Mit dem Namen Hans Pfitzner mag man vielleicht nicht auf Anhieb die Bezeichnung „Liedkomponist“ verbinden. Und doch war er das. Er war es sogar in einem originären Sinn. Man kann guten Gewissens die Feststellung treffen: All die Musik, die er als Komponist hervorbrachte, hat ihre Quelle im Lied. Es ist mehr als ein Zufall, dass sein Liedschaffen nicht nur der umfangreichste Teil seines kompositorischen Werkes ist, sondern auch an dessen Anfang steht.
Die musikwissenschaftliche Pfitzner-Literatur ist sich einig darin, dass die „musikalische Lyrik“ im Zentrum seines Schaffens steht und sein ganzes übriges Werk durchdringt. Man findet dort die qualifizierende Formulierung, er sei „in der deutschen Musikgeschichte des 20. Jahrhunderts der genuine musikalische Lyriker schlechthin“ (G.J. Winkler). Und der Pfitzner Biograph Walter Abendroth merkt hierzu an:
„Es gibt keinen Weg, der sicherer und tiefer in das Zentrum der unerschöpflich gegensatzreichen Pfitznerschen Natur führen könnte, als der über sein Lied.“
Die ersten Lieder entstanden im Jahre 1884, also noch vor dem Besuch des Konservatoriums. Bis zum Jahre 1889 lagen die Liederhefte bis Opus 7 vor. Die Lieder op.9 auf Gedichte von Eichendorff entstanden 1895. In der Zeit von 1901 bis 1909 komponierte Pfitzner neun Hefte mit Liedern. Sein Liedschaffen erstreckte sich bis zum Jahr 1931. Mit Opus 41 findet es in diesem Jahr sein Ende. Insgesamt umfasst es nach der jetzt vorliegenden Edition 113 Lieder, die mit Opus-Zahl versehen sind, und 11 zum Teil fragmentarische Nachlässe.
Die Lyrik, auf die er sich kompositorisch einließ, ist breit gestreut. Es finden sich darin Zeitgenossen wie Ricarda Huch, Detlev von Liliencron oder Richard Dehmel, aber es taucht sogar der Name Walther von der Vogelweide auf. Den Schwerpunkt bilden aber Lyriker des achtzehnten und des neunzehnten Jahrhunderts: Bürger, Goethe, Keller, Meyer, Heine. Pfitzner war nicht wählerisch, was lyrische Qualität anbelangt. Er griff auch zu Gedichten von Verfassern wie Julius Sturm, Robert Reinick, Richard Leander, James Grun oder Hermann Lingg. Maßgeblich war für ihn nicht die dichterische Qualität des lyrischen Textes, sondern allein die Frage, ob von diesem ein emotionaler Impuls ausgeht, der sich in Musik verwandeln lässt.
Man hat Hans Pfitzner – im Gefolge der von Conrad Wandrey in seiner Pfitzner-Biographie geprägten Formulierung - immer wieder einmal gerne als den „letzten Romantiker“ bezeichnet und musikgeschichtlich eingeordnet. Ungeachtet dessen, dass es sich hierbei um eine im Grunde plakative Qualifizierung handelt, die man genauso gut – was das Lied anbelangt – auf Othmar Schoeck anwenden könnte, so trifft sie doch einen Wesenszug des Komponisten Hans Pfitzner. Er hat sich zwar später mit Nachdruck gegen sie gewehrt, indem er darauf verwies, dass nur der ein „Anrecht auf Anerkennung als schöpferisches Genie“ habe, „der in der Vorwärtsschau lebt“, gleichwohl trifft sie sein Wesen als Liedkomponist und als Schöpfer musikalischer Werke ganz allgemein recht gut. Pfitzner bezieht seine musikalisch schöpferische Kraft in erster Linie aus dem Geist und der künstlerischen Überlieferung der Romantik.
Es ist kein beiläufiges biographisches Faktum, dass die Lyrik Eichendorffs einen zentralen Platz in seinem Liedschaffen einnimmt und er sogar eine Kantate für vier Solostimmen, Chor und Orchester (op.28) darauf komponiert hat. Man kann mit guten Gründen behaupten, dass sich seine spezifische Liedsprache in der Begegnung mit den Gedichten Eichendorffs ausgebildet und entwickelt hat. Umso merkwürdiger ist, dass von ihm keine einzige Äußerung zu diesem Dichter überliefert ist. Traf diese Begegnung so sehr den Kern seines Wesens, dass er darüber schwieg? Tatsache ist jedenfalls – und durch entsprechende Publikationen belegt - , dass Pfitzner in der damaligen Kontroverse um die „Neue musikalische Ästhetik“, wie sie von Busoni, Alban Berg und Paul Bekker propagiert und vertreten wurde, eine eindeutige und vehement vertretene Gegenposition einnahm: In seinem , aus dem Geist der Romantik hergeleiteten, Bekenntnis zum Irrationalen und letztlich rational nicht fassbaren Ursprung und Wesen des musikalischen Kunstwerkes.
Hierher gehört auch die für seine Liedkomposition und sein kompositorisches Werk ganz allgemein konstitutive „Einfalls-Ästhetik“. Grundlage dafür ist sein Bekenntnis: „Etwas Außermusikalisches kann nie etwas Musikalisches ersetzen.“ Als Anhänger der Philosophie Schopenhauers vertritt Pfitzner die These, dass das Genie über eine in der Inspiration wurzelnde irrationale Erkenntnisfähigkeit verfüge. In der Musik findet diese ihren denkbar höchsten Ausdruck. Und deren Quelle ist die sich im kompositorischen „Einfall“ artikulierende Inspiration.
„Einfall“, - das kann ein musikalisches Motiv oder eine Melodie sein. Aber Pfitzner hat auch schon einmal Schumanns „Träumerei“ oder Schuberts „Moment musical“ in f-Moll als einen solchen „Ureinfall“, wie er das zuweilen auch nannte, eingestuft. Er meint hierzu:
Die Komposition musikalischer Werke beruhe zwar „auf bewußter Gedankenarbeit“ und es sei hinsichtlich des diesbezüglichen Aktes „kindisch, sich gegen das Wort >Reflexion< zu wehren, das kombinatorische Moment leugnen zu wollen“. Aber dann fügt er hinzu: „Alles das ist doch abhängig von dem Ur-Einfall.“
Für seine Liedkomposition spielt diese „Einfalls-Ästhetik“ insofern eine große Rolle, als er den lyrischen Text nicht, wie dies bei Hugo Wolf der Fall ist, als eine Herausforderung zur adäquaten Umsetzung in Musik im Sinne einer Interpretation und aussagemäßigen Potenzierung verstand. Für ihn tritt die Musik nicht in den Dienst des lyrischen Textes, sondern dieser hat für ihre Genese den gleichsam inspirierenden kompositorischen Impuls zu liefern.
Insofern kann man Hans Pfitzner durchaus als einen liedkompositorischen Antipoden Hugo Wolfs sehen. Und Walter Abendroth hat nicht so ganz unrecht, wenn er meint, dass nach der Steigerung des deklamatorischen Prinzips zu seinem Höhepunkt, wie sie Hugo Wolf zustande brachte, nur noch die Möglichkeit blieb, „diese schließenden Mauern zu durchbrechen“.
Hans Pfitzner ist dieses mit seinen Liedern in einer Weise gelungen, die liedkompositorische Geschichte geschrieben hat. Es soll versucht werden, das in gleichsam exemplarischer Weise anhand der Betrachtung und Analyse einzelner Lieder unter Beweis zu stellen. Der Schwerpunkt wird dabei auf den Eichendorff-Vertonungen Pfitzners liegen. Seinen Grund hat dies darin, dass, wie man es einmal sehr treffend formuliert hat, die Lyrik Eichendorffs wie ein „heimlicher Orgelpunkt“ das kompositorische Schaffen begleitet (Heinrich Lindler). Die Eichendorff-Lieder decken zeitlich die ganze Phase von Pfitzners Liedschaffen ab. Es sind insgesamt neunzehn, und sie sollen alle hier besprochen werden.
In einer Art zweitem Durchgang sollen dann anschließend einzelne Lieder auf andere Textdichter aus allen Phasen von Pfitzners Liedschaffen vorgestellt werden. Die Auswahlkriterien orientieren sich dabei an den Aspekten des Exemplarischen und Repräsentativen. Hierbei ist freilich an gewisser Anteil an Subjektivität unvermeidlich.