Was macht Sir Simon Rattle falsch?

  • Zugegeben - die Frage ist ein wenig reisserisch - und zudem auch noch manipulativ gestellt - denn es ist ja gar nicht gesagt, daß er überhaupt etwas falsch macht - aber das kann ja im Laufe des Thread noch erörtert - wenn auch nicht wirklich gekärt werden


    Man muß aber in Betracht ziehen, daß manches "schief gelaufen" ist, wenn einerseits kaum spektakuläre und ALLGEMEIN bewunderte Aufnahmen mit ihm und den Berliner Philharmonikern vorliegen .
    Aber um der Wahrheit die Ehre zu geben - das war unter seinem Vorgänger Claudio Abbado auch nicht anders. Als dieser das Orchester verließ, da erwartete man von Rattle --- ja was eigentlich.
    Egal was es auch war - er hat es - wie es scheint - nicht erfüllt . Denn an die große Ära Furtwängler und dann Karajan - konnte er auch nicht anknüpfen
    Unser Mitglied Sagitt schreibt in Bezug auf den Beethoven-Zyklus mit den Wiener Philharmonikern:

    Zitat

    Der Name "Rattle" täuschte mich.Er hatte so spannende Projekte und Aufnahmen in Birmingham gemacht, dass ich dachte, den Zyklus kauf ich mir. Ent-Täuscht. Er ist für mich schlicht entbehrlich.


    Was war es eigentlich besonderes, das er in Birmingham gemacht hat? Ein Mittelklasse-Orchester spielte nach seiner Orchestererziehung angeblich eine halbe Klasse besser? :stumm:


    Ich habe eine These, nämlich die, daß er überhaupt keine "Fehler " gemacht hat - oder nur marginale. Seine mangelnde Strahlkraft hat vermutlich Ursachen, die nicht beeinflußbar sind....



    Ich bin gespannt, was dieser Thread Überraschendes * zu Tage fördert.


    mit freundlichen Grüßen aus Wien
    Alfred



    * eine Überraschung für mich wäre es beispielsweise schon wenn er überhaupt annähernd auf jenes Interesse stieße wie jene über Karajan und Thielemann


    DIRUTA

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Ich habe eine These, nämlich die, daß er überhaupt keine "Fehler " gemacht hat - oder nur marginale. Seine mangelnde Strahlkraft hat vermutlich Ursachen, die nicht beeinflußbar sind....


    "Falsch" müsste man wohl in Relation setzen, und zwar mit Järvi, Thielemann, Zinman und Chailly. Ich persönlich habe neben Rattle nur die Zinman-Integrale von den neuen Beethovensymphonieeinspielungen. Und dass hier Rattle die Nase vorne hat, steht für mich fest.

  • Vielleicht hat er es "falsch" gemacht, dass er nicht in die "Fußstapfen" seiner Vorgänger treten, sondern etwas anderes machen wollte. Zum Beispiel rief er gleich bei Dienstantritt in Berlin ein "Education"-Programm ins Leben, mit dem er Berliner Kinder und Jugendliche, die aus vielen Nationen stammten, an die Klassische Musik heranführte. Beesonders bekannt wurde sein Tanzprojekt, zu dem er "Sacre du Printemps" von Strawinsky wählte. Das war in Zeiten von Fremdenfeindlichkeit und -hass ein mutiger Schritt, der auch jahre später mit entsprechenden Ehrungen gewürdigt wurde, u.a. 2007 mit der "Goldenen Kamera" für Integration. Mutig war auch, dass er für dieses Projekt weiterhin Musikbeispiele der jüngsten Vergangenheit wählte, u.a. ein weiteres Werk von Strawinsky, den "Feuervogel", "Daphnis und Chloe" von Ravel und die "Carmina Burana" von Orff. Weitere Ehrungen und Preise waren die Folge. Zu verdienen gab es dadurch nichts.
    Dass er nicht zuerst die Neun Symphonien Beethovens mit den Berlinern einspielte, was solls. Er hat ja jetzt noch alle Zeit der Welt dazu, vielleicht als krönenden Abschluss seiner Berliner Zeit. Vielleicht beschäftigt er sich ja noch weiter mit Bruckner, oder mit Haydn, oder mit Mozart, oder mit Wagner.


    Vielleicht haben ja diejenigen Fehler gemacht, die die falschen Erwartungen in Rattle gesetzt haben.


    Die GA Beethoven mit den Wiener Philharmonikern, da möchte ich schon jetzt, nach Anhören der ersten acht Symphonien, unserem Sagitt ausdrücklich widersprechen, war jedenfalls kein Fehler, weder von ihm, noch von den Wiener Philharmonikern.


    Liebe Grüße


    Willi :)

    1. "Das Notwendigste, das Härteste und die Hauptsache in der Musik ist das Tempo". (Wolfgang Amadeus Mozart).
    2. "Es gibt nur ein Tempo, und das ist das richtige". (Wilhelm Furtwängler).

  • An anderer Stelle formulierte ich es vor Kurzem bereits schon einmal: Ich denke, dass Rattle von Teilen der deutsch-österreichischen Klassikszene abgelehnt wird, weil er einen anderen Dirigententypus darstellt als die in beiden Ländern nach wie vor den Status von Hausgöttern beanspruchenden Herren Karajan, Böhm etc. - es ist glaube ich diesselbe Klientel, die Thielemann liebt. Thielemann und Rattle - beide verkörpern ideologisch zwei unterschiedliche Lager. Rattle ist offen für vieles, Thielemann konzentriert sich voll auf musikalische Nationalheiligtümer Beethoven - Bruckner - Wagner. Er umgibt sich mit dem Odeur des Deutsch-Kapellmeisterlichen, während Rattle so eine Art des multikulturalistischen Dirigenten darstellt, der nett-freundliche Junge von nebenan, der niemandem wehtut, den man deswegen aber auch nicht ganz ernst nimmt. Das deutsch-österreichische Kernrepertoire hat Rattle ja auch nicht ins Zentrum seiner Arbeit in Berlin gestellt. Auch das nimmt man ihm eventuell übel. Das sind so Gedanken, die mir zum Thema 'Rattle - Was hat er falsch gemacht?' durch den Kopf gehen. Da mag Unausgegorenes dabeisein ... aber vielleicht sehen andere ja das eine oder das andere daraus ähnlich.


    Grüße,
    Garaguly

  • Da mag Unausgegorenes dabeisein ... aber vielleicht sehen andere ja das eine oder das andere daraus ähnlich.


    Mein Eindruck entspricht dem Deinen.


    Auch würde ich hier die von Alfred schon kurz angesprochene Parallele zu Claudio Abbado ziehen. Auch der wurde meiner Wahrnehmung nach immer als der nette Kleine gesehen, der ran durfte, als die Titanen alle weggestorben waren. Daß große Teile seines Schaffens, zumindest soweit mir bekannt, als hoch- bis höchstklassig anzusehen sind, konnte daran auch nichts ändern.

  • An dem, was du gesagt hast, lieber Garaguly, ist viel Richtiges dran (mein Gott, jetzt habe ich doch tatsächlich unseren Chorleiter zitiert: An dem, was Ihr gerade gesungen habt, war schon viel Richtiges dran). Rattle will nicht abgehoben sein, Götter sind das ja in der Regel, schon aus geographischen Gründen. Das ist auch sicherlich einer der Gründe, warum er sich nicht scheute, sich mit Kindern und Jugendlichen aus sozialen Brennpunkten auf eine Bühne zu stellen und mit ihnen ein Musikprojekt zu machen, und das auch noch mit moderner Musik. Dies Projekt passt so gut zu deinem Adjektiv "multikulturalistisch". Von anderen führenden Dirigenten habe ich dergleichen Projekte noch nicht gehört.


    Wollen wir hoffen, dass die Gedanken weiter in deinem (und meinem) Kopf gären.


    Liebe Grüße


    Willi :rolleyes:

    1. "Das Notwendigste, das Härteste und die Hauptsache in der Musik ist das Tempo". (Wolfgang Amadeus Mozart).
    2. "Es gibt nur ein Tempo, und das ist das richtige". (Wilhelm Furtwängler).

  • Ich denke, jeder Dirigent in der Nachfolge von Furtwängler und Karajan hätte es schwer gehabt. Weder Abbado noch Rattle haben jemals diese Stufen erklommen. Der Rückzug des Ersteren war kein Abschied vom Dirigentenpult, wie wir wissen. Ich denke, bei Rattle wird es ähnlich sein. Bezeichnend ist doch, dass die "Titanten" Furtwängler und Karajan beide (fast) auch als Chefdirigenten in Berlin starben. Sie waren es praktisch auf Lebenszeit (ich weiß, Karajan dankte kurz vor seinem Tod ab). Vielleicht ist es ja wie beim Papstamt: Auch das Amt des Chefs der Berliner Philharmoniker ist mittlerweile "entsakralisiert", man kann auch lebend aus der Sache rauskommen. ;)


    P.S.: Es wird ja gemunkelt, die Berliner hätten sich bereits entschieden für Andris Nelsons. Außer er geht doch lieber nach Boston, denn die wollen ihn angeblich auch brennend gerne. Egal, wer auf Rattle nachfolgt: Auch er wird's sehr schwer haben.

    »Und besser ist's: verdienen und nicht haben,

    Als zu besitzen unverdiente Gaben.«

    – Luís de Camões

  • Lieber Garaguly


    Ich glaube, da ist vieles dabei, das durchaus logisch erscheint. Ein Ausländer an der Spitze des deutschesten aller Orchester.
    Karajan war zwar auch Ausländer, aber manchmal hatte ich als Österreicher das Gefühl er spreche mit leichtem deutschen Akzent...
    Rattle steht in der Tat für Mulit-Kulti. Und egal was die Politiker oder die Presse darüber schreiben - das wird doch von der Mehrheit der Deutschen und Östereicher abgelehnt - teils offen - teils hinter vorgehaltener Hand.
    Zudem - ich weiß nicht ob das stimmt - wurde kolportiert, er habe ältere Orchstermitglieder, die seinen Reformplänen in Bezug auf Repertoire feindlich gegenüberstanden - einfach ausgewechselt (ähnliches wurde übrigens auch über David Zinman gesagt - oder besser gesagt - geschrieben) Von "netter freundlicher Junge von nebenan" also keine Spur.


    Aber das sind fürs erste nur Äusserlichkeiten. Ist es nicht auch so, dass er den Berliner Philharmonikern ihr "Profil", ihren "Nimbus" genommen hat - ihre Unverwechselbarkeit, die es erst möglich machte sich Seite an Seite mit den Wiener Philharmonikern zu stellen, zwei Elite-Orchester welche (vielleicht nicht ganz ernst gemeint) sich jeder für das erste der Welt hielten (wobei die Wiener - ob zu recht oder zu Unrecht - meist ein wenig die Nase vorn hatten - ich meine vom Image - nicht von der Qualität). Heute sind die Berliner Philharmoniker - so sehe ich es - ein Spitzenorchester, das durchaus verwechselbar ist - und nicht über dem von beispielsweise amerikanischen oder anderen Europäischen Orchestern steht.


    OB - und warum das so ist - das könnte man hier erörtern....


    mfg aus Wien
    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Zudem - ich weiß nicht ob das stimmt - wurde kolportiert, er habe ältere Orchstermitglieder, die seinen Reformplänen in Bezug auf Repertoire feindlich gegenüberstanden - einfach ausgewechselt (ähnliches wurde übrigens auch über David Zinman gesagt - oder besser gesagt - geschrieben) Von "netter freundlicher Junge von nebenan" also keine Spur.

    Da braucht man nichts kolportieren, das ist ein normaler Orchesteralltag. Jeder (längerfristige) Orchesterchef baut das Orchester nach seinen Bedürfnissen um. Verständlich, dass es opositionelle Musiker als erstes erwischt. Bei jeder Spitzentruppe ist es essentiell, dass alle am gleichen Strang ziehen, sonst kommt sehr schnell Sand ins Getriebe.



    Ist es nicht auch so, dass er den Berliner Philharmonikern ihr "Profil", ihren "Nimbus" genommen hat - ihre Unverwechselbarkeit,

    Nein, das haben die Berliner mit ihrer Orchesterreform nach dem Abgang Karajans selbst gemacht. Aus dem deutschen Spitzenorchester wurde eine internationale Star-Truppe, die heute mehr dem Namen nach deutsch ist. Ähnliche Entwicklungen gibt es aber bei vielen Spitzenorchestern, das scheint ein Zug der Zeit zu sein - wie bei Fußballmannschaften...

    Ciao


    Von Herzen - Möge es wieder - Zu Herzen gehn!


  • Sagitt meint:


    ich schreibe nicht von einem "Fehler". Im Birmingham hatte Rattle eine Lebendigkeit und Präzision, die mich bewegte( Mahler zB). Wenn ich an seinen Beethoven denke, und dann Gardiner, Norrington, Järvi ,Vriend und so viele andere im Ohr habe, langweilt mich seine Interpretation.
    NIcht jeder muss Beethoven können, und, ist Rattle nicht selbst Beleg. Wieviel Beethoven macht er denn in den Jahrzehnten seiner Karriere?
    Beim "Fidelio" ziehe ich ebenfalls klar Furtwängler Klemperer, Bernstein, Solti vor.


    Ich will niemanden missionieren. Rattle macht bestimmt spannende Projekte, aber zu meinen Favoriten gehört er gar nicht (konkret, ich würde auch seinen Schubert oder Brahms nicht besonders schätzen).

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  • "Musik im 20. Jahrhundert" 7 DVDs für 65 Euro bei 2001. Eine Box, in der Rattle auf faszinierende Weise mit modernerer Musik bekannt macht. Das ist spannend, das macht neugierig und es ist berührend, mit welcher Emphase Rattle das alles angeht. Ich finde, dasss er da eine ganze Menge richtig gemacht hat.


    Was mir aber beim Anschauen und -hören aufgefallen ist, ist, dass er selbst sich zu einem guten Stück zurücknimmt, ja, eine gewisse Bescheidenheit ausstrahlt. Er setzt den Komponisten in den Vordergrund und nicht sich selbst. Dann kann man natürlich als Nachfolger von Karajan schon mal blass aussehen.


    Ich glaubte bei ihm wirkliche Freude an der Musik zu erkennen und das machte ihn mir sehr sympathisch.


    Tschö
    Klaus

    ich weiß, dass ich nichts weiß. Aber ganz sicher bin ich mir da nicht.

  • Ich glaube, dass Rattle sehr viel richtig gemacht hat. Er hat ein (vergleichsweise) Provinzorchester (Birmingham) auf ein hohes Niveau gebracht und als junger Dirigent ein sehr breites Repertoire dirigiert und eingespielt, da von Haydn und Cosi fan tutte (mit einem HIP-Ensemble) bis Mahler, Szymanowski und Musik der Gegenwart reicht. Jemand wie Thielemann müsste jede Woche ein neues Stück studieren, um auf die Breite zu kommen, die Rattle schon vor 15 Jahren aufwies.
    Er ist in relativ jungem Alter (ein Jahr älter als Karajan bei seinem Amtsantritt) Chef eines der berühmtesten Orchester der Welt geworden und hat, soweit ich das beurteilen kann, in dieser Position große Erfolge gefeiert (und eine extrem attraktive Sängerin geheiratet....) Er hat seither mit unterschiedlichen Projekten zur Popularisierung und Verbreitung klassischer Musik beigetragen.


    Dass Hörer, die grundsätzlich der Meinung sind, die goldenen Zeiten der Klassik seien unwiederbringlich vorüber und den internationalen Charakter, den die Klassik-Szene seit einem halben Jahrhundert oder mehr aufweist (der Ire Galway war vor etwa 40 Jahren Flötist unter Karajan), ignorieren, irgendwas an Rattle zu bekritteln finden werden, ist wohl kaum verwunderlich (selbsterfüllende Prophezeiung).


    Man wird aber auch für Abbado, Karajan u.a. ohne weiteres sehr kritische Kommentare finden; man muss nur ein bißchen recherchieren.
    Es ist doch überhaupt nicht der Punkt (und eine absurde Erwartung), dass ein Dirigent alles gleichermaßen überzeugend macht. Mal abgesehen davon, dass unterschiedliche Hörer Unterschiedliches überzeugend finden. Bei fast jedem Dirigent mit einem breiteren Repertoire als Carlos Kleiber wird man vieles Kontroverse finden.

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • Unabhängig von Rattle einmal die ganz ketzerische Frage.
    Muß man sich überhaupt noch sinfonische Konzerte auf CD kaufen bzw. anhören ( nicht Live im Konzert, ich spreche jetzt ausschließlich von Tonträgern ) wenn man die bekannten Werke von Klemperer, Furtwängler, Knappertsbusch, Böhm, Walter, Celibidache, Keilberth, Bernstein, Horenstein, Leibowitz, Fricsay, Scherchen, Schuricht, Karajan ( die frühen Aufnahmen ), E. Kleiber, Monteux und Ansermet kennt?

  • Die Frage konnte man sich vermutlich schon vor 20 Jahren stellen... ;) Sie betrifft aber Thielemann, Chailly oder P. Järvi oder die noch Aktiven der älteren Generation wie Maazel oder Abbado ebenso wie Rattle. Bei vielen Werken kann man sie sich auch schon für den Bereich der Originalinstrumente stellen. Und für die "Golden-Age"-Denkweise ist sie nichtmal ketzerisch.


    Von den neueren Aufnahmen Rattles aus Berlin kenne ich allein die Haydn-Sinfonien (88-92). Selbst wenn dieses Repertoire, anders als vor 20 Jahren, heute ganz gut abgedeckt ist, finde ich die sehr hörenswert, eine hochwillkommene Ergänzung und würde nicht sagen, dass es auf modernen Instrumenten besseres gibt (und ob auf alten kann man auch bezweifeln).

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    (Bob Dylan)

  • Man wird aber auch für Abbado, Karajan u.a. ohne weiteres sehr kritische Kommentare finden; man muss nur ein bißchen recherchieren.


    Stimmt. Da wird schnell deutlich, dass selbst der heute gern als unangreifbar hingestellte "Mythos Karajan" sogar in seinen Glanzzeiten tlw. schlechte Presse hatte.


    "Hier überwucherte Karajans sinfonische Orchesterauffassung die Singstimmen in einer Weise, daß vom Text kaum mehr etwas zu verstehen war." — Hannoversche Allgemeine, 09.04.1974, über "Die Meistersinger"


    "Denn Karajans musikalische wie szenische Realisation des 'Rings' mag in Details interessant und in großen wichtigen Dingen abzulehnen sein, vor allem ist sie nicht, was man ernsthaft diskutabel nennen kann. Nun, in der Überschau muß man es aussprechen. Es ist ein nicht besonders gelungener, im Format außergewöhnlicher, im Niveau durchschnittlicher 'Ring'. Kein Grund, sich nach der einen oder anderen Richtung aufzuregen, man wird von Wieland Wagners Thesen noch lange zu reden haben und auf einen guten 'Ring' wahrscheinlich noch einige Generationen warten müssen. Karajans 'Ring' wird vergessen werden." — Die Presse, 30.03.1970, über den "Ring des Nibelungen"

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    – Luís de Camões

  • Zitat

    Muß man sich überhaupt noch sinfonische Konzerte auf CD kaufen bzw. anhören ( nicht Live im Konzert, ich spreche jetzt ausschließlich von Tonträgern ) wenn man die bekannten Werke von Klemperer, Furtwängler, Knappertsbusch, Böhm, Walter, Celibidache, Keilberth, Bernstein, Horenstein, Leibowitz, Fricsay, Scherchen, Schuricht, Karajan ( die frühen Aufnahmen ), E. Kleiber, Monteux und Ansermet kennt?


    Die Frage ist durchaus nicht ketzerisch - und schwer zu beantworten.
    ich werde das daher gar nicht versuchen, sondern nur einige Phasen meines Sammlerlebens schildern


    Als ich - ungefähr mit 15 Jahren begann Schallplatten zu sammeln, da war der Markt noch gespalten in MONO und STERO. Die ersten Stereoaufnahmen wurden noch in 2 Versionen, nämlich in einer monauralen und einer stereophonen Fassung hergestellt und angeboten.
    Aber etliche "Großprojekte" die in der Mono- Ära begonnen wurden wurden eingestellt, nachdem man herausgefunden hatte, daß die Kunden keine "gemischten" Boxen kauften.
    Die Folge war, dass (ähnlich wie 25 Jahre später bei Einführung der CD) man in Windeseile bemüht war ein passables Repertoire an Stereo-Einspielungen anzubieten. Auf "Stars" und "Jahrhunderteinspielungen" musste man in dieser Phase weitgehend verztichten, wenngleich es einige Aufnahmen aus dieser Zeit gibt, die HEUTE als solche betrachtet werden.


    Relativ rasch wurden diese Einspielungen in den Budgetbereich (damals 99 Schilling statt 150)verschoben und durch prestigeträchtige Aufnahmen ersetzt (Karajan, Böhm, Kempff, Fischer Dieskau, Prey, etc etc)


    Bei der deutschen Grammophon war damals die Karajanitis ausgebrochen und enstanden zahlreiche Aufnahmen mit ihm.
    Daneben deckte Karl Böhm den Bereich Mozart ab. Zusätzlich gab es zahlreiche Aufnahmen mit Künstlern, die eigentlich ihren Zenith schon überschritten hatten - aber man wollte Stereo-Aufnahmen mit ihnen - um jeden Preis.


    Danach wurde eine neue Generation von Künstlern vorgestellt, die aber - pauschal gesagt - in etwa das selbe boten wie die Generation vor ihnen - oft jedoch beliebiger. Diese Leute sind interessanterweise heute durchwegs vergessen


    Seit Einführung der CD gab es einen neuen Schub an Interpreten - mit teilweise neuen Ansätzen. HIP wurde durchgeboxt, neue Orchester beherrschten die Szene - und eine neue Interpretationsphilosophie. Eine HIP Formation nach der anderen betrat die Klassikszene und verdrängte bisherige "Platzhirsche"


    Heute haben sich einerseits die Wogen geglättet, andrerseits hat sich die Szene verändert. Die Programmschwerpunkte wurden anders gesetzt - und auch im Bereich der Klaviersolisten haben sich neue Interpreten - mit neuen Idealen - etabliert und verändern permanent unsere Vorstellungen von liebgewordenen klassischen Ikonen. Althergebrachtes wird anders bewertet, siehe Mahler und Bruckner - aber auch Beethoven. Man denke an Harnoncourt und Norrington - und alternativ dazu an Thielemann. Man denke auch an den Wandel des Vivaldi - und Bachbildes (Karl Richter und Rilling versus Gardiner) , die Beachtung von Nischenrepertoire und seine neue Bewertung.


    Und auch wenn ich zu Beginn meines Beitrags gemeint habe, ich würde nicht versuchen die eingangs gestellte Frage zu beantworten - so tue ich es trotzdem:


    JA - man muß noch Aufnahmen der heutigen Interpreten kaufen - auch wenn man jene der Vergangenheit kennt.
    Allerdings ist es eine Tatsache - und auch Darunter hat Rattle zu "leiden" - daß die bedingungslose Anbetung von Künstlern heutzutage nicht mehr praktiziert wird.


    mfg aus Wien
    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Allerdings ist es eine Tatsache - und auch Darunter hat Rattle zu "leiden" - daß die bedingungslose Anbetung von Künstlern heutzutage nicht mehr praktiziert wird.

    Villeicht, weil so manches als unterschiedslos austauschbar ist... :D


    :hello:

    .


    MUSIKWANDERER

  • würde ich hier die von Alfred schon kurz angesprochene Parallele zu Claudio Abbado ziehen. Auch der wurde meiner Wahrnehmung nach immer als der nette Kleine gesehen, der ran durfte, als die Titanen alle weggestorben waren. Daß große Teile seines Schaffens, zumindest soweit mir bekannt, als hoch- bis höchstklassig anzusehen sind, konnte daran auch nichts ändern.


    Bei Abbado hatte ich eher stets das Gefühl, dass ihm der Nimbus des feinsinnigen italienischen Intellektuellen linker Prägung (ein Typus, der vor allem in den Metropolen Norditaliens anzutreffen war oder vielleicht noch ist) anhaftet. Ähnlich wie Maurizio Pollini, der ja in den 60er und 70er Jahren als noch junger Pianist dezidiert für die italienische Linke (vielleicht sogar für die im 'alten' Italien sehr starken Kommunisten, so genau weiß ich das nicht) eintrat.
    Wohingegen Rattle (jetzt mal zumindest so spontan für mich) weniger intellektuell als vielmehr 'smart' wirkt.


    Aber insofern hast Du natürlich auch dann völlig Recht, denn den feinsinnigen Linksintellektuellen schätzte das in den 70er und 80er Jahren doch noch sehr viel stärker als heute dem traditionellen Konservativismus anhängende deutsch-österreichische Klassikpublikum auch nicht so sehr.


    Wobei ich aber auch sagen muss, dass ich, als ich vor ca. 30 Jahren in die Klassik einstieg, Abbado von Anfang an als 'Star' wahrgenommen habe: er nahm für das 'Gelbetikett' auf - und das war doch der Ritterschlag schlechthin. Wer als Klassikkünstler sein Konterfei unter dem gelben Balken der DGG wiederfand, der hatte seiner eigenen Apotheose schon beigewohnt.


    Aber hier soll's ja um Rattle gehen, nicht um Abbado.


    Grüße,
    Garaguly

  • Sehr interessant alle Meinungen hier zu lesen, hab mir länger überlegt,ob ich meinen Senf dazu geben soll, denn ich bin kein großer Freund von Rattle, hab viele Konzerte live in Berlin mit ihm und den Berlinern hören dürfen.
    Er ist bei mir persönlich nie angekommen und ich weiß nicht einmal genau zu beschreiben an was das wohl liegt. Die Konzerte von ihm waren gut, aber transportierten keine Sternstunden zu mir als Besucher herüber wie das früher bei Böhm, Karajan, Klemperer, Celibedache der Fall war.
    Heute bei Jansons, Thielemann, Mehta und auch Karfreitag hier beim Parsifal unter Nagano in München.
    Ich gestehe auch seine Art zu dirgieren nicht die meine ist!
    Ihn umgibt keine Aura oder es kommt eine falsche herüber das ist wohl das was mir nicht gefällt!
    Ich gestehe frei heraus ich mag ihn nicht sonderlich.
    Das passiert mir selten, will dem geneigten Leser aber verschweigen, wer von den Dirigenten noch
    auf meiner rein persönlichen Negativliste steht. :stumm:
    Dabei bin ich fähig mich zu begeistern.


    :yes::pfeif:

    mucaxel

  • Wie schon mal in dem Rattle-Nachfolge-Thread angesprochen war Abbado auch in meiner Wahrnehmung gegen Ende der 1980er Jahre ohne Frage ein "Star". Für mich schon vor der Karajan-Nachfolge diskographisch/medial eher präsenter als zB Maazel oder Levine (um nur zwei Konkurrenten für diesen Posten zu nennen). Und was die Diskographie betrifft, war er schon in den 1970ern ein auf Major Labels gut repräsentierter Dirigent (also als fast alle großen Alten noch aktiv gewesen sind). Ich habe vermutlich von den Umständen der Rattle-Ernennung eher weniger mitgekriegt als 15 Jahre vorher bei Abbado, aber ungeachtet des unstrittigen Ansehens, das sich Rattle in den 1990ern erworben hat, war er für mich eine überraschendere Wahl als vorher Abbado. Aber wie gesagt, das wurde in dem anderen thread schon detaillierter ausgeführt.


    Und ja, Abbado und Pollini waren linksaußen (jedenfalls für heutige Verhältnisse, Anfang der 1970er war das vielleicht nur "links") mit Nono-Konzerten für die Arbeiter usw.


    Warum einige der Berliner Aufnahmen Rattles manchen enttäuscht haben, mag vielleicht auch daran liegen, dass ihm vorher in Birmingham in weniger geläufigem Repertoire einige sehr individuelle Aufnahmen gelungen sind. Ich bin mit seinem Schaffen sowohl vor als auch in Berlin nur auszugsweise vertraut, daher maße ich mir kein Urteil an.
    Andererseits müsste ich länger nachdenken, um von anderen aktiven Dirigenten (außer vielleicht HIP) mehr faszinierende und m.E. diskographisch durchaus relevante Aufnahmen zu nennen als von Rattle: Mahler 10 (2x), die komplettierte Bruckner 9 und die Haydn-Sinfonien sowohl aus Birmingham als auch die o.g. aus Berlin ist mehr als mir spontan bei Chailly oder Jansons an Bemerkenswertem einfällt.

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    (Bob Dylan)

  • Tamino Beethoven_Moedling Banner
  • Sir Simon Rattle ist zwar ein Ritter Ihrer Majestät, wirkt aber überhaupt nicht aristokratisch. Dabei stehe ich eigentlich auf britische Sirs. Aber vergleicht man ihn nur rein optisch mit Sir John Barbirolli oder Sir Thomas Beecham, liegen Welten dazwischen. Das Gehörte ist zwar oft gut bis sehr gut, aber selten wirklich absolut umwerfend. Wobei ich die tolle Zweite von Mahler aus Birmingham und den durchaus gelungenen Berliner Sibelius-Zyklus (wieso kommt der nicht auf CD raus?) hervorheben möchte. Diese beiden Komponisten hat er drauf. Auch den Slawischen Tanz Nr. 1 hörte ich selten spritziger. Und die komplettierte Neunte von Bruckner ist auch sehr gelungen. Aber wie mucaxel schon schrieb: Ihn umgibt keine Aura. Wenn Karajan, Celibidache, Klemperer oder Knappertsbusch den Konzertsaal betraten, erstarrte man ihn Ehrfurcht. Er wirkt nicht wie ein "Pultgott", will er wohl auch nicht sein, eben wie der nette Junge (mittlerweile auch schon ein alter) von nebenan, der keinem wehtun will.

    »Und besser ist's: verdienen und nicht haben,

    Als zu besitzen unverdiente Gaben.«

    – Luís de Camões

  • Wenn Karajan, Celibidache, Klemperer oder Knappertsbusch den Konzertsaal betraten, erstarrte man ihn Ehrfurcht.

    hn umgibt keine Aura. Wenn Karajan, Celibidache, Klemperer oder Knappertsbusch den Konzertsaal betraten, erstarrte man ihn Ehrfurcht. Er wirkt nicht wie ein "Pultgott", will er wohl auch nicht sein, eben wie der nette Junge (mittlerweile auch schon ein alter) von nebenan, der keinem wehtun will.

    Nix für ungut, aber ein Verhalten, wie es Dir offensichtlich wünschenswert erscheint, wäre in England ein Faux-Pas der Sonderklasse. Die Comedians würden Rattle als "Pultgott" so durch den Kakao ziehen, dass er sich nicht mehr in die Öffentlichkeit wagen könnte. Will man also einen "Pultgott", dann bitte einen Russen nach Berlin berufen, keinen Briten.

  • Das passiert mir selten, will dem geneigten Leser aber verschweigen, wer von den Dirigenten noch auf meiner rein persönlichen Negativliste steht.


    Na, dann gib uns als Ersatz wenigstens die Liste deiner aktuell musizierenden Lieblinge...

    ;)

    Ciao


    Von Herzen - Möge es wieder - Zu Herzen gehn!


  • Die Frage ist auch, ob das bei all diesen mit der Aura so ohne weiteres zutrifft oder nur von Nachgeborenen so wahrgenommen wird, weil sich vermutlich weitestgehend Berichte von Verehrern als von Verächtern erhalten haben.
    M.E. macht man sich mit "Pultgott" nicht nur im angelsächsischen Raum und nicht erst seit dem 21. Jhd. eher lächerlich, selbst wenn für einige hier der "Wert" der klassischen Musik anscheinend in erster Linie darin zu bestehen scheint, dass sie Gelegenheit zu derartiger Verehrung gibt. :thumbdown:
    Nach dem, was ich an Videos, Interviews u.ä. von Rattle gesehen habe, hat er durchaus Charme und Charisma und ich weiß nicht, ob das so viel anders ist als das, was man früher manchmal etwas geschwollener als Aura bezeichnet hätte.

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  • Nix für ungut, aber ein Verhalten, wie es Dir offensichtlich wünschenswert erscheint, wäre in England ein Faux-Pas der Sonderklasse. Die Comedians würden Rattle als "Pultgott" so durch den Kakao ziehen, dass er sich nicht mehr in die Öffentlichkeit wagen könnte. Will man also einen "Pultgott", dann bitte einen Russen nach Berlin berufen, keinen Briten.


    Times have changed. Und Merrie Olde England gibt's auch nicht mehr. Noch im London des Jahres 1970 war das offenbar anders, wenn ich mir die Publikumsovationen bei den letzten Konzerten des uralten Klemperer ansehe. Da wurde ein 85jähriger von der Hippie-Generation bejubelt.

    »Und besser ist's: verdienen und nicht haben,

    Als zu besitzen unverdiente Gaben.«

    – Luís de Camões

  • Ja das ist auch meine Überlegung es gab früher (sorry) halt Kempe, Keilberth, Jochum, Hollreiser, Sawallisch, Patane,
    Rother, Stein - das sind nur die Dirigenten die mir spontan einfallen, alle hervorragende Künstler, aber auch schon aus der
    2.Reihe. Das waren gestandene Maestri mit mehr oder auch weniger Charisma.
    Die Vielfalt war meiner Meinung größer.
    Heinrich Hollreiser hatte sehr langweilige Abende in Berlin oder Wien, aber war auch an vielen Abenden grandios!
    Bei Rattle fehlt mir das Charisma.


    :pfeif:

    mucaxel


  • Times have changed. Und Merrie Olde England gibt's auch nicht mehr. Noch im London des Jahres 1970 war das offenbar anders, wenn ich mir die Publikumsovationen bei den letzten Konzerten des uralten Klemperer ansehe. Da wurde ein 85jähriger von der Hippie-Generation bejubelt.


    Keine Sorge, die Uhren gehen in UK weiterhin sehr langsam. Begeisterungsfähig sind die Briten selbstverständlich, allerdings begeistert sie eben vor allem "gentleman-like behaviour" und kein Pultgott-Gebrummel a la Knappertbusch. Wer im UK in den Konzertproben rumbrüllt, wird schon am nächsten Tag mit einem aufgemalten Hitlerbart in der "Sun" oder einem anderen tabloid abgebildet.

  • allerdings begeistert sie eben vor allem "gentleman-like behaviour" und kein Pultgott-Gebrummel a la Knappertbusch.


    Klemperer und "gentleman-like behaviour"? Ein guter Witz!


    :D

    Ciao


    Von Herzen - Möge es wieder - Zu Herzen gehn!


  • Wir müssen natürlich immer dazu sagen, dass wir hier Vergleiche anstellen zwischen Dirigenten, die vor einem halben Jahrhundert wirkten, und welchen, die aktuell auf dem Podium stehen. In den 60ern konnte sich ein Dirigent wohl weltweit noch vieles rausnehmen, was heute schlechterdings völlig undenkbar wäre. Lebenden Relikten wie Celibidache sah man diese Allüren noch bis Ende der 90er nach. Aber diese Generation ist mittlerweile wohl wirklich ausgestorben. Auch ein Thielemann wird heute subtiler mit den Musikern umgehen als ein Fritz Reiner oder Toscanini (Kna soll in seinen seltenen Proben übrigens äußerst beliebt gewesen sein, zumindest schwärmten die Wiener Philharmoniker geradezu hymnisch von ihm; der einzige erhaltene Mitschnitt einer Probe von Bruckners Achter aus Wien zeigt auch alles andere als einen "Rumbrüller").

    »Und besser ist's: verdienen und nicht haben,

    Als zu besitzen unverdiente Gaben.«

    – Luís de Camões

  • Klemperer und "gentleman-like behaviour"? Ein guter Witz!


    :D


    Naja, Klemperer war aber auch geisteskrank (manisch-depressiv), oder ? Vielleicht war er aber für seinen von Joseph II. erwähnten Englandaufenthalt sehr gut medikamentös eingestellt, äh, vorbereitet... ;)

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