Welchen Einfluss hatte die sowjetische Politik auf die Musik der Welt?

  • Seit einiger Zeit bewegt mich diese Frage. Wobei ich eigentlich überhaupt keine Quellen habe außer der Geschichte von Shostakovich. Aber immerhin! Der Einfluss der Politik auf die Kunst war m.E. niemals in der Weltgeschichte so groß wie damals in der UDSSR. (Ich denke, dass die Nazis da auch viel versucht haben, aber sie haben, so denke ich, mehr mit Verboten gearbeitet, während die Russen doch eher versuchten, kreativ zu sein, zu schaffen.
    Shostakovich hat ja wohl mit seiner 5. versucht, ein perfekt sozialistisches Kunstwerk zu schaffen. Und er muss ja da auch Werkzeuge, Methoden und Kniffe erkannt haben, wenn es so gut geklappt hat, wie es nun mal war. (Hierbei spielt es keine Rolle, ob er mit Überzeugung oder anders gehandelt hat. ) Und es ist ja wohl auch eine Tatsache, dass zu UDSSR-Zeiten einige wirklich große Künstler hochgekommen sind. Mit oder gegen oder unter dem Sozialismus sei dahin gestellt.
    Oder ist es alles nur eine zeitliche Koinzidenz, die gar keine tiefere Bedeutung hat?


    Tschö
    Klaus

    ich weiß, dass ich nichts weiß. Aber ganz sicher bin ich mir da nicht.

  • Hallo Klaus,


    ich glaube, dass Deine Frage so, wie Du sie formuliert hast, kaum konkret beantwortbar ist. Denn: Was ist "sowjetische Politik"? Dahinter verbirgt sich zunächst einmal so ziemlich alles zwischen der Ermordung der Zarenfamilie 1918 bis zum desaströsen Umgang mit der Tschernobyl-Katastrophe 1986 (die Beispiele sind nur aus chronologischen Gründen gewählt worden: das erste steht am Beginn der Sowjetherrschaft, das zweite ereignete sich in der Phase ihres Siechtums und markiert auch moralisch das Ende der kommunistischen Herrschaft in Russland). Gibt es da überhaupt Wechselwirkungen mit der musikalischen Entwicklung sogar gleich der ganzen Welt, wie Du's ja formulierst?
    Man müsste also zunächst einmal definieren, welche Bereiche und Entwicklungslinien sowjetischer Politik zu welchem Zeitpunkt Einflüsse auf die musikalische Entwicklung in der UdSSR selbst genommen haben. Anschließend kann man fragen, wie diese, von der Politik geprägte sowjetische Musik, eventuell stilbildend auf Komponisten außerhalb der UdSSR gewirkt hat. Da könnte man zunächst auf den der UdSSR politisch unterworfenen 'Ostblock' schauen, um dann den Blick auf die gesamte Welt zu richten.


    Das wird dann aber ein ordentliches Unterfangen!


    Oder man geht anders heran: Prokofieff verlässt angesichts der bolschewistischen Revolution Russland, kehrt knapp 20 Jahre später in seine Heimat Russland zurück (den Kommunismus in Kauf nehmend) und komponiert fortan auch politische Musik (sozialistischer Realismus; Kantaten zu Revolutionsfeiern, Parteitagen, Stalingeburtstagen). Da Prokofieff ein weltweit bekannter und anerkannter Komponist ist, wird auch seine Musik, die sich dem von der Partei gewünschten Stil des sozialistischen Realismus annähert, weltweit gehört und künstlerisch rezipiert. Übte sowjetische Politik also vielleicht auf solchen Wegen Einfluss auf die Musik der Welt aus?


    Aber was ist nun wieder die 'Musik der Welt'?


    Es wird kompliziert! Ich glaube, wenn Deine Frage überhaupt beantwortbar ist, dann nur auf einer Metaebene, die zumindest meinen samstagvormittäglichen (und vielleicht nicht nur den :D ) Rahmen sprengt.


    Grüße,
    Garaguly

  • Statt musikalische Vielfalt, gab es in der damaligen UdSSR lediglich musikalische Einfalt, um es einmal ganz brutal zu formulieren.
    Der Kernsatz der damaligen Regierung war es, nur wenn der dümmste Bauer versteht worum es in der Musik geht, ist sie gut genug für alle (siehe hierzu die Biographie von Galina Vishnevskaya).
    Andere Musik galt es formalistisch und diese Musik wurde nicht aufgeführt, sie war schlicht und ergreifend verboten.
    Welche Musik als Formalistisch galt, entschieden hier der Kreml.
    Soviel also zum Thema der Förderung von Kreativität in der Musik in der damaligen UdSSR bis ca. 1989.

  • Und weil die Musik so gestrickt ist, dass sie auch der dümmste Bauer versteht, sind Schostakowitsch und Khatchaturian nach dem endgültigen Sieg des Kapitalismus im Westen so populär wie sie eben sind, oder was sollte man daraus schließen?


    Ich glaube nicht, dass es einen Einfluß auf die Musik der Welt gegeben hat, aber natürlich auf die Musik sowjetischer Komponisten. Besonders in den 20er Jahren gab es eine künstlerische Aufbruchstimmung im nachrevolutionären Russland, die mit der Avantgarde durchaus kompatibel war. Freilich kamen wenig später dann die Einschränkungen durch die Kulturbürokratie, sozialistischer Realismus usw. Sehr wahrscheinlich wird das die Musik geprägt haben. Manche Werke verschwanden in der Schublade, andere gingen kreativ mit den Einschränkungen um. Besonders gefördert wurde anscheinend ja auch eine Art Folklorismus wie etwa bei Khatchaturian.


    Künstler sind freilich auch mit den Regimes weitgehend unabhängig vom künstlerischen Stil in Konflikt geraten. Ich habe gerade zwei CDs mit Sinfonien u.a. des ungarischen Komponisten Lajtha erhalten, der im sozialistischen Ungarn lange erhebliche Probleme hatte. Die Musik klingt für mich allerdings auf den ersten Blick nicht so, dass man vermuten könnte, sie habe provokant auf die Kulturkommissare gewirkt. Vielleicht bein wenig impressionistischer als unmittelbarer Folklorismus, aber keine 12-Ton-Avantgarde usw.

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • Ich meinte natürlich KULTURpolitik.
    Und dass die nur auf Vereinfachung gerichtiet war, glaube ich einfach nciht. Es wurde schon darauf hingewiesen, dass es dann nicht Leute wie Prokoffiev, Shostakovich oder Khatchaturian gegeben hätte. Wobei übrigens sogar Repression Auswirkungen haben könnte, die gar nicht vorauszusehen waren. - Verklausulierungen, Emigration -.
    Aber gerade Shostakovich ist für mich ein hervorragendes Beispiel. Denn er hat sich ja irgendwie lenken lassen, d.h. in einem andereen System hätte er andere Musik gemacht. (ich weiß, dass das jetzt Spinnerei ist, zu überlegen, was anders gewesen wäre. ).
    Das Schlimmste scheint ja der "Formalismus" gewesen zu sein, von dem ich nur eine vage Vorstellung habe, was das überhaupt ist.
    Auf jeden Fall sind ja auch KÜnstler weggegangen, weil ihnen die Arbeitsbedingungen einfach nicht mehr passten, danach haben sie die Musik anderer Länder auf jeden Fall bereichert und beeinflusst.
    Es gibt also auf jeden Fall eine Menge Einfluss auf die Musik der Welt. Und meiin Gefühl sagt mir, dass es da auf jeden Fall auch Positives gab, obwohl ich nicht festmachen kann, wie dieser positive Einfluss entstand. Außer vielleicht, weil es ja große und gute Konservatorien gab, die evtl. gut durch die Politik zu manipulieren waren.


    Tschö
    Klaus

    ich weiß, dass ich nichts weiß. Aber ganz sicher bin ich mir da nicht.

  • Das Schlimmste scheint ja der "Formalismus" gewesen zu sein, von dem ich nur eine vage Vorstellung habe, was das überhaupt ist.


    Die sogenannte "Formalismus-Debatte" wurde unter Federführung (wohl auch wörtlich zu verstehen!) der UdSSR in allen Staaten, die im Machtbereich Stalins lagen, ab 1948 bis in die frühen 50er Jahre hinein geführt und richtete sich nicht nur gegen Komponisten, sondern auch gegen Künstler anderer Kunstgattungen wie Malerei und Literatur.
    In der Sowjetunion führte der lange als Stalins "Kronprinz" (wenn diese monarchistische Formulierung in gerade diesem politischen Kontext gestattet ist) geltende Andrei Schdanow die Kampagne an. Grob gesagt verband sich mit dem Vorwurf des "Formalismus" ein Verzicht auf (deutlich wiedererkennbare!!) folkloristische Elemente in der Musik. Eine Musik, die darauf verzichtet, ist eine Musik, die sich dem Volk entfernt. Kritisiert wurde auch, dass Musik nicht nur einigen wenigen Gebildeten und Intellektuellen gefallen solle, sondern die Erfolge des Aufbaus des Sozialismus durch das Proletariat zeigen und unterstützen solle ( = sozialistischer Realismus).
    Das bleibt natürlich alles etwas vage, aber es ging ja wohl vor allem darum, vermeintliche Argumente an der Hand zu haben, die man zur Not so gut wie jedem, der sich aus irgendwelchen Gründen unbeliebt macht, einem Bannstrahl gleich entgegenschleudern konnte.


    Grüße,
    Garaguly

  • Aber gerade Shostakovich ist für mich ein hervorragendes Beispiel. Denn er hat sich ja irgendwie lenken lassen, d.h. in einem andereen System hätte er andere Musik gemacht. (ich weiß, dass das jetzt Spinnerei ist, zu überlegen, was anders gewesen wäre. ).


    Ich kann mir nicht vorstellen, dass Schostakowitsch in einem anderen System andere Musik komponiert hätte. Für mich ist er nur vorstellbar wie er ist. Sein Werk, seine ganze große Begabung ist doch Ausdruck der Vorgänge in der untergegangenen Sowjetunion, deren Eintritt in die Weltgeschichte auch mit großen Hoffnungen verbunden war - auch bei westeuropäischen Intellektuellen und Künstlern. Diese finden sich bei ihm genau so musikalisch reflektiert wie deren Verdrehungen und Verhunzungen. Daran hat S. gelitten, nicht am System selbst. Er war in seinem tiefsten Innern immer Kommunist und hat an die Zukunft dieser Idee geglaubt. Die Tragik der Künstler wie er es war, bestand doch gerade darin, dass sie gar keine Alternative zum Sowjetsystem für möglich hielten. Wie denn auch? Es war so etwas wie ein neuer Glaube, der den alten ersetzen sollte und ihn in Teilen auch ersetzt hat. Einen direkten Einfluss der Kulturpolitik sehe ich bei S. grundsätzlich also nicht. Er hat natürlich opportunistische Kompromisse gemacht bis zur Selbstverleugnung und hatte fürchterliche Angst, selbst Opfer von Denunzianten zu werden. Das hat aber an seiner Weltanschauung nichts geändert. Das finde ich persönlich schlimm an diesem System. Es hat Menschen gebrochen, die anschließend immer noch daran glaubten.


    Gruß Rheingold

    Es grüßt Rüdiger als Rheingold1876


    "Was mir vorschwebte, waren Schallplatten, an deren hohem Standard öffentliche Aufführungen und zukünftige Künstler gemessen würden." Walter Legge (1906-1979), britischer Musikproduzent

  • Welchen Einfluss hatte die sowjetische Politik auf die Musik der Welt?

    Schostakowitsch, Prokofiew, Chatschaturian, Kabalewski, Mjaskowski, Gliere als Komponisten, Kondraschin, Roschdestwenski, Swetlanow als Dirigenten, Oistrach, Gillels, Richter als Solisten, wobei die Aufzählung absolut nicht vollzählig ist.
    Den sozialistischen Realismus als anerkannte Stilrichtung und eine Vielzahl stilistischer Experimente aus den 20ern.

    Wenn man nun bedenkt, dass es in der westlich-kapitalistischen Welt nichts vergleichbares zu den Werken der oben aufgezählten Komponisten gibt und diese Herren teilweise auch erst in den 70ern gestorben sind, ist es mit dem Einfluss auf die nachfolgende Künstlergenerationen so eine Sache. Bei der Herausarbeitung des selbigen landet man ziemlich schnell in der postsowjetischen Ära, bzw. im hier und jetzt, bzw. in work in progress.
    Ein gutes Beispiel dafür sind die Komponisten Schtschedrin und Schnittke, die noch in der (nachstalinistischen) SU ihre Karriere begonnen haben, sich erst einmal von ihrern Lehrern und Vorbildern haben lösen müssen, um dann zu einem eigenen Stil zu finden, weswegen deren reaktives Verhalten letztendlich auch wieder auf der sowjetischen Kulturpolitik basiert.

    Meines Erachtens hat also die sowjetische Politik durchaus Einfluss auf die Weltmusik gehabt, jedoch sind wir zeitlich noch viel zu nahe dran, um ihn richtig einschätzen zu können.

    Zur Sowjetunion allgemein möchte ich noch bemerken, dass es nach Stalins Tod durchaus noch einmal eine kulturelle Blüte gegeben hat, die jedoch am Erbe des Stalinismus erstickt ist. D.h. Stalin war tot und alle Schuld wurde in pauschalster Art und Weise auf ihm abgeladen. Von seinen ganzen Helfern und Helfershelfern wurde nur Berija hingerichtet und zwar nicht für das, was er getan hat, sondern wegen eines Putschversuches. So genau wollte man es nämlich auch an verantwortlicher Stelle in der nachstalinistischen SU nicht wissen, wäre man doch höchste Gefahr gelaufen, selbst in die Sache hineingezogen zu werden, aus der man sich gerade heimlich, still und leise davon gemacht hat.
    D.h. als die Verbannten wieder rehabilitiert worden sind und heimkommen haben dürfen, haben sie feststellen müssen, dass ihren Denunzianten, Verfolgern und Peinigern eben nichts passiert ist und sämtliches Auflehnen dagegen eben erstickt worden ist.

    Und zur Lage der Künstler in der SU allgemein möchte ich noch anmerken, dass es alle Staatskünstler waren, die letztendlich vom Staat auch besoldet worden sind. Und da gilt halt der alte Satz: wer zahlt, schafft an. Auf dieser Ebene schon von Repression zu sprechen, halte ich noch nicht für angebracht.

    Viele Grüße
    John Doe

  • Wenn man nun bedenkt, dass es in der westlich-kapitalistischen Welt nichts vergleichbares zu den Werken der oben aufgezählten Komponisten gibt...


    Wie meinst du das? In punkto Bedeutung? Da steht es nicht so schlecht, wie es scheint:


    Unter "westlich-kapitalistisch" fallen (ohne Wertung in der Reihenfolge) Richard Strauss, Alban Berg, Arnold Schönberg, Erich Korngold, Anton von Webern, Benjamin Britten, Igor Strawinsky, Bela Bartok, Ernst Krenek u.a. ...


    :hello:

    Ciao


    Von Herzen - Möge es wieder - Zu Herzen gehn!


  • Ich glaube nicht dass die Politik eines einzelnen Landes Auswirkungen auf die "Klassische Musik" der Welt haben kann.
    Schostakowitsch hatr weiter seine Sinfonien geschrieben und wurde - nach einem Rüffel durch den Staat, der demonstrieren wollte, daß er auch über die Kunst gebiete - weiterhin verhätschelt. Niemand soll bemerkt haben, daß Schosta nach den Rüffel die Jubelstellen für das Regime nur als Parodie komponiert habe. Zufällig ist das erst publik geworden als er schon im sicheren Westen war.Und weil man froh war, daß er jetzt da war und nicht kommunistisch empfand - und laut eigener Aussage diesen immer schon verabscheut hatte - da hinterfragte man das alles nicht mehr so genau.....
    Es war ja auch so, daß zu verschiedenen Zeiten die Sinfonien verschieden bewertet wurden, was einst als Triumphmarsch, dem Regime geweiht galt - wurde später als Trauermarsch mit erzwungener Heiterkeit bezeichnet. An der Musik an sich ändert das indes nichts......Na ja....


    Zitat

    Ich denke, dass die Nazis da auch viel versucht haben, aber sie haben, so denke ich, mehr mit Verboten gearbeitet, während die Russen doch eher versuchten, kreativ zu sein, zu schaffen.


    Das ist ein heikles Thema, welche ich vielleicht ein wenig anders sehe. Es wurde damals das verboten was ohnedies die meisten nicht hören wollten. Man hat also den Feinden der Avantgarde quasi ein "Geschenk" gemacht - und selbst verfolgte man andere Ziele damit.


    Aber auch hier war die Auswirkung nur eine zeitlich und örtlich begrenzte. Die betroffene Musik des 20. Jahrhunderts war in anderen Ländern nicht vom Aufführungsverbot betroffen. Aber sie wurde auch nicht mit mehr Begeisterung in jenen Ländern gehört in denen sie nicht verboten war. Und als der Krieg vorbei war und sich die Lage einigermaßen stabilisiert hatte,und man wieder spielen und aufnehmen durfte was man wollte, wurde dieser Musik auch nicht zugejubelt, sie wurde quasi als "Wiedergutmachung" auf die Spielpläne gesetzt und auf Tonträger gebannt. Eine "Renaissance" erlebte sie indes nur in den seltensten Fällen....


    mit freundlichen Grüßen aus Wien
    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Banner Interviebanner 1 Gelbe Rose
  • Hallo Theophilus,


    mir ist jetzt keine zeitgenössische Sinfonie aus dem Westen bekannt, die einen direkten Vergleich mit der Sinfonik von Schostakowitsch, Prokofiew, Chatschaturian oder Kabalewski Stand hielte.
    Und von den Komponisten, die du aufgezählt hast, hat mit Ausnahme von Strauß und Strawinski doch keiner ein nennenswerte Zahl von Sinfonien hinterlassen.


    Wenn man davon ausgeht, dass die Sinfonie neben dem Konzert die musikalische Großform der klassischen Musik schlecht hin ist, dann hat man doch westlicherseits alles darangesetzt, selbige zu überwinden, der weil im Osten in diese Form völlig unbedarft neue Inhalte hineingegossen worden sind. Und zwar auf eine Art und Weise, dass trotz aller Modernität und allem Neuen immer noch die klassische Form gewahrt wurde und das Resultat hörbar, verständlich, schön geblieben ist.


    Viele Grüße
    John Doe
    :jubel:

  • mir ist jetzt keine zeitgenössische Sinfonie aus dem Westen bekannt, die einen direkten Vergleich mit der Sinfonik von Schostakowitsch, Prokofiew, Chatschaturian oder Kabalewski Stand hielte.

    Die genannten sind die populärsten Symphoniker ihrer Zeit, das muss jedoch nicht unbedingt bedeuten, dass die Qualität proportional zum Popularitätsvorsprung ist. Wenn es um Symphonien geht - kennst du die Werke von Reger, Hindemith, Martinu, Weingartner, Furtwängler, Klemperer, Hovhannes, Brian, Vaughan Williams und Bax? Das sind bereits über 100 Symphonien und besonders bei den Engländern finden sich noch weitere. Da könnten sich echte Perlen verbergen, die lediglich das Pech haben, dass sie fast niemand kennt...



    Wenn man davon ausgeht, dass die Sinfonie neben dem Konzert die musikalische Großform der klassischen Musik schlecht hin ist, dann hat man doch westlicherseits alles darangesetzt, selbige zu überwinden, der weil im Osten in diese Form völlig unbedarft neue Inhalte hineingegossen worden sind.

    Diese Annahme kann sicherlich diskutiert werden - zumindest Richard Wagner würde dir entschieden widersprechen ;) - aber das 20. Jahrhundert ist musikalisch viel zu divergent, als dass man derart allgemeine Aussagen machen kann. Man könnte vermutlich problemlos 150 "westliche" Symphonien im 20. Jahrhundert zusammenbringen, was deine Behauptung doch sehr relativieren würde...


    :hello:

    Ciao


    Von Herzen - Möge es wieder - Zu Herzen gehn!


  • Es gibt schon eine ganze Reihe von Sinfonien aus den 30er bis 60er Jahren, die meinem Eindruck nach bekannter sind als Miaskowsky oder Kabalevsky, wenn auch vielleicht nicht so wie Prokofieff (der ja erstmal kein typischer Sowjetkomponist gewesen ist).
    Z.B. Hartmann, Hindemith, Honegger, Martinu (oder zählt jetzt Tschechoslowakei auch zu den Sowjets...), Enescu, Dutilleux, Ives, Copland, Petterson, Vaughan Williams...


    Aber die avanciertesten und bekanntesten Komponisten haben, angefangen mit Debussy und Ravel, eher selten "typische" Sinfonien komponiert. Das ändert aber nichts daran, dass La Mer oder Musik für Saiteninstrumente... gewichtigere und bedeutendere Stücke sind als vieles aus der Zeit, was Sinfonie im Namen führt.

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • Ich kann mir nicht vorstellen, dass Schostakowitsch in einem anderen System andere Musik komponiert hätte. Für mich ist er nur vorstellbar wie er ist. Sein Werk, seine ganze große Begabung ist doch Ausdruck der Vorgänge in der untergegangenen Sowjetunion, deren Eintritt in die Weltgeschichte auch mit großen Hoffnungen verbunden war - auch bei westeuropäischen Intellektuellen und Künstlern.


    Das verstehe ich nicht ganz. Schostakowitsch schrieb expressionistische Werke, etwa seine vierte Symphonie oder die Lady Macbeth, die ihn in größte Gefahr brachten, während der "Jeschowschina" ermordet oder zumindest interniert zu werden. Daraufhin schrieb er die "brave" fünfte Symphonie. Somit ist klar, dass Schostakowitschs Stil sehr wohl vom Stalinismus direkt beeinflusst war. Die kompositorische Entwicklung Prokofjews (vom expressionistischen Avantgardisten zum SU-Weichspüler) zeigt auch deutlich, welcher Druck damals herrschte, seinen Stil den Parteirichtlinien anzupassen (bzw. Stalins persönlichem Geschmack).

  • Zitat Alfred Schmidt:
    "Niemand soll bemerkt haben, daß Schosta nach den Rüffel die Jubelstellen für das Regime nur als Parodie komponiert habe. Zufällig ist das erst publik geworden als er schon im sicheren Westen war.Und weil man froh war, daß er jetzt da war und nicht kommunistisch empfand - und laut eigener Aussage diesen immer schon verabscheut hatte - da hinterfragte man das alles nicht mehr so genau....."


    Soll das heißen, Schostakowitsch sei in den Westen gegangen? Ist er nicht. Und er verabscheute den Kommunismus auch nicht. Das war ja gerade sein Problem. Er hielt immer zum Kommunismus. Die Partei hatte immer Recht und das Vaterland stand über allem. Erst recht, als es von Hitlerdeutschland überfallen und in Brand gesteckt wurde. Nur daraus ist zu erklären, dass er sich so klein machte vor den Mächtigen und immer in seiner Heimat blieb, von Reisen in den Westen brav zurückkehrte. Er handelte auch dabei aus vollster Überzeugung und hielt die üble Kritik der Partei an seinen expressionistischen Werken in Teilen sogar noch für gerechtfertigt. Es ist schwierig, das als blanken Einfluss der Politik zu deuten. Die Lage ist viel komplizierter und sprengt eigentlich den Rahmen eines solchen Threads. Dies also noch als kleine Erwiderung für Felix.


    Rheingold

    Es grüßt Rüdiger als Rheingold1876


    "Was mir vorschwebte, waren Schallplatten, an deren hohem Standard öffentliche Aufführungen und zukünftige Künstler gemessen würden." Walter Legge (1906-1979), britischer Musikproduzent

  • Hallo,


    seit mehreren Jahren nun schon ist im 20. Jhdt. mein musikalischer Schwerpunkt und ich habe dabei die Beobachtung gemacht, dass es sich mit den Sowjetkomponisten, allen voran Schostakowitsch, in etwa so verhält, wie mit der Wiener Klassik. Auch in der hat es neben den großen dreien noch eine Vielzahl anderer Komponisten gegeben, die Gutes und Schönes geschrieben haben, aber das Niveau eines Haydn, Mozart, Beethovens eben doch nur partiell erreicht haben.
    Selbstverständlich sind Hartmann, Hindemith, Honegger, Martinu, Enescu, Dutilleux, Ives, Copland, Petterson, Vaughan Williams große Komponisten. Und auch Reger, Weingartner und Hindemith. Und auch Strawinski, den ich sehr schätze. aber im Vergleich zu den Sowjetkomponisten fehlt ihnen etwas: Sei es, dass ihre Musik zu statisch, zu intellektuell, zu künstlerisch, zu wenig verständlich und eingängig ist oder sich zu sehr auf nur eine musikalische Problematik, bzw. nur einen Effekt beschränkt.


    Da könnten sich echte Perlen verbergen, die lediglich das Pech haben, dass sie fast niemand kennt...

    Grundsätzlich ja, bloß bis jetzt bin ich auf diese nicht gestoßen. Wunderbare Einzelwerke ja, und bei einer eingehenderen Befassung mit dem Komponisten bleibt es dann dabei. Ein schönes Beispiel dafür ist der spanische Komponist Rodrigo: sein Concierto de Aranjuez und die Fantasia para un gentilhombre sind wunderbare Musik, der Rest beginnt dann langsam eine gepflegte, hochkultivierte Langeweile zu verbreiten.


    Meinem subjektiven Empfinden nach wurde in der großen Zeit der Sowjetunion durchaus eine Art "sowjetische Klassik" geschaffen, die den Vergleich zur Wiener Klassik nicht zu scheuen braucht. Und zwar von Staats und System wegen beabsichtigt, was der ganzen Sache noch eine zusätzliche einzigartigkeit verleiht.
    Wie weit diese Folgen getragen hat, ist wegen der zeitlichen Nähe zu uns aber noch sehr schwer abzuschätzen.


    Viele Grüße
    John Doe
    :hello:

  • o.k., das ist ein sehr persönlicher Geschmack von Dir. Ich kenne sonst niemanden, der Miaskowsky auch nur annähernd auf Augenhöhe mit Hindemith, Ives oder gar Stravinsky sehen würde.


    Wir haben einzelnes davon schon in anderen Threads (ich weiß leider nicht genau, wo), u.a. auch mit Kurzstückmeister diskutiert. Meines Wissens sind historisch die künstlerische Aufbruchstimmung der 1920er bis 30er Jahre weitgehend unbestritten, ebenso die dann einsetzende Repression und beides hat natürlich Einfluss auf die Komponisten gehabt, genauso auch das reiche Erbe der Spätromantik (Glasunow lebte bis 1936, wenn auch zuletzt in Paris)


    Meinem Eindruck nach werden in der Rezeption außerhalb des Ostblocks die Sowjetkomponisten mit Ausnahme weniger Werke (Schostakowitschs 5. oder Khatchaturians Konzerte) lange ignoriert. In den zentralen Auseinandersetzungen spielen sie keine Rolle, weil spätestens ab den 1940ern ihre Musik von der westlichen Avantgarde als hoffnungslos rückständig angesehen wurde. Wir hatten das vermutlich schon einmal. Bis in den 1980er, als über Biographien das komplexe Verhältnis Schostakowitschs zum Regime deutlich wurde, galt er den Avantgardisten als altmodisch und den Konservativen als Sowjetkomponist. (Galt er vielen danach allerdings auch noch...) Eine weitere Rolle spielt vielleicht auch die zunehmende Aufsplittung der Avantgarde in ganz unterschiedliche Richtungen, die zu mehr Toleranz gegenüber quasi-romantischer Musik geführt hat.


    Aus unterschiedlichen Gründen ist das in den letzten 20-25 Jahren beinahe ins Gegenteil umgeschlagen und Schostakowitsch nun einer der populärsten Komponisten des 20. Jhds. Meinem Eindruck nach bleibt dies Popularität aber weitestgehend auf Schostakowitsch begrenzt (Prokofieff zähle ich jetzt mal nicht als typischen Sowjetkomponisten). Dass Weinberg, Miaskowsky u.a. immerhin auf Tonträgern verfügbar sind und es ein gewisses Publikum dafür gibt, ist unbestritten. Das gibt es aber auch für andere Komponisten, die Jahrzehnte lang höchstens lokal bekannt waren, wie Bax, Walton u.a.


    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • Die kompositorische Entwicklung Prokofjews (vom expressionistischen Avantgardisten zum SU-Weichspüler) zeigt auch deutlich, welcher Druck damals herrschte, seinen Stil den Parteirichtlinien anzupassen (bzw. Stalins persönlichem Geschmack).

    Ich kann in der 7. und 8. Klaviersonate, den beiden Sonaten für Violine und Klavier keinen "SU-Weichspüler" erkennen. Den Klassizismus finde ich sollte man als Kunstrichtung des 20. Jhd. Ernst nehmen - das gilt auch für Schönberg und Strawinsky. Zur Formalismus-Debatte bemerkte Prokofieff übrigens sehr sarkastisch: "Unter "Formalismus" versteht man bei uns ungefähr das, was man nicht gleich versteht!"


    Schöne Grüße
    Holger

  • Von Mosolov berühmt ist das Orchesterstück aus der Eisengießerei - die revolutionär-liberalistische Frühphase der SU, wo auch Kandinsky dort wirkte und in Leningrad Anton Webern aufgeführt wurde:



    Sehr hörenwert auch:



    Schöne Grüße
    Holger

  • Er handelte auch dabei aus vollster Überzeugung und hielt die üble Kritik der Partei an seinen expressionistischen Werken in Teilen sogar noch für gerechtfertigt. Es ist schwierig, das als blanken Einfluss der Politik zu deuten. Die Lage ist viel komplizierter und sprengt eigentlich den Rahmen eines solchen Threads. Dies also noch als kleine Erwiderung für Felix.


    Kannst Du mir die Quellen für Deine Annahmen nennen? Dass Schostakowitsch zuhause blieb und sich dahingehend äußerte, dass er von der Partei zurecht gemaßregelt worden wäre, sagt nichts über Schostakowitschs Innenleben aus. Es gibt wohl tausende Zeugnisse über Sch., welche aber höchst widersprüchlich sind. Realistischerweise muss man davon ausgehen, dass ein Individuum, das in einem totalitären Terrorstaat lebt, davon psychologisch nicht unberührt bleibt. Für mich ist aber die Faktenlage dahingehend völlig klar, dass Schostakowitsch unter Lebensgefahr dazu gezwungen wurde, anders zu komponieren als er wollte.

  • Banner Trailer 2 Gelbe Rose
  • Ich kann in der 7. und 8. Klaviersonate, den beiden Sonaten für Violine und Klavier keinen "SU-Weichspüler" erkennen. Den Klassizismus finde ich sollte man als Kunstrichtung des 20. Jhd. Ernst nehmen - das gilt auch für Schönberg und Strawinsky. Zur Formalismus-Debatte bemerkte Prokofieff übrigens sehr sarkastisch: "Unter "Formalismus" versteht man bei uns ungefähr das, was man nicht gleich versteht!"


    Ich verstehe nicht, in welchem Zusammenhang der erste Satz mit dem zweiten steht. Du meinst wohl nicht, dass Prokofjews 7. und 8. Klaviersonate neoklassizistisch seien, oder?
    Jedenfalls war im Bereich der Kammer- und Klaviermusik vor allem während der chaotischen Kriegsjahre wohl mehr Abweichlertum möglich als vorher und nachher. Prokofjews Orchesterpartituren - also jene, welche für das Regime prioritär waren - sind nach seiner Rückkehr jedenfalls viel zahmer geworden. Prokofjews Rückfall mit der sechsten Symphonie wurde mit Geldentzug und Ächtung bestraft. Die 7. Symphonie war dann wieder ganz nach dem Geschmack des "Woschd". Meines Wissens nennt man die Musik aus der Stalinära und danach nicht "Neoklassizismus", sondern "Sozialistischen Realismus". Der Neoklassizismus Strawinskys wäre als formalistisch angesehen worden, denn der klassische Stil ist nicht populär sondern elitär. Ausnahmen sind selten, wie etwa Mozarts Klavierkonzerte, die sowohl "populär" sind als auch "Kenner befriedigen" (nach Mozarts eigenem Bekunden). Aber wie man es auch nennt: einen Stil, der unter Androhung von Gewalt oktroyiert wird, kann ich nicht "ernst nehmen".

  • Kannst Du mir die Quellen für Deine Annahmen nennen? Dass Schostakowitsch zuhause blieb und sich dahingehend äußerte, dass er von der Partei zurecht gemaßregelt worden wäre, sagt nichts über Schostakowitschs Innenleben aus. Es gibt wohl tausende Zeugnisse über Sch., welche aber höchst widersprüchlich sind. Realistischerweise muss man davon ausgehen, dass ein Individuum, das in einem totalitären Terrorstaat lebt, davon psychologisch nicht unberührt bleibt. Für mich ist aber die Faktenlage dahingehend völlig klar, dass Schostakowitsch unter Lebensgefahr dazu gezwungen wurde, anders zu komponieren als er wollte.

    Ziemlich richtig! Und da sind wir wieder bei Schostakowitsch, der ein bisschen stellvertretend für die "sowjetische" Musik steht, sehr zu Recht, denn außer ihm ist es wohl nur Prokofjew, der zu Sowjetzeiten größere Bedeutung erlangte. Und wir sind bei Stalin, der sich auch, was die Musik anbetrifft, anmaßte zu bestimmen, was gut ist und was nicht, obwohl er wahrscheinlich völlig amusisch war. Deshalb kam in der Sowjetunion z.B. die zweite Wiener Schule überhaupt nicht vor, das ist also schon ein bestimmender Einfluss dieser Politik.
    Zurück zu Schostakowitsch. Er hat unglaublich unter dem stalinistischen System gelitten! Sein gesamtes Schaffen ist eigentlich so zu bewerten. Er stand zweimal buchstäblich am Abgrund. Das erste Mal im Jahre 1936. Am 28. Januar erschien in der parteioffiziellen "Prawda" der Artikel "Chaos statt Musik", in dem es um Schostakowitschs Oper "Lady Macbeth von Mzensk" ging. Der Artikel war nicht unterzeichnet, was bedeutete, dass er die Meinung der Partei direkt wiedergab. Anschließend gab es eine Sitzung des Komponistenverbandes, in der sich die Redner mit ihren Angriffen gegen die Oper und ihren Komponisten überboten. Selbst das Unwort "Feind des Volkes" fiel, was in dieser Zeit für viele Verhaftung und Tod bedeutete. Unter diesen Umständen komponierte Schostakowitsch die 4. Sinfonie, eines seiner erschütterndsten und tragischsten Werke, was seinen seelischen Zustand widerspiegelte. Die Uraufführung kam bekanntlich nicht zustande. Das zweite Mal war es im Jahre 1948. Ausgangspunkt war die Parteiresolution über die Oper "Die große Freundschaft" eines völlig unbekannten Komponisten. Das war aber nur der Vorwand, im Grunde wurde auf voller Breitseite gegen den "Formalismus" und antinationale Strömungen in der Musik polemisiert. Komponisten wie Schostakowitsch, Prokofjew, Chatschaturjan, Mjaskowski u.a. wurden Atonalität, Disharmonie, Dissonanz, chaotische und neurotische Klangverbindungen, kurz gesagt, Kakophonie vorgeworfen. Die angegriffenen Komponisten wurden zu einer peinlichen Selbstkritik gezwungen. Danach hatten Verleumdungen und Denunziationen Hochkultur. Im Herbst 1948 wurde Schostakowitsch seiner Professuren an den Konservatorien von Leningrad und Moskau enthoben. Einige seiner Werke wurden zeitweise nicht mehr gespielt.



    Zitat von Klaus2

    Shostakovich hat ja wohl mit seiner 5. versucht, ein perfekt sozialistisches Kunstwerk zu schaffen

    Besonders die 5. Sinfonie wird immer wieder missverstanden und als linientreu abqualifiziert. Wer so urteilt, verkennt das Groteske als Persiflage der Realität. Das Werk ist doch wie eine ausweglose Tragödie. Wahrscheinlich hat Schostakowitsch in der fünften Sinfonie sein Thema, das Thema seines Lebens, abgehandelt: Antistalinismus. Nehmen wir den zweiten Satz. Ich sehe ihn nicht als lustiges Scherzo, sondern als bissig-böse Parodie. Dann der dritte Satz, dieses Gefühl völliger Einsamkeit. Sicher kann der Schluss als Parteitagsjubel missdeutet werden. Aber wenn man sich Mühe gibt, richtig zu hören, ist das doch ein "herausgeprügelter" Jubel, wie Schostakowitsch es selbst bezeichnet haben soll.
    Das schwierige bei Schostakowitsch ist womöglich, dass er seine wahren Gefühle und Emotionen eher verschleiert, als sie preisgibt. Dagegen ist Prokofjew eher ein Komponist, der, banal und pauschal gesprochen, überall gültig ist, der Gefühlen Ausdruck gibt, die überall nachvollziehbar sind.



    Zitat von Rheingold1876

    Er war in seinem tiefsten Innern immer Kommunist.

    Auch wenn Schostakowitsch gezwungenermaßen im Jahre 1960 Parteimitglied wurde, eine Tatsache, die ihn emotional außerordentlich bedrückte, ich glaube nicht, dass er ein überzeugter Kommunist war, dafür aber ein Mensch, der mit ganzem Herzen seine Heimat liebte. Zeit seines Lebens musste er sich den Gegebenheiten, die jemand, der immer in einer heilen Welt leben durfte, vielleicht nie verstehen wird, anpassen.


    Mit den besten Grüßen


    :hello:


    Manfred

    Wenn schon nicht HIP, dann wenigstens TOP

  • Das schwierige bei Schostakowitsch ist womöglich, dass er seine wahren Gefühle und Emotionen eher verschleiert, als sie preisgibt. Dagegen ist Prokofjew eher ein Komponist, der, banal und pauschal gesprochen, überall gültig ist, der Gefühlen Ausdruck gibt, die überall nachvollziehbar sind.


    Aber wenigstens die hohen Streicher haben sie gemeinsam?
    Frage: kann man die beiden immer auseinander halten?

  • Meines Wissens nennt man die Musik aus der Stalinära und danach nicht "Neoklassizismus", sondern "Sozialistischen Realismus". Der Neoklassizismus Strawinskys wäre als formalistisch angesehen worden, denn der klassische Stil ist nicht populär sondern elitär.


    Lieber Felix,


    es gibt einen schönen Film mit Roshdestwenski, wo er sagt: Prokofieffs Geburtstagshymne für Stalin ist alles andere, nur keine Geburtstagshymne für Stalin (eine Auftragskomposition). Wenn ich mich recht erinnere, äußert sich Svjatoslav Richter im Film auch so. Oft liegt im scheinbar Angepaßten ein subtiler Protest, den die Menschen, die in diesem System leben, offenbar sehr gut heraushören können bzw. konnten (wie Du das ja auch im Falle von Schostakowitsch erläutert hast). Natürlich ist der Klassizismus (in der Architektur, stalinistischer "Zuckerbäckerstil", gibt es auch einen monumentalen Klassizismus, z.B. zu sehen in Sofia) auch eine Form der Anpassung. Aber da sollte man sich nicht täuschen. Gerade Prokofieff verstand es auf kreative Weise, seine Freiheiten höchst originell zu nutzen in den Grenzen, die gesetzt waren. Glaubst Du übrigens wirklich, der lyrische Mystizismus in den Visions fugitives oder der 1. Sonate für Violine und Klavier ist von jedermann nachzuvollziehen? Prokofieff hat sehr spekulative Musik geschrieben, die "normale" Klassikhörer als durchaus "schwer" empfinden!


    Schöne Grüße
    Holger

  • laubst Du übrigens wirklich, der lyrische Mystizismus in den Visions fugitives oder der 1. Sonate für Violine und Klavier ist von jedermann nachzuvollziehen? Prokofieff hat sehr spekulative Musik geschrieben, die "normale" Klassikhörer als durchaus "schwer" empfinden!

    Hallo Holger,


    vor allem glaube ich, dass die Visions fugitives ein Frühwerk sind, die noch zur Zarenzeit entstanden (so wie die zwei ersten Klavierkonzerte). Zur ersten Violinsonate habe ich mich schon geäußert (höre Dir doch mal die gleichzeitg entstandene zweite an!), möchte aber noch einmal das Augenmerk auf die Orchesterpartituren lenken: vergleiche die 2. und 3. Symphonie mit der 7., oder die Ballettmusiken "Le pas d'acier" mit "Cinderella" oder "Romeo und Julia". Da liegen Welten dazwischen. Fast alle expressionistischen und anspruchsvollen Werke Prokofjews entstanden vor seiner Rückkehr in die Sowjetunion in 1935.

  • Hallo Holger,


    vor allem glaube ich, dass die Visions fugitives ein Frühwerk sind, die noch zur Zarenzeit entstanden (so wie die zwei ersten Klavierkonzerte). Zur ersten Violinsonate habe ich mich schon geäußert (höre Dir doch mal die gleichzeitg entstandene zweite an!), möchte aber noch einmal das Augenmerk auf die Orchesterpartituren lenken: vergleiche die 2. und 3. Symphonie mit der 7., oder die Ballettmusiken "Le pas d'acier" mit "Cinderella" oder "Romeo und Julia". Da liegen Welten dazwischen. Fast alle expressionistischen und anspruchsvollen Werke Prokofjews entstanden vor seiner Rückkehr in die Sowjetunion in 1935.

    Lieber Felix,


    die Vision fugitives stammen zwar von 1917, aber wurden in den 50igern regelmäßig z.B. von Gilels, Richter oder Neuhaus aufgeführt. (Prokofieff starb ja am selben Tag wie Stalin 1953). Die 2. Violinsonate ist zwar heiter im Vergleich mit der düsteren 1., aber nicht weniger bedeutend finde ich - ein sehr subtiles Werk. Und eins der allerwichtigsten Werke Prokofieffs, die 8. Klaviersonate (für viele der Inbegriff von Prokofieffs Klaviermusik), stammt aus dem 2. Weltkrieg. Ich finde auch, obwohl ich ein großer Prokofieff-Liebhaber bin, manche Werke schwächer, aber die Gleichung anspruchsvoll=expressionistisch=vor 1935 komponiert ist mir zu einfach.


    Eine meiner absoluten Lieblingsplatten - das traumhafte Duo Mintz-Bronfman, bei Prokofieff deutlich besser als Kremer/Argerich und die DGG legt sie nicht wieder auf:



    Schöne Grüße
    Holger

  • Hallo!


    Einer der Hauptvorwürfe, der Stalin schon sehr früh gemacht worden ist, war der des Bürokratismus mit seiner schier Legion zählenden Schar von Bürokraten, der die ganze Gesellschaft in all ihren Bereichen durchdrungen hat.
    Und somit eben auch die Musikszene:
    Der heftige Streit zwischen den beiden großen Komponistenverbänden wurde per Ordre Mufti beigelegt, Konsens wurde verordnet und ein Ergebnis verlangt, das dann in Form des sozialistischen Realismus geliefert worden ist. Und es herrschte Ruhe, aber nur oberflächlich, denn die alte Auseinandersetzung wurden nun intern und auf anderen Ebenen weitergeführt, in dem sie privatisiert und personalisiert mit Hilfe der Bürokratie ausgetragen wurde. D.h. wenn vorher die Auseinandersetzung noch ideologisch-rational begründet worden ist, dann war doch jetzt die Motivation in erster Linie Rachsucht, Neid, Karrierismus und Radfahrertum und das vor dem Hintergrund der stalinistischen Disziplinar- und Säuberungsmaßnahmen.
    Zu Gunsten dieses Systems ist anzumerken, dass es hinsichtlich der wirtschaftlichen Lage der Musiker funktioniert hat. Jeder ist ihn Lohn und sold gestanden und hat sich um seine wirtschaftliche Existenz nicht sorgen müssen, wobei aber auch hier gilt: wer zahlt, schafft an. Und je exponierter ein Musiker dagestanden ist, desto schärfer war er im Focus der Obrigkeit bzw. der Bürokratie, welche eben nicht nur aus Stalin alleine bestand, sondern aus einer Vielzahl von Karrieristen und Radfahrern.
    Zu Ungunsten dieses Systems ist zu sagen, dass es mit dem Tod Stalins nicht endete, war doch nur sein oberster Chef weg, aber nicht die Stalinisten. Und daran ändert auch Chruschtschows Geheimrede von 20. Parteitag der KPdSU nichts, in der er zwar mit Stalin ins Gericht ging, aber nicht mit dessem System. Das einzige, was da passiert ist, war ein gewisser Rollentausch und eine Unsicherheit, das zu einem kulturellen Tauwetter führte. Als aber die Bürokraten bemerkten, dass sie ihnen keine Prozesse gemacht wurden, ihr Expertentum nach wie vor gefragt war und sie in Amt und Würden blieben, haben sie weiter gemacht. zwar milder, aber trotzdemmit dem Ergebnis, dass aus diesem Tauwetter eben nicht ein Frühling, geschweige denn ein Sommer geworden ist.


    Weil aber in den vorherigen Beiträgen auch Prokofiew kritisiert worden ist, möchte ich auf folgendes Werk von ihm aufmerksam machen:


    Kantate zum 20. Jahrestag der Oktoberrevolution



    Dieses Werk enthält beste Musik: rythmisch, dramatisch, expressiv - nicht mit Romeo und Julia oder Cinderella zu Vergleichen.
    Leider hat es seine Uraufführung erst nach dem Tode Prokofiews erlebt und zwar in verunstalteter Fassung: die Stalin-Texte haben raus gemusst, weswegen es zu schweren Eingriffen in dieses Werk kam. Diese stark verstümmelte Fassung liegt übrigens auch der einzigen Melodya-Aufnahme zu Grunde, wobei diese hier die erste vollständige ist.
    (Mich persönlich stören die Stalin-Texte nicht, da ich kein Wort Russisch verstehe, weswegen ich mich völlig uneingeschränkt ganz dem Genuss dieser Kantate hingeben kann. Ich habe es aber auch noch nicht für notwendig erachtet, sie im Booklet nachzulesen.)


    Viele Grüße
    John Doe

  • Und sie waren beide keine Komiker!


    Na ja, ich kann mich an einen Abend in den Sechzigerjahren erinnern. Wir saßen in einem kleinen Kreis und im Radio gab es Kammermusik. Da ging das Raten los.
    Prokofief oder Schostakowitsch war man sich bald sicher, aber welcher von beiden.
    Nach einer Viertelstunde war sich ein gewisser Maurice Karkoff ziemlich sicher und tippte auf Schostakowitsch. Der war es dann auch.
    Die hohen Streicher hätten ihn auf die Spur gebracht, erklärte er darauf.
    Nun war der Mann ein Profi und hatte Komposition studiert, unter anderem bei Karl-Birger Blomdahl. Das Stück hatte er aber, wenn man ihm glauben darf, noch nie vorher gehört.


    Selbst tue ich mir schwer, die beiden Russen auseinander zu halten. Für Dich scheint es einfacher zu sein. Ich würde daher gerne erfahren, nach welchen Kriterien Du urteilst.


    Grüße aus Schweden.

  • Banner Interviebanner 1 Gelbe Rose