Schubert und Goethe. Wie große Lyrik zu großer Liedkunst wurde

  • Dieser Thread versteht sich als Fortführung und Erweiterung des Threads „Wodurch ist Schuberts Ausnahmerang als Liedkomponist begründet?“. Fortführung insofern, als er wie dieser der Frage nach der spezifischen Eigenart der Liedsprache Schuberts nachgeht, - nun aber mit einem thematischen Schwerpunkt: Den Goethe-Liedern Schuberts, also seiner kompositorischen Auseinandersetzung mit dessen Lyrik. Allein die schiere Anzahl der hierbei rein potentiell anstehenden Lieder und der mit der analytischen Betrachtung derselben aufgeworfenen Fragen lässt es – selbst wenn man sich, was unvermeidlich sein dürfte, auf eine Auswahl beschränkt – sinnvoll erscheinen, einen eigenständigen Thread zu starten und nicht in dem schon vorliegenden fortzufahren. Dieser müsste zwangsläufig überborden und unübersichtlich werden. Es versteht sich freilich, dass all das, was unter dieser Fragestellung dort schon ausgeführt wurde, hier eine angemessene Berücksichtigung findet und – nicht immer explizit – in die einschlägige Reflexion einbezogen wird.


    Der Konzentration und Beschränkung auf Goethe als Textautor liegt folgende, durch die historische Faktenlage gut begründete These zugrunde: In der Begegnung mit der Lyrik Goethes fand Schubert als Liedkomponist zu sich selbst. Sie war der gleichsam zündende Funke zur Entwicklung der für ihn so typischen und ihn liedhistorisch auszeichnenden Liedsprache. Alles, was Schubert vor „Gretchen am Spinnrade“ an Liedern komponierte, erscheint aus der Retrospektive wie ein langer (Um-)Weg zu dieser Selbstfindung, - vor allem die Vertonungen von Schillers umfänglichen balladenhaften Gedankenkonstrukten, aber auch jene der Lyrik Matthissons. Wobei es eigentlich kurios ist, angesichts der drei Jahre hin zu einem Siebzehnjährigen das Adjektiv „lang“ in den Mund zu nehmen.


    Um die der Fragestellung dieses Threads zugrundliegende These zu fachlich abzusichern und auf solide Füße zu stellen, seien ein Schubert-Zeitgenosse und –Freund und zwei kompetente Schubert-Kenner aus heutiger Zeit bemüht.


    Eduard von Bauernfeld kommentiert Schuberts-Liedschaffen wie folgt:
    „Vorzüglich (waren) es Goethes Gedichte, welche die frische, jugendliche, noch ganz unbefangene Seele Schuberts wie Feuerfunken befielen, aber auch darin etwas antrafen, was Feuer fing“. (Besser kann man das eigentlich gar nicht sagen).


    Thrasybulos G. Georgiades stellt fest:
    „>Gretchen am Spinnrade< ist Schuberts erstes Goethe-Lied. Vor diesem begegnete uns der reine Schubert-Ton nur in >Andenken< (Matthisson), das aber weder an Gehalt noch an Ausstrahlungskraft mit der uns unwiderstehlich mitreißenden Vertonung des >Gretchen< verglichen werden kann. Erst an diesem Text hat sich Schuberts Schaffen entzündet. Goethe hat Schuberts Liedkraft geweckt, durch Goethe hat er erfahren, was >Lied< ist, Lied als eine Dichtungsgattung: ein durch Singen mitzuteilendes, >musikables< Gedicht.“ (Schubert, Musik und Lyrik. Göttingen 1967). Nebenbei: In dieser Äußerung verbirgt sich das Grundverständnis des Thr. Georgiades hinsichtlich der Eigenart von Schuberts Liedkomposition, auf die später noch einzugehen sein wird.


    Und D. Fischer-Dieskau merkt an:
    Kein zweiter wirkte so anregend auf die kreative Phantasie des Musikers wie Goethe. Alles, was Schubert zum Klingen bringen wollte, Klarheit der Gedanken, Ausdruckseindeutigkeit, tiefe Empfindungskraft, bildhafte Sprache, all das fand er in Goethe-Gedichten vor. Der Einheit von Kunst und Natur, wie sie seinem Wesen entsprach, begegnete er hier.“ (Franz Schubert und seine Lieder, 1999).


    In den Jahren 1814 bis 1816, nach jener wie eine Initialzündung wirkenden Begegnung mit „Gretchen am Spinnrade, entstanden vierzig weitere Lieder auf Gedichte von Goethe. Später kamen noch etwa dreißig hinzu, so dass man auf die Zahl von siebzig Goethe-Vertonungen kommt. Die Mehrfach-Vertonungen von zehn Gedichten sind dabei nicht mitgezählt, aber sie sind ein schöner Beleg für die kompositorische Intensität der Auseinandersetzung Schuberts mit Goethe, und deshalb wird bei Gelegenheit darauf einzugehen sein.


    Es kann wohl nicht sinnvoll und auch nicht machbar sein, alle Goethe-Lieder hier einer genaueren Betrachtung zu unterziehen. Es bietet sich an, eine Auswahl zu treffen, wobei das leitende Prinzip dabei die Ergiebigkeit und Repräsentativität unter dem Aspekt der Fragestellung des Threads sein wird. Die Chronologie muss dabei eigentlich ebenfalls als Leitprinzip eine Rolle spielen, weil es sich ja bei der Ausbildung von Schuberts Liedsprache in der Auseinandersetzung mit Goethe Lyrik um einen historischen Prozess handelt, - der freilich – wie für Schubert typisch – keineswegs linear verlief.


    Derjenige, der diese Sache hier in Angriff nimmt, wünscht sich natürlich nichts mehr, als dass er dabei nicht allein bleibt und kräftige Unterstützung, Hilfe, Anregung und kritische Korrektur erfährt, - in welcher Form und Gestalt auch immer. Vielleicht bleibt dieser Wunsch ja kein vergeblicher und leerer. Und der Name Schubert weckt diesbezüglich natürlich auch Hoffnung.

  • Vermutlich wurde Schubert durch Johann Mayrhofer auf Goethes Lyrik aufmerksam gemacht, denn dieser war ein Bewunderer des Dichters. Vielleicht könnte auch Josef von Spaun dabei eine Rolle gespielt haben. In Schuberts Tagebuch von 1816 findet sich der Eintrag „Göthe´s musikalisches Dichter-Genie“. Auffällig ist, was die Auswahl der Gedichte anbelangt, dass es sich dabei fast ausschließlich um frühe Lyrik Goethes handelt. Sie spiegelt also noch stark den Geist des „Sturm und Drang“ und der „Empfindsamkeit“.


    Bezüglich der Frage, was an Goethes Lyrik Schubert so stark angesprochen und musikalisch inspiriert hat, lassen sich – so gewichtig diese einem auch erscheinen mag – nur Vermutungen anstellen. Es gibt dazu keine schriftlichen Quellen. Thrasybulos Georgiades meint, dass die „glatte Fügung“ der lyrischen Sprache Goethes eine wesentliche Rolle bei dem Vorgang der kompositorischen Inspiration Schuberts gespielt habe. „Sie (die glatte Fügung) äußert sich im einheitlich strömenden Ablauf der Verse und Sätze, in einem durch den sprachlichen Sinnzusammenhang gestalteten Gewoge, das, jeweils durch die Reime aufgefangen, das Gedicht als Ganzes in Schwingen versetzt und die Abgestimmtheit, die >Stimmung< erzeugt.“ (Musik und Lyrik, S.29f). In diesem Sinne seien Goethes Gedichte für Schubert „musikabel“ gewesen.


    Die „glatte Fügung“ der lyrischen Sprache Goethes war sicher ein wesentlicher Faktor, was die Frage nach der faszinierenden und inspirierenden Kraft von Goethes lyrischen Sprache im Falle von Schubert anbelangt. Er sprach ja selbst von „Göthe´s muikalische(m) Dichter-Genie“. Aber es kann nicht der einzig relevante Faktor gewesen sein, denn „glatte Fügung“ weisen auch die Verse Matthissons auf (die Schillers weniger). Und die kompositorische Beschäftigung mit Matthissons Lyrik hat gerade nicht zu solchen musikalisch herausragenden Ergebnissen geführt, wie das bei Goethes Gedichten der Fall war.


    Ich denke, dass da noch ein anderer Faktor zu beachten ist. Goethes lyrische Sprache zeichnet sich durch die Verdichtung und Reduktion eines hohen emotionalen Erlebnispotentials auf gleichsam elementare Sprachlichkeit und Metaphorik aus, die beide eben deshalb einfach wirken und unmittelbar anzusprechen vermögen. Und mir scheint, dass sich Schubert gerade darin unmittelbar angesprochen fühlte. Auch seine Liedsprache weist diese spezifischen Merkmale auf.


    Er war als Liedkomponist von Anfang an ein Sympathisant des Volksliedtons, - in dem Sinne, dass er die auf Kantabilität ausgerichtete Melodik des Volksliedes in die Sphäre des Kunstliedes herüberretten wollte, wissend um ihre gleichsam urtümlich unverfälschte musikalische Wahrheit. Und eben diesen „Volksliedton“ fand er auch in Goethes Lyrik: „Meine Ruh ist hin, mein Herz ist schwer“, „Da droben auf jenem Berge, da steh ich tausendmal“, „Dem Schnee, dem Regen, dem Wind entgegen“, „Ich bin bei dir, du seist auch noch so ferne“, „Glücklich allein ist die Seele, die liebt“…


    Das sind Zitate aus den ersten Goethe-Liedern Schuberts. Muss man noch mehr anführen, - solche Verse vorangegangener Liedkompositionen im Kopf wie: „Sie war nicht in dem Tal geboren, / Man wußte nicht, woher sie kam“ (Schiller), oder „Den Rosengesträuchen des Gartens entwallt / Im Glanze der Frühe die holde Gestalt“ (Matthisson), um zu begreifen, was sich bei der Begegnung des Komponisten Schubert mit dem Lyriker Goethe ereignete? Da sprach einer offensichtlich eine lyrische Sprache, die in ihrer metaphorischen Direktheit und syntaktischen Gradlinigkeit das innerste Wesen des Musikers Schubert ansprach und das liedkompositorische Potential, das in ihm noch schlummerte, zu erwecken vermochte. Von diesem Augenblick an schrieb er Schubertlieder.

  • Ich sollte vielleicht noch angeben, auf welche Aufnahmen ich mich bei den folgenden Liedbesprechungen stütze. Mir ist zwar, wie ich schon mehrfach betont habe, bei meinen liedanalytischen Betrachtungen nicht so wichtig, wer das jeweilige Lied gerade singt, mit dem ich mich beschäftige, - wenn er das nur einigermaßen ordentlich tut (die nicht wenigen Repräsentanten der zuweilen fast kultischen Verehrung von Sängern und Sängerinnen in diesem Forum werden das mit Kopfschütteln quittieren). Aber man hört natürlich, wenn man in die Noten starrt, doch ganz gerne einen Sänger oder eine Sängerin, die das in einer beeindruckenden und den musikalischen Geist voll erfassenden Weise wiedergeben, was man liest.


    So stütze ich mich also in der Regel auf die Aufnahme der Schubertlieder mit D. Fischer-Dieskau und Gerald Moore, die 1969/70 bei der Deutschen Grammophon erschienen ist. Wenn es um „Frauenlieder“ geht, die Fischer-Dieskau ja ganz konsequent gemieden hat, greife ich zur Hyperion-Gesamteinspielung der Lieder Schuberts. Letztere ist für mich auch deshalb besonders wichtig und wertvoll, weil man dort auch bei Liedern, die Schubert mehrfach bearbeitet hat – und das sind mehr, als gemeinhin bekannt ist -, die verschiedenen Fassungen findet.

  • Sie war der gleichsam zündende Funke zur Entwicklung der für ihn so typischen und ihn liedhistorisch auszeichnenden Liedsprache. Alles, was Schubert vor „Gretchen am Spinnrade“ an Liedern komponierte, erscheint aus der Retrospektive wie ein langer (Um-)Weg zu dieser Selbstfindung, - vor allem die Vertonungen von Schillers umfänglichen balladenhaften Gedankenkonstrukten


    Lieber Helmut,


    kannst Du präzisieren, inwiefern die frühen Schillervertonungen ein Umweg zur Selbstfindung des Liedkomponisten Schuberts sind? Die Aufnahme der Schillerlieder, erschienen bei Naxos, war einer der ersten CDs überhaupt, die ich mir gekauft habe, und gerade "Der Taucher" hat mich monatelang fasziniert! Natürlich, die schiere Länge dieser Balladenvertonung ist erdrückend, aber doch ist es ein Meisterwerk. Für mich ist der ganze Schubert schon da. Vor allem die Vertonung von "Es wallet und brauset..." könnte auch vom späten Schubert sein. Wenn "Der Taucher" ein Umweg war, dann ein äußerst lohnender!

  • Lieber Felix,


    ich wollte in der Passage meiner Einleitung zu diesem Thread, auf die Du Bezug nimmst, nicht sagen, dass es sich bei den frühen Vertonungen von Schiller-Balladen und –Gedichten und Matthisson-Lyrik nicht um bedeutende Liedkompositionen Schuberts handelt. Die Schiller-Vertonungen faszinieren regelrecht durch den kompositorischen Erfindungsreichtum, dem man in ihnen begegnet.


    Im „Taucher" z.B. sind ariose und rezitativisch-dramatische Passagen so kunstvoll miteinander verwoben, dass diese riesige Ballade durchaus eine kompositorische Einheit bildet. Schubert arbeitet auf regelrecht raffinierte Weise mit harmonischen Modulationen und Tonmalereien (z.B. die wellenförmige Bewegung von Tonleitern in Takt 112). Man hat bei der musikalischen Schilderung des Meeres wegen der synkopischen Dissonanzen sogar Vergleiche mit der Don Giovanni-Ouvertüre angestellt.


    Kurz: Das sind bedeutende Lieder. Was in ihnen noch nicht in gleichsam reiner und voll ausgebildeter Form zu vernehmen ist, das nannte ich den typischen Schubert-Ton. Worin der besteht, das aufzuzeigen und näher zu bestimmen, soll ja gerade in den folgenden Liedbesprechungen geschehen. Ich muss also Dich – und alle, die sonst noch daran interessiert sein könnten – noch ein wenig vertrösten. Im nachfolgenden Beitrag werde ich noch einmal zusammenfassen, was im Thread über Schuberts „Ausnahmerang“ bereits zu diesem typischen Schubert-Ton herausgefunden worden ist.

  • Sie sind einander nie begegnet. Wie wäre das auch möglich gewesen: Der völlig unbekannte kleine Musikus aus Wien und der „Wirkliche geheime Rat von Goethe“, großer Dichter und Denker und Haupt des literarischen Lebens der deutschsprachigen Kulturwelt? Es war nicht möglich.


    Gleichwohl haben Freunde Schuberts bekanntlich eine Art von Kontakt herzustellen versucht, - ganz sicher im Sinne Schuberts, der Goethe mehr und mehr zu verehren begann, je mehr er sich in dessen Werke einlas. Wie gesagt: „Göthe“ war für ihn ein „musikalisches Dichter-Genie“. Im April 1816 verfasste deshalb Spaun ein Schreiben und schickte es an Goethe ab, ihn darüber informierend, dass Schubert ihn ersuche, seine demnächst erscheinende Sammlung von acht Liederheften „Euer-Exzellenz in Untertänigkeit weihen zu dürfen“. Dem Schreiben lagen folgende Vertonungen auf Gedichte Goethes bei:


    Der König in Thule (D 367)
    Meeres Stille (D 216)
    Schäfers Klagelied (D 121)
    Die Spinnerin (D 247)
    Heideröslein (D 257)
    Wonne der Wehmut (D260)
    Wandrers Nachtlied (D 224)
    Erster Verlust (D 226)
    Der Fischer (D 225)
    An Mignon (D 161)
    Geistes-Gruß (D 142)
    Nähe des Geliebten (D 162)
    Gretchen am Spinnrade (D 118)
    Rastlose Liebe (D 138) und
    Erlkönig (D 328).


    Auf all diese Lieder wird einzugehen sein, - schon allein deshalb, weil sie an den Verfasser der ihnen zugrundliegenden lyrischen Texte adressiert waren und deshalb von ihrem Komponisten als diesen und ihrem lyrischen Geist musikalisch vollkommen adäquat werdend verstanden worden sind. Bekanntlich hat Goethe nicht darauf reagiert und geantwortet, - und das, obwohl Schubert seinetwegen die – gewiss pianistisch haarsträubende – Begleitung des „Erlkönig“ vereinfacht hatte. Über die Gründe kann nur gerätselt werden, denn es gibt kein diesbezügliches Quellenmaterial.


    Drei Gründe bieten sich an:
    - Der mit Schriftlichkeiten und Widmungsanträgen überhäufte Goethe hat Spauns Schreiben überhaupt nicht zu Kenntnis genommen und die Sache seinen dienstbeflissenen Helfern überlassen;
    - der Onkel Spauns, Franz Seraphius von Spaun, war ein publizistischer Gegner Goethes, was dieser wohl gewusst haben mag und das Schreiben des Neffen möglicherweise deshalb nicht zur Kenntnis nehmen wollte;
    - die Kompositionen Schuberts entsprachen in ihrer musikalischen Faktur in gar keiner Weise dem, was Goethe unter einem „Lied“ verstand.


    Wie auch immer es gewesen sein mag, - der dritte Aspekt dürfte sicher eine maßgebliche Rolle gespielt haben. Goethe hatte ein durch und durch konservatives Verständnis von Liedkomposition. Für ihn war es die Aufgabe des Komponisten, den lyrischen Taxet auf der Basis eines schlicht begleitend-stützenden, also lautenhaft akkordischen Klaviersatzes „singbar“ zu machen. Musik war für ihn eine Art „Gehäuse“ des Gedichts – um einen Begriff von Thr. Georgiades zu benutzen - , ein Vehikel also, das dazu diente, dieses in seiner lyrisch-sprachlichen Schönheit um so mehr strahlen und glänzen zu lassen. Auf gar keinen Fall durfte der Komponist in Gestalt einer eigenständigen Interpretation des lyrischen Textes diesen für sich und seine musikalische Aussage vereinnahmen und damit „benutzen“.


    Carl Friedrich Zelter war aus diesem Grund ein Liedkomponist ganz in seinem Sinn. In einem Brief an diesen vom 2.5.1820 vertrat er die Auffassung, die Aufgabe eines Liedes bestehe darin, „den Hörer in die Stimmung zu versetzen, welche das Gedicht angibt“.
    Und im Jahre 1803 schrieb er an Wilhelm von Humboldt:
    "Er (gemeint ist Zelter) trifft den Charakter eines solchen, in gleichen Strophen wiederkehrenden Ganzen trefflich, so dass es in jedem einzelnen Teile wieder gefühlet wird, da wo andere, durch ein sogenanntes Durchkomponieren, den Eindruck des Ganzen durch vordringende Einzelheiten zerstören."
    Der lyrische Text muss als Ganzes in jedem einzelnen Teil der Komposition „gefühlet“ werden. Für Goethe beinhaltete diese Forderung eine Unterordnung der Musik unter die lyrische Aussage und die konkrete Gestalt ihrer sprachlichen Realisation. Diesem Anspruch konnte Schubert nicht gerecht werden, - weil für ihn Musik grundsätzlich nicht Vehikel von Lyrik ist, sondern die Substanz selbst.


    Womit der Aspekt „Eigenart des Schubertliedes“ angesprochen wäre. Mit Schubert wird das Lied zu dem, was der Schweizer Hans Georg Nägeli im Jahre 1811 in einem Aufsatz als künftige Entwicklung desselben prognostizierte:
    „… daraus wird neue Epoche der Liederkunst hervorgehen, deren ausgeprägter Charakter eine bisher noch unerkannte Polyrhythmie seyn wird, also dass Sprach-, Sang- und Spiel-Rhythmus zu Einem höhern Kunstganzen verschlungen werden. (…) Denn alle diese Kunstmittel dienen, wahrhaft angewandt, zu Erhöhung des Wortausdrucks.“
    Insofern ist es, liedhistorisch betrachtet, durchaus berechtigt, das Verständnis von Liedkomposition, das den Liedern Schuberts zugrundeliegt, als Grundlegung des romantischen Klavierliedes als „Kunstlied“ zu verstehen. „Gretchen am Spinnrade“ hat diesbezüglich durchaus einen gleichsam exemplarischen Stellenwert.


    Um die Anbindung an den Thread „Wodurch ist Schuberts Ausnahmerang als Liedkomponist begründet“ herzustellen und damit die Ausgangsbasis für dessen Weiterführung zu schaffen, sei noch einmal zusammengefasst, was dort bislang aus den einzelnen Liedbesprechungen hinsichtlich der spezifischen Eigenart des Schubertliedes hervorgegangen ist:


    Schubert vertont den lyrischen Text nicht im Sinne des Bereitstellens eines musikalischen Vehikels für diesen. Vielmehr verwandelt er die lyrische Sprache in eine musikalische. Um es mit Georgiades zu sagen: „Bei Schubert wird das Gedicht gleichsam getilgt und als musikalische Struktur neu geschaffen“. Grillparzer formulierte das so: „Er hieß die Dichtkunst tönen und reden die Musik“. Und D. Fischer-Dieskau meinte: „Im Grunde ist er selber ein Dichter. Er dichtet in Tönen.“


    Damit ist aber das „Rätsel“ des Schuberliedes noch lange nicht gelöst. Der eigentliche Kern des Faszinosums das von diesem ausgeht, ist nämlich die ihm eigene Melodik. Hierzu wurde in besagtem Thread bislang festgestellt:


    - Schuberts Melodien weisen zwar in der Regel wenig dissonante Intervalle auf und bevorzugen Dreiklangstrukturen. Stichwort: Orientierung an der Einfachheit der Volksliedmelodie. Das gilt jedoch nicht generell, denn er setzt immer wieder einmal Dissonanzen ganz bewusst als musikalisches Ausdrucksmittel ein.


    - Diatonik ist zwar der "Regelfall" bei der Melodiebildung, aber häufig verwendet Schubert die Chromatik, wenn es um den Ausdruck seelischer Regungen geht (z.B. in "Der greise Kopf" und in "Wegweiser" / Winterreise).


    - Die melodische Linie tendiert bei ihm dazu, auf dem Grundton zu enden. Das ist ein für ihn typisches Merkmal der Phrasierung, und darin unterscheidet er sich von Schumann und erst recht von Hugo Wolf.


    Damit soll´s aber nun an Vorbemerkungen genug sein. Sie schienen mir – und ich bitte um Verständnis dafür – erforderlich zu sein, um den Thread auf eine solide Grundlage zu stellen. Dann kann man sich nämlich anschließend in Ruhe der Betrachtung einzelner Lieder widmen, ohne immer wieder einmal in den Bereich des Grundsätzlichen im Sinne der generellen Fragestellung des Threads abschweifen zu müssen.

  • Drei Gründe bieten sich an:
    - Der mit Schriftlichkeiten und Widmungsanträgen überhäufte Goethe hat Spauns Schreiben überhaupt nicht zu Kenntnis genommen und die Sache seinen dienstbeflissenen Helfern überlassen;
    - der Onkel Spauns, Franz Seraphius von Spaun, war ein publizistischer Gegner Goethes, was dieser wohl gewusst haben mag und das Schreiben des Neffen möglicherweise deshalb nicht zur Kenntnis nehmen wollte;
    - die Kompositionen Schuberts entsprachen in ihrer musikalischen Faktur in gar keiner Weise dem, was Goethe unter einem „Lied“ verstand.


    Lieber Helmut,


    Ich meine mich erinnern zu können, gelesen zu haben, dass Schuberts Sendung von Goethe niemals geöffnet wurde. Das würde Deinen ersten Punkt als wahrscheinlichste Option erscheinen lassen. Ich denke, dass Goethe wohl sehr viel Post bekam und dass so manches ungeöffnet "unter den Tisch" gefallen sein könnte. Dass Schuberts Lieder ästhetisch nicht auf Goethes Linie lagen, ist allerdings absolut unbestreitbar richtig. Goethe lehnte ja auch Beethoven vehement ab - sehr zum Verdruss Felix Mendelssohns, der während seiner Besuche bei Goethe immer wieder versuchte, die beiden "Titanen" zueinander zu führen.

  • Ja, lieber Felix, so stelle ich mir das auch vor. Goethe wurde täglich mit Bittschriften, Widmungen und Schriftlichkeiten aller Art überhäuft. Es ist durchaus denkbar, dass er sich die Liedsendung an ihn gar nicht genauer angeschaut hat.


    Wir wissen es aber nicht, denn es gibt keine schriftlichen Quellen zu diesem Vorgang. Es gibt Hinweise, dass Goethe durchaus Kenntnis vom Liedschaffen Schuberts hatte, aber wie umfangreich die waren, ist unbekannt. Mindestens den "Erlkönig" muss er aber gekannt haben. Denn im April 1830 - also schon nach Schuberts Tod - trug die berühmte Sopranistin Wilhelmine Schröder-Devrient Goethe diese Ballade vor. Und Goethe merkte an, dass er "diese Komposition früher schon einmal gehört" hätte, sie habe ihm aber nicht zugesagt. Dann fügte er hinzu: "Aber so vorgetragen, gestaltet sich das Ganze zu einem sichtbaren Bild". Das Lob galt also eher der Sängerin als Schubert.


    Spaun beabsichtigte übrigens, ein zweites Liederheft an Goethe zu schicken, daraus wurde aber nichts. Im Juni 1825 übersandte Schubert selbst Goethe zwei prächtig ausgestattete Exemplare seines Opus 19 (An Schwager Kronos, An Mignon, Ganymed). Auch auf diese Sendung erhielt er keine Antwort.

  • "Gretchen am Spinnrade"

    Meine Ruh ist hin,
    Mein Herz ist schwer;
    Ich finde sie nimmer
    Und nimmermehr.


    Wo ich ihn nicht hab´,
    Ist mir das Grab,
    Die ganze Welt
    Ist mir vergällt,


    Mein armer Kopf
    Ist mir verrückt,
    Mein armer Sinn
    Ist mir zerstückt.


    Meine Ruh ist hin,
    Mein Herz ist schwer;
    Ich finde sie nimmer
    Und nimmermehr.


    Nach ihm nur schau´ ich
    Zum Fenster hinaus,
    Nach ihm nur geh ich
    Aus dem Haus.


    Sein hoher Gang,
    Sein´ edle Gestalt,
    Seines Mundes Lächeln,
    Seiner Augen Gewalt,


    Und seiner Rede
    Zauberfluß,
    Sein Händedruck,
    Und ach, sein Kuß!


    Meine Ruh ist hin,
    Mein Herz ist schwer;
    Ich finde sie nimmer
    Und nimmermehr.


    Mein Busen drängt
    Sich nach ihm hin.
    Ach dürft´ ich fassen
    Und halten ihn,


    Und küssen ihn,
    So wie ich wollt´,
    An seinen Küssen
    Vergehen sollt´!


    Dieser innere Monolog Gretchens aus dem ersten Teil von Goethes „Faust“ wurde von Goethe als eigener lyrischer Text nicht publiziert. Schuberts Lied musste also aus dessen lesender Begegnung und Beschäftigung mit „Der Tragödie erster Teil“ – oder vielleicht auch mit „Faust. Ein Fragment“ von 1790 – hervorgegangen sein. Daraus gingen ja auch „Der König in Thule“ (D 367) und „Gretchen im Zwinger“ (D 564) hervor. An „Faust“ scheint ihn also die Gestalt des „Gretchen“ menschlich und kompositorisch in Bann geschlagen zu haben, während Faust und Mephisto ihn kalt ließen. Wenn man bedenkt, dass es aus Goethes „Wilhelm Meister“ die beiden Figuren „Mignon“ und „Harfner“ sind, die auch eine – übrigens eine ungleich stärkere – Faszination auf ihn ausübten, so darf man wohl vermuten, dass es die personale Dimension und der darin ihm begegnende seelische Reichtum – vielleicht auch die leise Gebrochenheit – waren, die ihn anzogen. Fast möchte man da von einer inneren menschlichen Verwandtschaft sprechen.


    Die wie ein Refrain die lyrische Aussage ganz und gar beherrschende erste Strophe ist der Kern des lyrischen Monologs. Alle anderen Strophen wirken wie eine Konkretisierung, ja „Erläuterung“ und „Erklärung“ dessen, was das lyrische Ich in sprachlich unmittelbar berührender Direktheit bekennt: „Meine Ruh ist hin“.


    Man muss sich dabei des lyrisch-sprachlichen Gestus bewusst werden, der dieser refrainartigen ersten Strophe zugrunde liegt. Das ist die Sprache des einfachen Volkes. Die seelische Ruhe ist nicht abhanden gekommen oder verloren oder verlustig gegangen, - sie ist „hin“. Und auf dem Herzen liegt nicht eine schwere Last, - es ist ganz einfach „schwer“. Hier spricht ein Mädchen aus einer gesellschaftlichen Schicht, die auf den Broterwerb aus der Arbeit am Spinnrad angewiesen ist. Und Goethe hat diesem Wesen genau die Sprache in den Mund gelegt, die ihrer soziologischen Identität gemäß ist. Es ist die Sprache einer emotionalen und reflexiv undifferenzierten Direktheit.


    Dieses „Gretchen“ reflektiert seine Beziehung zu jenem „Faust“ lyrisch sprachlich nicht, sie konstatiert einfach nur, - sagt aus, was ist. Ihre Sprache bleibt selbst dann noch einfach konstatierend, wenn sie sich den Geliebten in seiner konkreten Gestalt vorstellt. Bezeichnenderweise fehlen hier die Verben. Erst wenn sie sich ganz und gar in ihren Wunschträumen verloren hat, wird ihre Sprache ein wenig komplexer und sie verwendet Konjunktive. Gleichwohl ist sie immer noch syntaktisch reduziert. Dies freilich ist Ausdruck tiefer innerer Erregung, die syntaktische Elaboration gar nicht zulässt.

  • "Gretchen am Spinnrade", D 118


    Dieses Lied ist das erste Schuberts auf ein Gedicht von Goethe. Man kann es also als das erste musikalische Dokument seiner Begegnung mit dessen Lyrik verstehen, und als solches soll es hier betrachtet werden. Man hat in diesem Lied verschiedentlich den „Beginn des romantischen Klavierliedes“ oder den „Durchbruch des romantischen Liedprinzips“ (E. Schnapper) sehen wollen. Eine derartige Einstufung und Einschätzung hat in der Musikwissenschaft keine allgemeine Zustimmung gefunden, wohl aber ist man sich einig darin, dass es sich hierbei um ein singuläres musikalisches Werk handelt, in dem Schuberts spezifische Liedsprache erstmals ihren vollen und uneingeschränkten kompositorischen Niederschlag gefunden hat. Dies gilt es aufzuzeigen.


    Zunächst die Formalia. Das Lied wurde am 19. Oktober 1814 komponiert und am 30. April 1821 von Sonnleitner als Privatdruck mit der Opuszahl 2 publiziert. Schubert wollte es also – was für ein Lied damals ungewöhnlich war – als eigenständiges Opus verstanden wissen, - wohl im Bewusstsein seiner kompositorischen Bedeutsamkeit. D. Fischer-Dieskau hat diese auf die schlichten Worte gebracht: „Derartiges hatte es in der Musik noch nicht gegeben.“


    Was ist nun das Neuartige und zugleich liedhistorisch Singuläre? Um es gleich vorweg auf einen Nenner zu bringen: Hier eignete sich die Verwandlung von lyrischer Sprache in musikalische Sprache, wobei die Eigenart darin besteht, dass die melodische Linie der Singstimme genau der Struktur des lyrischen Textes folgt und ihm, auf der Grundlage und im Dialog mit einem eigenständigen Klaviersatz, Akzente im Sinne der dichterischen Aussage verleiht. Es wurde also in Gestalt eines herausragenden Liedes das geschaffen, was Hans Georg Nägeli „Polyrhythmie“ nannte.


    Das Lied steht in d-Moll, weist einen Sechsachteltakt auf und ist mit der Vortragsanweisung „Nicht zu geschwind“ versehen. Im zweitaktigen Vorspiel, an dessen Ende die Singstimme einsetzt, entfaltet sich der Klaviersatz, der das Lied bis zu seinem Ende klanglich und rhythmisch maßgeblich prägt: Ein permanentes Auf und Ab von Sechzehnteln im Diskant, unter dem im Bass – mit Ausnahme der sechsten und siebten Strophe – vier durch zwei Pausen getrennte Achtel angeschlagen werden. Es wäre zu einfach, darin ausschließlich die musikalische Imagination des mechanischen Ratterns des Spinnrades und des ihn antreibenden Fußtritts zu sehen. Diese Funktion hat der Klaviersatz natürlich auch, aber er ist darüber hinaus das musikalische Spiegelbild der seelischen Regungen des lyrischen Ichs in den einzelnen Phasen seines inneren Monologs. Das ergibt sich daraus, dass das Auf und Ab der Achtel nicht mechanisch gleichförmig verläuft, sondern da und dort, in der Anlehnung an die Singstimme Modifikationen, Stockungen und Verlagerungen aufweist und auch die Achtel im Bass teilweise unregelmäßig gesetzt werden.


    Die Komposition ist als variiertes Strophenlied mit Rondocharakter angelegt. Man kann eine gewisse Dreigliedrigkeit erkennen, und dies sowohl an der Gestalt der melodischen Linie, als auch an der des Klaviersatzes und der Harmonik. Die fünfte und die sechste Strophe, in denen sich das lyrische Ich den Gedanken an den Geliebten hingibt, heben sich diesbezüglich deutlich von ihrem klanglichen Umfeld ab.


    Der Hörer wird von Anfang an von der hohen Motorik in Bann geschlagen und nimmt an der sich immer mehr steigernden Erregung des lyrischen Ichs Anteil. Das ist nicht nur auf den Klaviersatz zurückzuführen, sondern auch auf die Bewegung der melodischen Linie der Singstimme. Geprägt ist diese von einer Art wachsenden Atemlosigkeit, die durch die in sie eingelagerten Pausen, die Sprung- und Fallbewegungen und das Ausgreifen in immer höhere Tonlagen zustande kommt.


    Die unmittelbare Anbindung der Vokallinie an den lyrischen Text, eben diese Verwandlung desselben in musikalische Sprache, ist sehr schön an der ersten Strophe zu beobachten. Die zentralen lyrischen Worte werden durch melodische Dehnungen und Aufgipfelungen musikalisch hervorgehoben: „Ruh“, „hin“, „Herz“ und „nimmermehr“. Schubert greift hier in den lyrischen Text ein, indem er das „ich finde“ wiederholt. In der Harmonik erfolgt hierbei eine überraschende Rückung von d-Moll nach C-Dur. Er erreicht auf diese Weise eine Intensivierung der lyrischen Aussage im Sinne einer musikalischen Hervorhebung der seelischen Bedrängnis des lyrischen Ichs.


    In der zweiten Strophe ist die Vokallinie hingegen von einer Abwärtstendenz geprägt. Sie setzt zwar auf dem gleichen Ton wie am Liedanfang ein (einem „fis“), gipfelt aber danach nicht auf, sondern bleibt erst einmal auf dieser tonalen Ebene, um danach bei den beiden letzten Versen zweimal eine Fallbewegung zu vollziehen. Der lyrische Text mit seinen zentralen Worten „Grab“ und „vergällt“ ist dafür verantwortlich. Bezeichnenderweise erfolgt vor dem Wort „Grab“ eine harmonische Rückung nach a-Moll.


    Bei der dritten Strophe ist erstmals die Methode der melodischen Eskalation zu beobachten. Die Vokallinie setzt schon in höherer Lage ein, einem hohen „e“ nämlich. Und hier verharrt sie nun in insistierender Weise während der ersten beiden Verse, - mit nur einer Abweichung um eine Sekunde nach oben. Bei den beiden folgenden Versen geschieht das gleiche auf eben dieser um eine Sekunde angehobenen Tonlage, und erst am Ende erfolgt dann ein äußerst ausdrucksstarker, weil Erschöpfung beinhaltender Fall über eine ganze Oktave.


    Wenn sich die Gedanken dem Geliebten zuwenden und dessen Gestalt und Wesensart imaginiert werden, kommt ein wenig Ruhe in die melodische Linie der Singstimme. Sie verbleibt zunächst auf einer tonalen Ebene, und im Klavierbass treten an die Stelle der vier Achtel nun über den ganzen Takt gehaltene Akkorde. Aber auch hier wohnt der Musik untergründige Erregung inne. Man spürt sie nicht nur in den permanenten harmonischen Modulationen in der sechsten Strophe: Von F-Dur über g-Moll, As-Dur nach B-Dur. Auch die Vokallinie steigert sich mehr und mehr in ihrer Expressivität: Sie ist von Pausen zerstückt, steigt in immer höhere Lagen auf und gipfelt am Ende bei dem Wort „Kuß“ in einem Quintsprung nach einer Pause in beeindruckender Weise auf einem hohen „g“ auf. Zwei verminderte Septakkorde verleihen dem Nachdruck.


    Danach stockt das Lied. Nach einer Pause setzten die Sechzehntel-Bewegungen im Diskant mit dreimaligem Stocken langsam wieder ein und finden nach einer Art Anlauf im vierten Takt wieder zu ihrer alten Gestalt zurück. Das ist ein zweifellos genialer, weil eine lyrische Situation auf äußerst ausdrucksstarke Weise musikalisch imaginierender kompositorischer Wurf: Gretchen hat sich so sehr in die Vision einer im Kuss kulminierenden Begegnung mit dem Geliebten hineingesteigert, dass sie für einen Augenblick die reale Welt verließ und das Spinnrad zum Stillstand kommt.


    In den beiden letzten Strophen wird das Prinzip der melodischen Eskalation buchstäblich auf die Spitze getrieben. Die Vokallinie steigt zu immer höheren tonalen Ebenen auf und verharrt dort, indem sie insistierender Weise mehrfach die gleichen melodischen Bewegungen macht: „und küssen ihn, so wie ich wollt´…“. Schubert nimmt hier, eben aus Gründen der Steigerung der Expressivität eine ziemlich tiefgreifende Veränderung des lyrischen Textes vor, indem er ihn durch eine Montage aus vorangehenden Textteilen ergänzt und am Ende die beiden ersten Verse des Gedichts wiederholt. Hierbei kommt es zunächst bei den Worten „an seinen Küssen vergehen sollt´“ zur absoluten musikalischen Aufgipfelung der melodischen Linie in Gestalt eines Sextsprungs zu einem hohen „a“. Danach klingt das Lied aus, - mit dem in tiefer Lage deklamierten, Resignation ausdrückenden: „Meine Ruh ist hin…“.

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  • Meiner Beschäftigung mit „Gretchen Am Spinnrade“ lag die bei Philips erschienene Aufnahme mit Jessye Norman, begleitet von Philip Moll, zugrunde. Die ist sicher beeindruckend, aber sie ist wohl nicht die beste, - wenn es so etwas, unter objektiven Kriterien betrachtet, überhaupt gibt.


    Ich wusste, dass es eine bessere Interpretation gibt, - für mich die beste dieses Liedes überhaupt. Es ist die von Kathleen Ferrier, am Flügel begleitet von Phyllis Spurr. Ich konnte sie während meiner Arbeit an diesem Lied nicht benutzen, weil sie mir nur in einer alten Schallplatten-Aufnahme vorliegt, die vor langer Zeit bei Decca veröffentlicht wurde.


    Aber eben habe ich sie mir gerade noch einmal angehört. Ich kenne keine Interpretation dieses Liedes – und mir liegen mehrere vor – in der die tiefe seelische Erregung Gretchens stimmlich so tief berührend zum Ausdruck gebracht ist. Bei den Worten „Meine Ruh ist hin, mein Herz ist schwer“ ist ein leises Vibrato in der Stimme zu vernehmen, das einen tief betroffen macht. Vor allem aber finde ich so großartig, dass Kathleen Ferrier nicht der Versuchung erliegt, dort, wo das Lied klanglich kulminiert, bei dem Wort „Kuß“ nämlich, stimmlich allzu expressiv zu werden. Sie bleibt auch dort verhalten, in sich zurückgenommen. Und das ist dem, was Schubert musikalisch zum Ausdruck bringen wollte, vollkommen adäquat.

  • Wie oft schon habe ich dieses Lied gehört, - im Konzertsaal und in der Wiedergabe auf Schallplatte und CD? Ich weiß es nicht. Aber es dürfte eine erkleckliche Zahl zusammenkommen. Kein Wunder also, dass ich, als ich mich ihm im Rahmen diesen Threads etwas genauer, nämlich liedanalytisch zuwandte, dachte: Das wird ein leichtes Spiel; du brauchst ja nur aus dem Vollen deiner Kenntnisse zu schöpfen.


    Wie habe ich mich geirrt! Dieses Lied ist für den genaueren Blick auf ihn und das genauere Hinhören auf es unerschöpflich. Immer wieder stößt man auf Neues, - die Genialität Schuberts sozusagen unter Beweis Stellendes.


    Da ist zum Beispiel diese – von Goethes lyrischer Vorlage abweichende – Wiederholung der Worte „ich finde“ im dritten Vers der – noch zweimal wiederkehrenden und deshalb äußerst gewichtigen – ersten Strophe. Warum ist Schubert so verfahren? Aus Gründen der kompositorischen Symmetrie der Strophe wäre das nicht zwingend erforderlich gewesen. Er musste tiefer liegende Gründe dafür gehabt haben. Welche?


    Solche Fragen drängen sich einem auf, wenn man sich als Hörer intensiv auf dieses großartige Lied einlässt. Diese Strophe hat ja eine ganz besondere Funktion: In ihrer Wiederholung in Gestalt einer identischen Faktur und der Wiederkehr der beiden ersten Verse als Ausklang des Liedes konstituiert sich in ihr der Rondo-Charakter dieses Liedes. Er hat einen tiefen Sinn: In ihm wird – wie in einer Art Sich-Drehen im Kreis - die Hoffnungslosigkeit der Situation musikalisch evoziert, in der dieses „Gretchen“ sich befindet.


    Und die Wiederholung der Worte „ich finde“ drückt in diesem Zusammenhang die Hilflosigkeit Gretchens aus. Sie sucht die seelische Ruhe, die sie hatte, bevor sie diesem „Faust“ begegnet ist, wiederzufinden. Es will ihr nicht mehr gelingen. Schubert macht das auf musikalisch eindringliche Weise nacherlebbar in der Art und Weise, wie er die Wiederholung der Worte „ich finde“ musikalisch und harmonisch gestaltet. Zunächst einmal findet hier eine Rückung nach C-Dur statt. Die ist harmonisch recht kühn und gibt dem, was da jetzt gesagt und gesungen wird, besonderes Gewicht.


    Aber da ist noch mehr. Die melodische Linie macht an dieser Stelle einen Terzsprung von dem Ton aus, an dem sie zuvor bei dem Wort „schwer“ endete. Der mündet aber in eine neue Tonart, eben dieses C-Dur. Auf der zweiten Silbe des Wortes „finde“ liegt ein Quartfall. Nun aber, wenn dieses Wort wiederholt wird, wird daraus ein verminderter Sekundfall, auf der sogar mit einer Dehnung versehen ist. Das ist musikalischer Ausdruck großer Ratlosigkeit und tiefen Seelenschmerzes. Schubert musste sich hier über Goethe hinwegsetzen und wiederholen. Und obgleich er es im Sinne der dichterischen Aussage dieses lyrischen Textes tat, dürfte dieser damit nicht einverstanden gewesen sein.

  • Dieser von Helmut Hofmann eröffnete und fast nur von ihm angereicherte Thread gehört für mich zum Besten, was ich hier seit längerer Zeit gelesen habe. Dafür gebührt Dir, lieber Helmut, großer Dank. Ich freue mich auf die nächsten Folgen, die ich bestimmt mit dem gleichen Gewinn lesen werde wie die bisherigen.



    Ich habe vor etwa zwei Jahren in einem Rundfunkvortrag während einer Autofahrt folgende Version gehört: Goethe habe die Sendung mit den von Schubert vertonten Gedichten Zelter übergeben, der ihn in allen musikalischen Angelegenheiten beriet. Zelter hat sich die Lieder angesehen. Was er dabei wirklich empfand, ist nicht überliefert. Er soll sich aber Goethe gegenüber dahingehend geäußert haben, dass die Vertonungen belanglos seien und nicht wert, dass sich der Herr Geheimrat näher damit befasse. Dabei blieb es dann ja auch. Ob Zelter dabei Eigeninteressen verfolgte, weiß niemand. Vielleicht wollte er nicht, dass Goethe von einem Größeren als Zelter erfuhr.



    LG
    Portator

  • Zitat

    Helmut Hofmann: So stütze ich mich in der Regel auf die Aufnahmen der Schubertlieder mit D.Fischer-Dieksau und Gerald Moore.....Wenn es um die Frauenlieder, die Fischer-Dieskau konsequent gemeiden hat....

    Das habe ich auch gemerkt, als ich in meiner FiDi/Moore-Box (21 CD, insgesamt 44 Goethelieder) das "Gretchen am Spinnrade" gesucht habe, das wir in unserer Jugend mit Begeisterung gelernt habe. Nun hatte ich das Glück, dass mein Deutschlehrer gleichzeitig mein Musiklehrer war und am Anfang seiner Lehrer-Laufbahn auch als Liedbegleiter auftrat. Durch ihn habe ich Goethes Gedichte und auch viele von Schuberts Vertonungen im Musikunterricht kennengelernt, u. a. auch Gretchen am Spinnrade. Hinzu traten weitere Goethelieder wie z. B. der Erlkönig, den ich in meiner Zeit als Lehrer (42 Jahre) auch im Zusammenhang mit dem Deutschunterricht als Einleitung einer Unterrichtsreihe genommen habe, was erstaunlich gut geklappt hat.
    Wie dem auch sei, ich habe in meiner Sammlung noch das Gretchen mit Mitsuko Shirai, begleitet von ihrem Ehemann Hartmut Höll (den du im Müllerin-Thread zitiert hast), dann von Janet Baker, begleitet von Gerald Moore und letztlich von Arleen Auger, begleitet von Walter Olbertz.
    Ich bin gerne bereit, über meine Höreindrücke dieser drei Interpretationen zu berichten.
    In der Tat scheinen sich Männer mit Frauenliedern nach Goethes Gedichten schwer zu tun. So habe ich eine 8 CD-Box von Siegried Lorenz mit Schubert-Liedern, davon eine komplette CD mit Goethe-Liedern, aber keinem Gretchen.


    Liebe Grüße


    Willi :)

    1. "Das Notwendigste, das Härteste und die Hauptsache in der Musik ist das Tempo". (Wolfgang Amadeus Mozart).
    2. "Es gibt nur ein Tempo, und das ist das richtige". (Wilhelm Furtwängler).

  • Es freut mich, lieber Portator, dass ich Dir mit meinen Ausführungen zum Thema Schubert-Goethe von Nutzen sein kann. Ich werde mir Mühe geben, das Vorhaben so fortzuführen, dass man etwas über die spezifische Eigenart des Schubert-Liedes und die Art und Weise, wie es durch die Begegnung mit Goethes Lyrik inspiriert und geprägt wurde, erfahren kann. Und ich gestehe, dass mir jede Reaktion darauf, und bestehe sie auch aus nur drei, vier Worten, großen Auftrieb dabei gibt.


    Das, was Du da in einem Rundfunk-Vortrag gehört hast, die Liedsendung Spauns an Goethe betreffend, ist mir in dieser Version neu. Ich weiß nicht, woher der Autor diese Kenntnisse hatte. Aber ich werde, obgleich ich hier ja schon bei der Betrachtung des Liedes „Gretchen am Spinnrade“ bin, dieser Frage noch einmal nachgehen und noch heute über die Ergebnisse meiner Recherche berichten.

  • Sehr schön, dieser Thread, lieber Helmut!


    "Gretchen am Spinnrade" kann ich mir ohne das Schubert-Lied gar nicht mehr vorstellen! :) Wie er diese Unruhe ausdrückt - das hat auch Gustav Mahler nachhaltig beeindruckt, wie man das in dessen Lied "Vom irdischen Leben" nachvollziehen kann!


    Schöne Grüße
    Holger

  • Nach allem, was ich an Quellen zu diesem Vorgang kenne, lässt sich nicht belegen, dass Goethe Schuberts Lieder aus dieser Sendung Zelter zur Beurteilung vorgelegt haben sollte. Nirgends waren Belege dazu zu finden.


    Ich halte das auch für ganz unwahrscheinlich. Eben habe ich mir noch einmal den Briefwechsel Goethes mit Zelter - das Jahr 1816 betreffend – angeschaut. Spauns Sendung ging ja am 17. April 1816 an Goethe ab, - mit der unterwürfigsten Anrede, die man sich denken kann: „Der Unterzeichnete wagt es, Ew. Exzellenz durch gegenwärtige Zeilen einige Augenblicke Ihrer so kostbaren Zeit zu rauben…“ (vielleicht hat Goethe auch deshalb darauf nicht reagiert).


    Im Briewechsel zu diesem Jahr kommen zwar die Namen Mendelssohn und Beethoven vor (Zelter: „Beethoven hat eine Schlachtsinfonie gemacht, wovon man so taub werden kann, als er selbst“), der Name Schubert taucht da aber nicht auf. Goethe hätte ja die Lieder Schuberts per Post übersenden müssen, denn Zelters Briefe aus diesem Jahr datieren alle aus Berlin, bzw. Wiesbaden. Diese Mühe hat er sich ganz bestimmt nicht gemacht, war ihm der Name Schubert doch so nichtssagend (und belanglos?), dass er sogar auf die briefliche Erwähnung seiner geliebten Marianne von Willemer, Schubert habe eines ihrer Suleika-Gedichte vertont, nicht reagierte. (Gemeint war das Lied: „Was bedeutet die Bewegung?“ D 720). Das ist für mich ein ziemlich eindeutiges Indiz, Goethes „Verhältnis“ zu Schubert betreffend. Das gab es nicht!


    Der Schubert-Biograph Peter Gülke stellte trocken fest: „Am Frauenplan indes war mit Interesse nicht zu rechnen“. Und er zitiert in diesem Zusammenhang Goethe: „Musik im besten Sinne bedarf weniger der Neuheit, ja vielmehr, je älter sie ist, je gewohnter man an sie ist, desto mehr wirkt sie.“


    Ich bin, nach meiner längeren Beschäftigung mit diesem Thema, durchaus der Meinung, dass Goethes musikalische Bildung und sein diesbezügliches Urteilsvermögen mindestens höchst konservativ, wenn nicht gar beschränkt waren. In Sachen Lied vertraute er jedenfalls voll und ganz auf das Urteil Zelters, dessen Vertonungen seiner eigenen Lyrik er – wie oben bereits dargestellt - überaus schätzte. Weil ihm das liedkompositorische Grundkonzept zusagte, das die Musik in einem dienenden Verhältnis dem Gedicht gegenüber sah: Liedkomposition als Singbar-Machen von Lyrik.


    Wenn Goethe meinte, „Musik im besten Sinne“ bedürfe nicht „der Neuheit“, so konnten Schuberts Lieder eben keine „Musik im besten Sinne“ sein. Denn sie waren im wahrsten Sinne des Wortes „neu“. So neu, dass sogar seine Freunde zuweilen darüber erschrocken waren und nichts mit ihnen anzufangen vermochten. Von der zeitgenössischen Kritik gar nicht zu reden.


    Dietrich Fischer-Dieskau hat ja recht, wenn er lakonisch anmerkt: „Der sich ablehnend oder gleichgültig verhaltende Goethe konnte nicht ahnen, daß sein Name einst in vielen Teilen der Erde ausschließlich durch die Musik des armen Schullehrers aus Wien lebendig bleiben würde.“

  • Der Monolog Gretchens aus dem „Faust“ regte viele Komponisten zu einer Vertonung an. Ich kam bei meinen diesbezüglichen Recherchen, die sicher nicht umfassend sind, auf die Zahl 24, darunter solche bekanntere Namen wie Louis Spohr, Carl Friedrich Zelter, Carl Loewe, Conradin Kreutzer, Richard Wagner und – wahrlich! – Giuseppe Verdi („Perduta ho la pace“).


    Von der Zielsetzung dieses Threads her scheint es mir allein sinnvoll, hier kurz auf die Vertonungen von Zelter und Loewe einzugehen, weil diesen ein liedkompositorisches Konzept zugrunde liegt, das der Zeit Schuberts zugehörig ist, gleichwohl aber dem gleichsam konventionellen Typus des Klavierliedes zugeordnet werden muss und insofern geeignet ist, die liedkompositorische Innovation des Schubert-Liedes deutlich werden zu lassen.


    Leider verfüge ich über keine Aufnahme einer Interpretation des Liedes von C. F. Zelter, das den Titel „Margarethe“ trägt. Mir liegen nur die Noten vor, und damit kann ich also alle meine Ausführungen zu diesem Lied nur auf die Lektüre derselben und die mangelhafte eigene sängerische Realisierung stützen.


    So viel lässt sich aber zuverlässig über Zelters Lied sagen. Er weicht, und das ist bemerkenswert, gegen Ende deutlicher von der lyrischen Vorlage ab, als Schubert und Loewe dies tun. Nach der achten Strophe wiederholt er die zweite noch einmal. Nach der neunten erklingen die Verse „Und halten und küssen ihn“ erneut, und danach kehrt die ganze neunte Strophe noch einmal wieder. Auch die beiden letzten Verse erklingen zweimal.


    Zelter bildet den lyrischen Text in seinen Aussagen gleichsam musikalisch ab. So dominiert in der ersten Strophe bei der melodischen Linie der Singstimme die Fallbewegung. Zwar gipfelt sie bei dem Wort „nimmer“ auf, bewegt sich danach aber in Terzschritten und bei dem Wort „nimmermehr“ in Sekunden abwärts. Bei den Worten „ist mir das Grab“ gestaltet Zelter die melodische Linie in einer für ihn typischen Weise: Auf jedem Wort liegt ein aufwärtsgerichteter Doppelschritt, aber bei dem Wort „Grab“ stürzt die Vokallinie dann um eine ganze Sexte ab.


    Dieser musikalischen Illustration der lyrischen Aussage begegnet man immer wieder. So bewegt sich die melodische Linie bei den Versen „Die ganze Welt / Ist mir vergällt“ in fünf Schritten über eine ganze Oktave zu einem tiefen „f“ herab, und das gleiche ereignet sich bei den Worten „Ich finde sie nimmer und nimmermehr“. Bei der sechsten und der siebten Strophe kommt deutlich mehr Ruhe in die Bewegung der melodischen Linie. Aber auch hier beobachtet man dieses Prinzip der musikalischen Illustration und Akzentuierung der lyrischen Aussage. So gipfelt sie in auffälliger Weise bei den Worten „Seine edle Gestalt“ und „Seiner Augen Gewalt“ in hoher Lage bogenförmig auf.


    Im einzelnen soll diese analytische Betrachtung des Liedes nicht weiter fortgeführt werden. Nur auf eine für Zelters liedkompositorisches Prinzip der musikalischen Ausmalung der lyrischen Aussage typische Stelle sei noch verwiesen. Bei der Wiederholung der Verse „An seinen Küssen / Vergehen sollt´“ ereignet sich eine geradezu dramatische Steigerung der Expressivität. Aus tiefer Basslage rauschen Sechzehntel in den Diskant, und dann beschreibt die Vokallinie aus hoher Lage kommend, bei dem Wort „vergehen“ eine sich über zehn Takte erstreckende bogenförmige Ab- und wieder Aufwärtsbewegung, die schließlich auf einem über drei Takte gehaltenen hohen „c“ landet. Bei der Silbe „-hen“ ereignet sich dann ein Sextfall auf eine hohes „e“, das ebenfalls einen Takt lang gehalten wird.


    Ich denke, dass damit die liedkompositorische Intention hinreichend konkretisiert ist: Sie zielt auf eine wortorientierte musikalische Illustration des lyrischen Textes mit den Mitteln der Musik ab.

  • Das Lied entstand 1822, also noch zu Lebzeiten Schuberts. Es wurde 1828 im Rahmen des Opus 9 veröffentlicht. H-Moll ist die Grundtonart, ein Neunachteltakt liegt zugrunde. Die Vortragsanweisung lautet: „Tief bewegt, mit glühender Sehnsucht“.


    In seinem Grundton unterscheidet sich dieses Lied deutlich von dem Schuberts. Wo dort tiefe innere Erregung auf der Grundlage hoher rhythmischer Motorik herrscht, begegnet man hier einer ruhig sich entfaltenden, gleichwohl sich phasenweise zu schmerzvoller Expressivität steigernden melodischen Linie. Sie reißt nicht mit und schlägt nicht in Bann, wie die Musik Schuberts dies tut, vielmehr lädt sie zur Einfühlung ein.


    Es gibt auch hier einen durchgängigen Grundrhythmus, einen trochäischen nämlich. Im Klaviersatz folgt fast durchgehend auf ein akkordisches Viertel jeweils ein Achtel. Ausnahmen sind auch hier – wie bei Schubert – die sechste und die siebte Strophe. Man kann diese rhythmische Gleichförmigkeit auch als musikalischen Ausdruck der realen Situation verstehen, in der das lyrische Ich sich befindet, - mit Blick auf die Art seiner Betätigung. Auch Loewe greift in den Text ein, und zwar in Gestalt von Wiederholungen. So kehrt das „und ach sein Kuß“ noch einmal wieder. Ferner wird der letzte Vers wiederholt, und am Ende erklingt – anders als bei Schubert – die ganze erste Strophe noch einmal.


    Die Singstimme setzt mit ihrer melodischen Linie ohne Vorspiel ein. Betrachtet man ihre Struktur in der ersten Strophe, so fällt auf, dass wie bei Schubert zwischen dem ersten und dem zweiten Vers eine Pause liegt, und der dritte und vierte in einer melodischen Phrase zusammengefasst werden. Loewe setzt jedoch andere melodische Schwerpunkte: Sie liegen jeweils auf den Versenden, also auf den Worten „hin“, „schwer“ und „nimmer“. Bei diesem Wort („nimmer“) gipfelt die melodische Linie in emphatischer Weise auf und fällt danach von einem hohen „fis“ zu einem tiefen „d“ ab, also um mehr als eine Oktave.


    Dahinter steht, und darauf kommt es hier an, ein anderes Verständnis des Verhältnisses von Wort und Musik. Loewe greift – wie Schubert – mit der Musik, im besonderen der melodischen Linie der Singstimme, die Aussage des lyrischen Textes auf. Er hält sich dabei jedoch an die formale sprachliche Struktur, die der Dichter diesem verliehen hat. Das heißt: Er komponiert vom Vers her. Man kann das daran erkennen, dass er dort, wo im Vers die Hebungen sitzen, sich auch in der melodischen Linie die Schwerpunkte in Gestalt von Dehnungen finden.


    Loewe vertont also dichterischen Text in seiner formalen Struktur, während Schubert – und hier liegt der bedeutende Unterschied zwischen beiden – lyrische Sprache unmittelbar, d.h. von ihrer Aussage her und abgelöst von der formalen Struktur, in musikalische Sprache verwandelt.


    Loewes Musik reflektiert durchaus die Aussage des lyrischen Textes. Das kann man hörend immer wieder erfahren. Hierzu einige Beispiele:


    -- In der ersten Strophe wird das Wort „nimmer“ mittels eines Sextsprungs und der Steigerung der Dynamik von piano nach forte hervorgehoben.
    -- Dem Wort „Grab“ (2. Strophe) wird mit einem kleinen Sekundfall im Rahmen einer Dehnung eine klangliche Eintrübung verliehen.
    -- Die dritte Strophe besteht aus der Wiederholung einer melodischen Figur auf den beiden Verspaaren. Die Beschreibung der Befindlichkeit des lyrischen Ichs bekommt auf diese Weise hohe Eindringlichkeit.
    -- Mit der fünften Strophe, in der sich die Gedanken auf den Geliebten richten, ändert sich die Tonart. An die Stelle von h-Moll tritt H-Dur, und ein sehnsüchtig-lieblicher Ton kommt in das Lied (Anweisung: „Mit steigerndem Affect“). Auch hier wiederholt sich bei den beiden Verspaaren die Gestalt der melodischen Linie.
    -- Bei der Vergegenwärtigung der Gestalt des Geliebten kommt ein verzückter Ton in das Lied. Die melodische Linie der Singstimme beschreibt Bogenbewegungen in hoher Lage, z.T. mit Melismen versehen. Auf dem Ausruf „ach“ liegt eine mit einem Ritardando versehene Dehnung, und das alles wird sogar noch einmal wiederholt, - auf einer innere Erregung bekundenden melodischen Linie mit Sprungbewegungen und Melismen. Hier nimmt die Musik eine fast theatralisch anmutende Expressivität an. Nach dem zweiten „ach, sein Kuß“ folgt eine lange Pause in der Vokallinie, derweilen im Klavierdiskant – über einem gehalten Akkord im Bass – eine liebliche Achtelfigur erklingt.
    -- Die letzten beiden Verse („An seinen Küssen…“) werden wiederholt, - in beiden Fällen auf fallender melodischer Linie, wobei die zweite sogar noch in Moll harmonisiert ist. Es soll auf diese Weise deutlich werden, dass dies ein Wunschtraum ist, der sich möglicherweise nicht erfüllen wird.


    Am Ende des Liedes wird die ganze erste Strophe in musikalisch identischer Form wiederholt. Damit wird der Ist-Zustand der Befindlichkeit des lyrischen Ichs in Erinnerung gerufen, also gleichsam kontrafaktisch den in verzücktem Ton artikulierten Wunschträumen angefügt und damit ein Schlusspunkt gesetzt.

  • Schubert, Gretchen am Spinnrad


    Lieber Helmut,


    ich werde mich an diesem Thread nur sporadisch beteiligen für den Fall, dass ich meine auf etwas aufmerksam zu machen, was noch nicht erwähnt wurde.


    Deine bevorzugte Aufnahme mit Kathleen Ferrier habe ich bei YouTube nicht gefunden, kann also keine Vergleiche anstellen, die Du sowieso als zweitrangig ansiehst (ich auch – mir genügt meist eine Aufnahme, wenn ich sie für mich als sehr gut höre).


    Die Aufnahme mit Fleming und Eschenbach hat m. E. eine Besonderheit: Soweit ich das feststellen konnte, lässt Eschenbach die Figur der linken Hand weniger zum „munter dahinplätschernden Bächlein verkommen“ – so höre ich das bei sehr vielen anderen Aufnahmen bei YouTube, diese Interpretationen erinnern mich etwas an manche Stellen in „Die Schöne Müllerin“. Eschenbach betont die Notenwerte innerhalb der Phrase besser, stärker, anders; es kommt ein anderer Rhythmus zustande, weniger „munter dahinfließend“, sondern „unruhig, unrund und leicht holpernd“ und damit dem per Fuß angetriebenen Spinnrad näher und nicht dem Bächlein. Ich habe Deine Meinung gelesen, es komme nicht auf das Spinnrad an, aber eben noch weniger auf ein Bächlein und wenn es schon „…am Spinnrad“ heißt, so ist eine besser angedeutete musikalische Betonung eines Spinnrades passend.


    Viele Grüße
    zweiterbass

    Wer die Musik sich erkiest, hat ein himmlisch Gut bekommen (gewonnen)... Eduard Mörike/Hugo Distler

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  • Danke für Deinen Beitrag, lieber zweiterbass!


    Ich habe mir diese Interpretation von Renee Fleming und Chr. Eschenbach angehört. Du hast recht: Der Klavierpart ist pianistisch hervorragend gestaltet, weil Schuberts Klaviersatz in seiner Struktur herausgearbeitet wird und nicht in schierer Klanglichkeit verschwimmt. Flemings Interpretation ist für mein Ohr ansprechend. Die starke seelische Erschütterung dieses „Gretchen“, die Schubert mit seinem Lied zum Ausdruck bringt, wird sängerisch sehr gut umgesetzt. Allerdings würde ich – im Vergleich mit der von mir erwähnten Kathleen Ferrier – Fleming vorhalten, dass sie – für meine Begriffe manche Passagen des Liedes ein wenig zu expressiv-extrovertiert vorträgt. Bei dem Wort „Kuß“ gerät sie ins Fortissimo und hält die dortige Fermate schier endlos. Auch der Schluss ist mir einfach zu laut. Man darf nicht vergessen: Das ist ein von Schubert weitgehend im Piano, ja Pianissimo gehaltener innerer Monolog.


    Übrigens, was den Klaviersatz anbelangt, so meinte ich nicht, es „komme nicht auf das Spinnrad an“ (wie du es ausdrückst). Das tut es sehr wohl, denn dass das Klavier die Bewegung des Spinnrades mit musikalischen Mitteln suggeriert, das ist ja unüberhörbar.
    In meiner Besprechung des Liedes drückte ich mein Verständnis der Funktion des Klaviersatzes so aus:
    Es wäre zu einfach, darin ausschließlich die musikalische Imagination des mechanischen Ratterns des Spinnrades und des ihn antreibenden Fußtritts zu sehen. Diese Funktion hat der Klaviersatz natürlich auch, aber er ist darüber hinaus das musikalische Spiegelbild der seelischen Regungen des lyrischen Ichs in den einzelnen Phasen seines inneren Monologs. Das ergibt sich daraus, dass das Auf und Ab der Achtel nicht mechanisch gleichförmig verläuft, sondern da und dort, in der Anlehnung an die Singstimme Modifikationen, Stockungen und Verlagerungen aufweist und auch die Achtel im Bass teilweise unregelmäßig gesetzt werden.


    Aber Du wolltest ja, wenn ich Dich recht verstanden habe, darauf hinweisen, dass der Klaviersatz in diesem Lied eine solch große Bedeutung hat, dass seine Gesamtwirkung entscheidend von der Leistung des Pianisten abhängt. Darin stimmen wir vollkommen überein!

  • In seinem Grundton unterscheidet sich dieses Lied deutlich von dem Schuberts. Wo dort tiefe innere Erregung auf der Grundlage hoher rhythmischer Motorik herrscht, begegnet man hier einer ruhig sich entfaltenden, gleichwohl sich phasenweise zu schmerzvoller Expressivität steigernden melodischen Linie.


    Lieber Helmut,


    ich finde das Loewe-Lied auch sehr schön (gehört habe ich B. Fassbaender und C. Garben). Bei Schubert ist die Emanzipation von musikalischer Rhetorik einfach noch viel weiter getrieben - das Klavier formuliert eine durchgehende unruhige Bewegung als alles durchziehende Grundstimmung (als unausgesprochen Gemeintes der Dichtung), während Loewe doch viel mehr an dem traditionellen Prinzip der Wort- und Sinnverdeutlichung haftet. Aber das ist ihm sehr gut gelungen, finde ich! Man hört sich seine Vertonung gerne (nochmals) an. :hello:


    Schöne Grüße
    Holger

  • Zit.: "Ich finde das Loewe-Lied auch sehr schön (...)Man hört sich seine Vertonung gerne (nochmals) an."


    Aber ja, Holger, dem stimme ich voll zu. Auch ich höre dieses Lied gerne, - wie überhaupt die Balladen und Lieder Loewes durch die Bank höchst eingängig sind und oft große Freude beim Hören bereiten.

  • Auch ich höre dieses Lied gerne, - wie überhaupt die Balladen und Lieder Loewes durch die Bank höchst eingängig sind und oft große Freude beim Hören bereiten.

    Mit Loewe muß ich mich noch viel intensiver beschäftigen, lieber Helmut. Das ist noch so ein "offenes Projekt" bei mir. (Zum Glück gibt es solche Baustellen noch, so daß man nicht nur reproduzieren muß, was man schon tausendmal gehört hat!) :) Ich finde es überhaupt sehr gut, Schubert im Vergleich mit anderen Vertonungen zu betrachten, wie Du es machst. Das hat auf Dauer die nachhaltigste Wirkung! :hello:


    Schöne Grüße
    Holger

  • Zit. Dr. Holger Kaletha: „Schubert im Vergleich mit anderen Vertonungen zu betrachten,…“

    Ach ja!
    In großer Versuchung bin ich, mich hier ein wenig auf noch andere Vertonungen dieser Verse Goethes einzulassen. Zum Beispiel auf die von Richard Wagner. Sie ist – wie man eigentlich gar nicht anders erwarten würde – ganz und gar auf die Verse abgestellt, in denen es um die Imagination des Geliebten, die Begegnung mit ihm und insbesondere den „Kuß“ geht. Und natürlich entwickelt die Musik bei den beiden Schlussstrophen ganz besondere Expressivität, - beim Sich-Hindrängen des Busens, beim Fassen und Küssen. Wagner kann sich hier in der Entfaltung von regelrecht dramatischer Musikalität gar nicht genug tun


    Dabei ist der Einstieg in das (Klavier-) Lied bemerkenswert verhalten. Mit einem Tremolo im Klavier und einer Vorausnahme der nachfolgenden melodischen Linie im Vorspiel setzt es ein. Diese ist in Moll harmonisiert und besteht bei den beiden ersten Versen aus bogenförmigen Fallbewegungen, die in ihrer Klanglichkeit sehr wohl die Aussage des lyrischen Textes reflektieren: „Meine Ruh ist hin…“. Der melodischen Linie wohnt dabei allerdings keine innere Unruhe, sondern ein durchaus stark ausgeprägter Klageton inne.


    Der steigert sich dann von Vers zu Vers und nimmt dramatische Züge an, so dass man mehr und mehr den Eindruck gewinnt, dass er zur Anklage wird. Überaus dramatisch-expressiv die Deklamation der Verse der dritten Strophe: „Mein armer Kopf ist mir verrückt“. Sie Singstimme deklamiert stockend, jede Silbe pointiert betonend, und das Klavier folgt dem ebenso stockend mit Einzeltönen. Das ist bühnenreifer Liedgesang.


    Aber ich möchte die Beschreibung des klanglichen Eindrucks dieser Vertonung nicht fortsetzen. Es führt ab von dem, worum es in diesem Thread geht. Ein eigener Thread zum Thema „Gretchen am Spinnrade, - in Musik gesetzt“ wäre verlockend.
    Wie überhaupt:
    Liedvergleiche sind reizvoll, ja regelrecht spannend, weil sie einen Einblick in die Vielfalt und die Unterschiedlichkeit der kompositorischen Rezeption von Lyrik und den musikalischen Reichtum vermitteln, den die Polyfunktionalität von lyrischer Sprache zu bewirken vermag.


    Ich frage mich allerdings nun doch – nach meinen jüngsten „Erlebnissen“ im Thread „Schuberts Schöne Müllerin“ - , ob ich mit dieser Art des Sich-Einlassens auf das Kunstlied hier am rechten Ort bin.

  • Goethe hat, wie oben schon angemerkt und mit einschlägigen Äußerungen belegt, Zelters Vertonung seiner Lyrik überaus geschätzt. Dabei hat dieser, nicht nur im Falle von „Margarethe“ („Gretchen am Spinnrade“), sondern auch in vielen anderen Fällen massiv in die textlich-dichterische Vorlage eingegriffen. Allerdings nur in Gestalt von – z.T. recht massiven – Wiederholungen. Schuberts Eingriffe in die Gestalt des lyrischen Textes sind – wie hier zum Beispiel – weitaus weniger massiv als diejenigen Zelters. Und doch hat Goethe dessen Lieder auf seine Gedichte abgelehnt, die Zelters aber nicht.


    Woran man erkennen kann: Es sind nicht diese äußerlichen Eingriffe in die Textstruktur, die ihn störten - oder gar verärgerten. Es ist die kompositorische Grundhaltung dem lyrischen Text gegenüber. Wo Zelter eine singbare Melodie auf den lyrischen Text schafft, bei der die Musik die Funktion einer klanglichen Illustration der Aussagen desselben hat, versetzt sich Schubert kompositorisch in die Situation des lyrischen Ichs und bringt von daher die Aussagen des lyrischen Textes in dessen semantischer Tiefenschicht musikalisch zum Ausdruck.


    Damit wird auf der Grundlage des lyrischen Textes ein neues – eben musikalisches – Kunstwerk geschaffen. Für Goethe musste das auf eine Instrumentalisierung seiner dichterischen Aussage hinauslaufen. Wenn nicht gar auf einen Missbrauch. Auf jeden Fall aber auf etwas, das aus seiner Sicht verwerflich war. Auf derlei Eigenmächtigkeit im Umgang mit der Dichtung eines großen Genius reagiert man am Frauenplan nicht.


    Vergleicht man die Vertonungen von „Gretchen am Spinnrade“ von Schubert und Loewe, so lässt sich folgendes feststellen:


    -- Loewe komponiert aus der Perspektive der situativen Befindlichkeit des lyrischen Ichs, die gleichsam statisch aufgefasst wird, wobei mit den Strophen fünf bis sieben eine vorübergehende Entgrenzung in die Situation kommt.


    -- Auch Schubert versetzt sich in die Seelenlage des lyrischen Ichs, versteht die lyrischen Aussagen aber gleichsam prozessual: Sie sind für ihn Ausdruck eines von innerer Unruhe vorangetriebenen kognitiven und emotionalen Prozesses, der sich als monologische Auseinandersetzung mit der Situation des Verliebt-Seins in einen bewunderten, aber als nicht erreichbar gesehenen Menschen verstanden wird. Schubert kommt auf diese Weise der dichterischen Aussage näher als Loewe, weil er in die semantische Tiefenschicht des lyrischen Textes vordringt.


    -- Dass Schubert – im Unterschied zu Loewe – den lyrischen Text prozessual versteht und komponiert, lässt sich sehr schön am Schluss seines Liedes erkennen. Er wiederholt nur die beiden ersten Verse und lässt das Ganze in einer Art offenem Schluss ausklingen. Gretchen weiß nicht, wie die Zukunft ihrer Liebe aussehen wird.


    -- Loewe vertont den dichterischen Text in der vorgefundenen formalen Gestalt, wobei er dessen Semantik mit musikalischen Mitteln reflektiert. Schubert hingegen verwandelt lyrischen Text unmittelbar in Musik, wobei er dessen formale Struktur transzendiert, um die semantische Tiefenschicht musikalisch fassen zu können.


    Hinweis (für alle folgenden Liedvergleiche geltend):
    Derlei aus dem Vergleich der Lieder gewonnenen Aussagen über ihre Struktur und die daraus herleitbare kompositorische Intention enthalten keine Wertung der Lieder im Sinne des Eindrucks, den sie bei der Rezeption zu machen vermögen. Die Komposition Loewes ist – wie das ja häufig bei ihm der Fall ist – beeindruckend und ganz sicher hörenswert.

  • Damit wird auf der Grundlage des lyrischen Textes ein neues – eben musikalisches – Kunstwerk geschaffen. Für Goethe musste das auf eine Instrumentalisierung seiner dichterischen Aussage hinauslaufen.

    Lieber Helmut,


    das finde ich hast Du sehr schön und lehrreich zusammengefaßt. Leider ist für mich die Zelter-Vertonung im Moment nicht greifbar. Verflixt...


    Wie die schlauen Musikwissenschaftler schreiben hat Goethe zwar der Musik durchaus eine Eigenständigkeit zugebilligt, ist aber insofern konservativ geblieben, als er strikt an dem von der musikalischen Rhetorik geprägten Ideal festhielt, daß die Vertonung die formale Struktur des Gedichtes genau widerspiegeln müsse. Deshalb hat er nur Strophenlieder akzeptiert und das durchkomponierte Lied kategorisch abgelehnt. Von daher versteht man glaube ich seine Schwierigkeiten mit Schubert.


    Schöne Grüße
    Holger

  • Wenn man sich im Rahmen dieser Beschäftigung mit den Goethe-Liedern Schuberts ein gleichsam ein wenig umhört, - dort, wo ebenfalls Vertonungen von Goethe-Gedichten durch Vorläufer und Zeitgenossen vorliegen, dann wird einem, ohne dass man sich allzu sehr in ihre Faktur vertiefen muss, sehr rasch bewusst, wie ungeheuer neu, ja regelrecht musikalisch revolutionär die Lieder Schuberts damals auf die Hörerschaft gewirkt haben mussten. Es ist von daher gar nicht verwunderlich, dass ein Johann Wolfgang von Goethe – gänzlich unabhängig von seinem konservativen Musikverständnis (siehe oben!) – damit nichts anfangen konnte und ihm zum Beispiel der „Erlkönig“, als er ihn zum ersten Mal hörte, „nicht zusagen wollte“.


    Goethe stand mit diesem Unverständnis, Schuberts Liedern gegenüber, damals keineswegs allein. Die erste umfangreichere Kritik der Lieder Schuberts erschien im Juni 1824 in der Leipziger „Allgemeinen musikalischen Zeitung“. Und darin wurde eine ganze Menge an ihnen bemängelt, vor allem, dass sie in der Art der Textvertonung nicht dem Muster „eigentlicher Lieder“ entsprächen. Die „Muster eigentliche Lieder“ waren im wesentlichen von Reichardt und Zelter und all jenen, die sich liedkompositorisch an ihnen orientierten, vorgegeben.


    Schubert sprengte und transzendierte sie in einer Weise, die den kritischen Betrachter überforderte, denn er merkt an, dass die Lieder sich „als meist deklamatorisch, zuweilen wenig sangbar, nicht selten unnöthigerweise schwierig“ erweisen würden, und die „Modulation frey, sehr frey und oft noch etwas mehr“ sei.


    Das ist bemerkenswert. Schuberts Lieder waren gar keine richtigen, - für die in ihrem Urteil am Modell des Zelter-Lieds geprägten Zeitgenossen. Nicht nur, dass sie „nicht sangbar“ waren, sie waren vor allem zu komplex, zu „schwierig“, und sie hielten sich nicht an die Regeln der harmonischen Modulation. Das war damals die zwischen Tonika, Dominante und Subdominante.


    Der Hauptvorwurf gegen Schubert war aber: „Sehr frey und oft noch etwas mehr“! In „Gretchen am Spinnrade“ gibt es jede Menge an „Regelverstößen“. Zum Beispiel, dass Gretchen keine ordentliche Eingangsstrophe singt und das Lied so klingt, als müsse sie den gesanglichen Ton allererst finden. Dietrich Fischer-Dieskau hat also sehr wohl recht, wenn er anmerkt:
    „Derartiges hatte es in der Musik noch nicht gegeben.“

  • Wagner kann sich hier in der Entfaltung von regelrecht dramatischer Musikalität gar nicht genug tun

    ... trotzdem wirkt der Revolutionär Wagner hier viel konventioneller für meinen Geschmack. Wie Schubert die Ausweglosigkeit von Gretchen einfängt, unnachahmlich! :hello:

  • O gib, vom weichen Pfühle,
    Träumend, ein halb Gehör!
    Bei meinem Saitenspiele
    Schlafe! was willst du mehr?


    Bei meinem Saitenspiele
    Segnet der Sterne Heer
    Die ewigen Gefühle;
    Schlafe! was willst du mehr?


    Die ewigen Gefühle
    Heben mich, hoch und hehr,
    Aus irdischem Gewühle;
    Schlafe! was willst du mehr?


    Vom irdischen Gewühle
    Trennst du mich nur zu sehr,
    Bannst mich in diese Kühle;
    Schlafe! was willst du mehr?


    Bannst mich in diese Kühle,
    Gibst nur im Traum Gehör.
    Ach, auf dem weichen Pfühle
    Schlafe! was willst du mehr?


    Das Gedicht, 1804 publiziert, entstand wahrscheinlich 1802 nach einer Art Vorlage: Einem von Reichardt vertonten italienischen Volkslied, in dem sich der Vers findet: „Dormi, che vuoi di più“. Es ist ein durchaus rätselhaftes und aus dem lyrischen Gesamtwerk Goethes herausragendes Gedicht. Es ist in einer Weise kunstvoll gebaut, wie Goethe dies ansonsten eigentlich vermieden hat. Eine eigentümliche Klangmagie geht von ihm aus. Und fragt man sich, was es eigentlich sagen will, so stellt man fest, dass sich die dichterische Aussage dem rationalen Zugriff weitgehend entzieht.


    Woher kommt diese Klangmagie, die das Gedicht wie zu Musik gewordene Sprache werden lässt, - was Schubert natürlich regelrecht anziehen musste. Es hat die Anlage eines Rondos, und es ist von nur zwei Reimklängen beherrscht. Dadurch, dass der letzte Vers als Refrain permanent wiederkehrt und der dritte Vers der Strophe jeweils den Anfangsvers der nächsten bildet, stellt sich ein Wiederholungs-Effekt ein, der eine starke suggestive Wirkung entfaltet. Hinzu kommt, dass es nur zwei lautliche Reime gibt, die ebenfalls permanent wiederkehren: Jene Reime auf den Vokal „ü“, bzw, „i“, und die auf die Vokale „e“ bzw. „ö“. Es ist unübersehbar: Goethe will damit die Atmosphäre des Hinüberdämmerns und Einschlafens suggerieren, - ganz dem Titel des Gedichts gemäß.


    Was lässt sich interpretierend fassen? Das lyrische Ich spricht ein auf seinem „weichen Pfühl“ ruhendes Du an, das es mit seinem Saitenspiel in den Schlaf hinüberführen möchte. Die Aufforderung zum Schlafen wird in suggestiver Weise immer wieder mit der Frage „Was willst du mehr“ versehen, was wohl beinhaltet, dass es nichts Höheres und jenes Du mehr Beglückendes als eben jenes Versinken in die Tiefen das Schlafs gibt. Warum ?


    Dieses Du bannt das lyrische Ich in „Kühle“, trennt es vom „irdischen Gewühle“ und ist nur den Einflüsterungen des Traums zugänglich. Und wie es scheint, kann die diese Kluft zwischen „Ich“ und „Du“ nur durch die gleichsam magische Beschwörung der Kräfte von Schlaf und Traum überwunden werden.

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