils nun die in Leipzig übliche Aufteilung in „Vor“ und „Nach“ der Predigt erhielt.


    Der Aufbau der Passionsmusik entspricht dem üblichen Schema: Der vom Evangelisten vorgetragene biblische Bericht wird von zweiunddreißig (!) Chorälen und acht Da-capo-Arien unterbrochen, die als Chorsatz, als Terzett sowie sechs Solo-Arien vertont sind. Die außergewöhnlich große Anzahl von Chorälen berechtigt, dass Werk als Choral-Passion zu definieren. Das ist aber nicht die einzige Auffälligkeit, denn die Musik zu den Chorälen, den Turba-Chören wie auch zu den Rezitativen wirkt auf den Hörer als altertümlicher Kontrast zur Musik der freien Dichtungen, die sich eindeutig einem Komponisten der jüngeren Generation zuweisen lässt, also der Generation um Quantz, Hasse oder der Brüder Graun - beispielsweise.


    Die zweiunddreißig erwähnten Choralstrophen bergen aber auch ein spezielles Problem: Vater und Sohn Bach haben nur jeweils vier Choräle (und liturgische) Stücke vollständig geschrieben, während sie sich bei den anderen mit Textmarken begnügten, wie: „Freu dich sehr o etc.“. Wenn man einige auch anhand dieser kurzen Hinweise leicht verifizieren kann, sind andere trotz intensivster Nachforschungen in keinem der zeitgenössischen Gesangbücher zu finden. Das führte zu der Überlegung, dass sie (erstens) von dem unbekannt gebliebenen Dichter der freien Stücke stammen könnten, der sie (zweitens) anstelle von Arientexten schrieb, sie aber ganz bestimmten Melodien zugeordnet hat.


    Erörtert werden soll hier auch kurz die Frage nach dem Komponisten der Lukas-Passion: Die musikalische Faktur lässt an einen Musiker denken, der vielleicht um das Jahr 1700 geboren wurde. Die Musikforschung hält inzwischen den Eisenacher Hofkapellmeister Johann Melchior Molter für den geeigneten Kandidaten, weil einige in Regensburg aufgefundene Kirchenkantaten und ein in Sondershausen erhaltenen gebliebenes zweiteiliges Passions-Oratorium von Molters Hand auffällig viele Parallelen zur Lukas-Passion aufweisen.


    Der am 10. Februar 1696 im thüringischen Tiefenort geborene, und am 12. Januar 1765 in Karlsruhe verstorbene Molter war Sohn des Lehrers und Kantors Valentin Molter, der seinem Sohn auch ersten Musikunterricht erteilte. Ab 1717 war Molter dann Violinist beim Markgrafen Karl Wilhelm von Baden-Durlach, der ihn 1719 auf eine Studienreise nach Italien ziehen ließ, wo er möglicherweise die Komponisten, zumindest aber die Musik von Vivaldi, Tartini, Albinoni und Scarlatti kennengelernt hat, die ihn nachhaltig beeinflussten. Ab 1722 war Molter Kapellmeister der Markgräflichen Hofkapelle Baden, eine Stellung, die er 1733 verlor, als das Orchester aufgelöst wurde. 1734 nahm er einer Berufung an den Hof von Sachsen-Eisenach als Kapellmeister an; hier entstanden weltliche und geistliche Vokalkompositionen, die zum großen Teil verschollen sind. Eine zweite Italienreise, die ihm der Herzog 1737 ermöglichte, ließen Molter neue Musikentwicklungen in Venedig, Bologna, Ancona, Rom, Neapel und Mailand erkunden. Für das Salär von 500 Gulden wurde er 1742 nochmals Kapellmeister in Karlsruhe, eine Stellung, die er bis zu seinem Tode 1765 behielt.


    Unterstellt man, dass Molter der Komponist der Lukas-Passion war, dann könnte sie seine Antrittsmusik in Eisenach gewesen sein, und wäre somit dort am Karfreitag (dem 23. April 1734) in der Stadt- und Hofkirche St. Georg uraufgeführt worden. Da zu den Mitwirkenden auch der Organist Johann Bernhard Bach (ein Cousin des Thomaskantors) gehörte, darf man unterstellen, dass Johann Sebastian durch ihn diese Passionsmusik kennen (und auch schätzen) gelernt hat. Anders als mit Wertschätzung kann man die (zumindest) zweimalige Aufführung durch Bach nicht erklären. Jedenfalls ließ Molter seine Partitur mit dem Text-Exemplar (das in Eisenach obligatorisch war) nach Leipzig zustellen, wo es von Vater und Sohn im Herbst 1734 abgeschrieben wurde. Die erste Leipziger Aufführung der Lukas-Passion hätte dann vermutlich am Karfreitag, dem 8. April 1735 stattgefunden, ein Datum, das auch von Alfred Dürr als realistisch angesehen wird.


    An dieser Stelle greift die Bach-Philologie allerdings mit einem energischen Widerspruch ein und bringt das Konstrukt zum Einsturz: Es heißt, dass die Entwicklung der Handschrift von Bachs Zweitältestem die Abschrift der Lukas-Passion eher um 1730 nahelegt, als um 1734. Dann hätte die Leipziger Erstaufführung dieser Passionsmusik allerdings schon am Karfreitag 1730 stattgefunden und Johann Melchior Molter käme als Komponist der Musik überhaupt nicht in Frage. Somit müsste auch die schwierige Suche nach dem tatsächlichen Komponisten fortgesetzt werden...



    © Manfred Rückert für Tamino-Oratorienführer 2013
    unter Hinzuziehung folgender Quellen:
    Dr. Klaus Häfner, Karlsruhe: Zur Lukas-Passion BWV 246
    Libretto: http://webdocs.cs.ualberta.ca/~wfb/cantatas/246.html

    .


    MUSIKWANDERER

    Einmal editiert, zuletzt von musikwanderer ()


  • Das Label cpo, Hausmarke des Werbepartners jpc, hat diese hier besprochene Passionsmusik mit folgenden Künstlern vorgelegt: Mona Spägele, Christiane Iven, Rufus Müller, Harry van Berne, Stephan Schreckenberger und Marcus Sandmann.
    Es singt das Alsfelder Vokalensemble, es spielt das Barockorchester Bremen unter der Leitung von Wolfgang Helbich.

    .


    MUSIKWANDERER

  • Tatsächlich habe ich noch eine Einspielungen der Bach zugeschriebenen Luas-Passion entdeckt, die hier nachträglich eingefügt werden soll:


    Lukas-Passion 2CDs Johann Sebastian Bach BWV 246 Balinger Kantorei Gerhard Rehm


    Mit Georg Jelden als Evangelisten, Ulrich Schaible als Jesus sowie Charlotte Lehmann und Gudrun Schmidt (Sopran), Elisabeth Künstler (Alt), Graeme Nicolson (tenor) und Wolfgang Herrlitz (Baß). Gerhard Rehm leitet die Balinger Kantorei und das Tübinger "Collegium Musicum".

    .


    MUSIKWANDERER

    Einmal editiert, zuletzt von musikwanderer ()