Die Rückkehr der tonalen Musik - ein neuer Megatrend?

  • BERNSTEIN: ...Aber wissen Sie, welche moderne Musik in letzter Zeit den tiefsten Eindruck auf mich machte? Die Beatles-Schallplatte "Revolver".
    SPIEGEL: Nun ja, das ist ja nicht die schlechteste Musik.
    BERNSTEIN: Natürlich. Da ist doch noch ungebrochene Vitalität. Das ist doch amüsanter als alles, was die Komponisten der sogenannten Avantgarde heute schreiben. Diese ganze elektronische, serielle, aleatorische Musik, all diese notenlosen "Instruktionen" und Manipulationen von Geräuschen -- wie muffig und akademisch wirkt das-schon. Selbst im Jazz scheint es nicht weiterzugehen. Und die tonale Musik liegt in tiefem Schlummer.
    SPIEGEL: Sie sagen Schlummer. Glauben Sie an eine Rückkehr der Tonalität?
    BERNSTEIN: Ja, sonst müßte ich mich umbringen. Es geht überhaupt nicht ohne Tonalität. Die modernen Musiker haben geglaubt, in der Musik abstrahieren zu dürfen, so wie die Maler den Gegenstand abstrahieren. Aber das ist falsch. Das ist unmöglich. Denn die Musik ist von vornherein abstrakt.


    Sagte Leonard Bernstein 1967 in einem Spiegel-Interview. Nun, Bernstein ist lange tot, aber ich glaube, dass er recht behalten hat und sich heute nicht umbringen müsste.


    Warum ich das glaube? Nun, ich habe mich - wie man hier bei Tamino auch nachverfolgen kann - in den letzten Monaten intensiv und umfassend mit Musik befasst, die ich noch nicht kannte, vielleicht habe ich in den letzten Monaten mehr neue Musik gehört als in all den Jahren zuvor. Und dabei glaube ich, einen neuen Trend erkannt zu haben, die von Bernstein beschworene Rückkehr tonaler Musik.


    Natürlich ist die tonale Musik nie ganzverschwunden gewesen, speziell im angelsächsischen Bereich (z.B. Simpson, Rouse) und in Skandinavien (Rautavaara, Sallinen, Pettersson) hat man den Experimenten der Avantgarde immer etwas misstraut. Und es gab aufsehenerregende Kehrtwendungen berühmter Vertreter der Avantgarde hin zu tonaler Musik, das Beispiel Penderecki ist hier im Forum schon ausgiebig diskutiert worden. Daneben sind aus Osteuropa Komponisten dazu gekommen, die partiell (Gorecki, Pärt, Schnittke) oder komplett (Vasks) tonal komponiert haben bzw komponieren. Aber inzwischen habe ich den Eindruck, dass eine neue Generation von Komponisten auf uns zukommt, die eine Diskussion ob tonal noch erlaubt sei oder nicht und ob neue Musik "innovativ" sein müsse, gar nicht tangiert. Sie schreiben die Musik, die sie in sich hören, und die ist tonal. Sie benutzen durchaus Elemente der Avantgarde (z.B. Aleatorik, komplexe Rhythmen) aber nicht als stilbildendes Element, sondern als Klangfarbe innerhalb eines tonalen Gerüsts. Und ihre Musik ist unmittelbar verständlich und braucht keine langen Erläuterungen und "Hörarbeit".


    Vertreter der Avantgarde (und Deutschlands Musikhochschulen werden immer noch von diesen dominiert, aber das ist auch nur eine Frage der Zeit) werden vermutlich über diese Entwicklung die Nase rümpfen. Vermutlich auch einige Tamianer, aber ich stelle die These auf, dass die Rückkehr der tonalen Musik ein neuer Megatrend ist. Ich habe auch festgestellt, dass in Zeitschriften wie z.B. Fonoforum über die Jahre hinweg zunehmend positiv über zeitgenössische tonale Musik berichtet wird, hier hat der Generationswechsel wohl schon stattgefunden.


    Theoretische Diskussionen sind das eine, Anschauung ist das andere. An ersterem bin ich hier gar nicht interessiert, da gibt es den Thread von Holger "Wer hat Angst vor Neuer Musik?", da wurde und wird darüber diskutiert.


    Ich möchte in diesem Thread Beispiele vorstellen, Beispiele von heute und Beispiele von gestern, die meine These unterstützen und natürlich alle anderen interessierten Taminos (und die scheint es zu geben) dazu einladen, das gleiche zu tun.


    Um es klar zu sagen und Streitgesprächen erst gar keinen Vorschub zu leisten, ich stehe der Avantgarde der letzten 60 Jahre nicht feindselig gegenüber (tat Bernstein auch nicht, er hat einiges Avantgardistisches dirigiert), es gibt eine Reihe von Stücke aus dieser Epoche, die ich schätze und auch höre (z.B. die Streichquartette von Ligeti, Xenakis, Lachenmann, Ferneyhough). Aber ich habe den Eindruck, dass die Zeit der Experimente vorbei ist, weil es nach Cage und den oben genannten nichts mehr zu experimentieren gibt.


    Und ich freue mich auf und genieße die neue tonale Musik als Ergänzung zu den Meisterwerken der Vergangenheit und glaube, dass einige davon auch in den ewigen Kanon übergehen. Welche das sein werden, mag ich allerdings nicht vorherzusagen. Aber für mich ist dies eine Entdeckungsreise, die mich sicher in den kommenden Jahren intensiv beschäftigen wird.


  • Jaakko Kuusisto , Jahrgang 1974, ist ein Multitalent: Er ist bisher vor allem als Geiger und Dirigent hervorgetreten und debütiert jetzt hier als Komponist. Nicht zu verwechseln übrigens mit seinem Bruder Pekka, der auch ein vielbeschäftigter Geiger ist. Seine Vielfachbegabung lässt natürlich ein wenig an Leonard Bernstein denken und ich bin mir sicher, dass dieser an der Musik von Kuusisto seine Freude gehabt hätte und die Rückkehr der Tonalität hier als voll gegeben angesehen hätte. Nicht nur das - die Musik hat tatsächlich auch Bernstein'sche Elemente, so überraschend das bei der Nationalitätendifferenz auch ist. Das 11:30 min Orchesterstück Leika (Spiel) hat jedenfalls partiell eine ähnliche Leichtigkeit und Fetzigkeit wie Bernsteins Candide-Ouvertüre. Auch die Moldau und Rachmaninoff wie auch Gershwin schimmern durch. Das ist genial orchestriert und spricht unmittelbar an.


    Zwei meiner liebsten Violinkonzerte des 20. Jahrhunderts sind das 1. von Prokofieff und das von Sibelius. Auch Kuusisto schätzt diese vermutlich sehr und hat sich sowohl als Geiger wie als Dirigent für die Musik dieser Komponisten eingesetzt. Daraus wird bei ihm der Wunsch entstanden sein, für sein Instrument ein vergleichbares Konzert zu schreiben. Das ist ihm m.E. zu 100% gelungen. Das Stück finde ich schlichtweg einen Hammer! Es beginnt ungewöhnlich mit einer 3-minütigen Kadenz, um dann in einem Allegro zu münden, in dem ein Feuerwerk von Ideen und virtuosem Geigenspiel abgefackelt wird. Wiederum lässt einen die Orchestrierung sprachlos zurück, besser konnte der geniale Prokofieff auch nicht orchestrieren. Der langsame Satz ist nicht ganz auf dem Niveau der Vorlagen, aber das sind auch mit die genialsten melodischen Eingebungen des 20. Jahrhunderts. Insgesamt wird hier aber über 30 min tonal musiziert, dass es eine helle Freude ist, der Schluss fordert donnernden Applaus geradezu heraus. Ich hätte gerne die Premiere miterlebt.


    Dass der Komponist hier als kompetenter Dirigent natürlich allererste Wahl ist, versteht sich von selbst und die attraktive Geigerin, die ich noch nicht kannte, spielt, was das Zeug hergibt und das ist viel.

  • Über Uljas Pulkkis CD - Enchanted Garden habe ich hier schon berichtet, der Dirgent dieser ebenfalls unter diesen Thread fallenden Musik heisst: Jaakko Kusisto! Eine zweite CD-Besprechung von Pulkkis Musik folgt.


  • Auch diese CD der jungen bulgarischen Komponistin wurde von mir bereits hier besprochen. ECM hat sich ja in den letzten Jahren im Bereich tonaler neuer Musik auch besonders hervorgetan. Wir berichten darüber.


    Künstler: Janine Jansen, Kristina Blaumane, Maxim Rysanov, Lithuanian Chamber Orchestra, Maxim Rysanov

  • An sich stehe ich der Kern- Aussage des Threads eher skeptisch gegenüber - wenngleich ich einräume, daß es Tendenzen in Richtung Tonalität gibt. Jedoch ist das, was ich bisher kenne, wenig überzeugend. Wenn ich mir die Sinfonien von Schmidt-Kowalski anhöre, so empfinde ich sie als nichtssagend und langweilig.*) Andere tonale Komponisten unserer Zeit üben sich indes in Tristesse. Sollte ich je wieder Suizidgelüste haben, aber mir der Mut zum letzten Schritt fehlen, dann brauche ich nur Goreckis Sinfonie Nr 3 zu hören....

    Das Problem ist, daß man - auch im tonalen Bereich - zeigen will, daß man MODERN ist und auf keinen Fall soll die Musik gar gefallen oder unterhalten. Das würde die Musik in den Bereich der Schlagers oder von Filmmusik bringen. Mozart und seine Zeitgenossen kannten das Problem indes nicht. Beethoven schrieb "Variationen über einen Gassenhauer.Persönlich halte ich das Kapitel "Klassische Musik" für abgeschlossen und dessen Werke für Museumsstücke, die ich immer wieder gern höre, wobei uns hier mehr überliefert wurden als wir je im Leben hören könnten.
    *) Das Klavierkonzert op 108 indes ist sicher interessanter. Ob es sich einen dauerhaften Platz auf den Spielplänen wird erobern können, halte ich angesichts der Tatsache, dass viele Meisterwerke der Vergangenheit ein Nischendasein fristen für mehr als fraglich.


    In die von lutgra vorgestellten Werke habe ich hineingehört -und zumindest eine CD soll im Dezember in meiner Sammlung landen.
    Werche das sein wird - und warum - das verrate ich bei Gelegenheit


    mfg aus Wien
    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



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  • Ich glaube, daß sich mit der Postmoderne-Diskussion doch einiges geändert hat. Anders als Adorno etwa geht sie nicht mehr von einem linearistischen Geschichtsverständnis aus. Eine "Rückkehr" zur tonalen Musik kann es ja nur geben, wenn es vorher eine generelle Abkehr gegeben hat. Aber so ist es wohl nie gewesen, es hat immer verschiedene Traditionen und Traditionslinien gegeben, die nebeneinander existieren bzw. existierten. Die Musik des 20. Jhd. gab nie ein wirklich einheitliches Bild.


    Schöne Grüße
    Holger

  • Eine "Rückkehr" zur tonalen Musik kann es ja nur geben, wenn es vorher eine generelle Abkehr gegeben hat. Aber so ist es wohl nie gewesen, es hat immer verschiedene Traditionen und Traditionslinien gegeben, die nebeneinander existieren bzw. existierten. Die Musik des 20. Jhd. gab nie ein wirklich einheitliches Bild.

    Das sehe ich ähnlich, es wäre wünschenswert, wenn mal jemand diese "wahre" Geschichte der Musik des 20. Jahrhunderts aufschreiben würde. Dennoch bilde ich mir ein, bei den von mir vorgestellten Komponisten eine neue Art der "Unbefangenheit" beim Schreiben tonaler Musik festzustellen, die die Generationen davor m.E. so nicht hatten oder haben konnten. Eine Art neue Freiheit.

    Persönlich halte ich das Kapitel "Klassische Musik" für abgeschlossen und dessen Werke für Museumsstücke, die ich immer wieder gern höre, wobei uns hier mehr überliefert wurden als wir je im Leben hören könnten.

    Es wäre schade, wenn es wirklich so wäre, obwohl ich zugebe, dass der zweite Teil des Satzes stimmt. Aber es wird immer Menschen geben, die sich mit Musik ausdrücken wollen und das kann nicht nur Popmusik sein. Es gibt auch immer wieder Menschen, die dicke Romane schreiben müssen und es gibt viele Menschen, die diese dann lesen wollen.

  • Persönlich halte ich das Kapitel "Klassische Musik" für abgeschlossen und dessen Werke für Museumsstücke, die ich immer wieder gern höre, wobei uns hier mehr überliefert wurden als wir je im Leben hören könnten.

    Ich kenne Deine These ja, lieber Alfred! :) Ich glaube aber wie Lutgra, daß sie letztlich nicht stimmt. Denn dann dürfte ich z.B. die Waldsteinsonate von Beethoven oder die Brahms-Balladen op. 10 nur mit einer inneren Distanz hören können im Vergleich mit Musik, die im 20. oder 21. Jahrhundert komponiert worden ist. Das ist aber doch gar nicht der Fall! Ich identifiziere mich voll und ganz mit dieser Musik wie ihre großen Interpreten, beispielsweise Emil Gilels oder Arturo Benedetti Michelangeli, auch. Aber es ist natürlich richtig, man kann Geschichte nicht wiederholen. Wenn heute ein Komponist wirklich wie Beethoven oder Brahms schreiben würde, dann wäre er nicht überzeugend. Es gibt nun allerdings das Phänomen des Neoklassizismus. Pierre Boulez z.B. hat ihn theoretisch einst heftig bekämpft, heute aber sicher die meisten neoklassizistischen Werke des 20. Jhd. dirigiert. Wie denkt er inzwischen wohl darüber? Auch der "Neo"-Klassizismus ist natürlich nicht einfach eine Neuauflage der Klassik. Es gibt in der Philosophie den Neukantianismus. Einer ihrer führenden Vertreter, Wilhelm Windelband, sagte mal: "Auf Kant zurückgehen heißt: über Kant hinausgehen!" Genauso muß man wohl zu Strawinsky, Prokofieff, Schönberg, Ravel usw. sagen: Auf die Klassiker zurückgehen, heißt: über sie hinausgehen! :hello:


    Schöne Grüße
    Holger

  • Wenn ich mir die Sinfonien von Schmidt-Kowalski anhöre, so empfinde ich sie als nichtssagend und langweilig.

    Ich kenne die Musik dieses Komponisten nicht, deshalb kann ich dazu wenig sagen. Von den Tonschnipseln her, die man beim Werbepartner hören kann, scheint es mir eine ausschließlich rückwärtsgewandte Musik zu sein, die nicht unterscheidbar ist von einem hypothetischen "wiederentdeckten" Zeitgenossen von Brahms. Die Musik, die ich hier vorgestellt habe, würde niemand für ein Produkt einer früheren Epoche halten, auch wenn bestimmte Elemente der von Musik früherer Zeit ähneln.

    Sollte ich je wieder Suizidgelüste haben, aber mir der Mut zum letzten Schritt fehlen, dann brauche ich nur Goreckis Sinfonie Nr 3 zu hören.

    Nun, so schlimm finde ich sie nicht, ich habe sie lange nicht mehr gehört, aber sie hat mich seinerzeit ziemlich beeindruckt. Auch dies ist ein Moment, den ich in der neuen tonalen Musik eher nicht mehr finde. Diese abgrundtiefe Trauer und Verzweifelung in Musik gepackt (Penderecki, Schostakowitsch, Pettersson). Das ist eben für junge Europäer, die in den 60-80er Jahren geboren wurden, auch kein Thema, denn sie haben eine solche furchtbare Zeit gar nicht erlebt.

  • Dennoch bilde ich mir ein, bei den von mir vorgestellten Komponisten eine neue Art der "Unbefangenheit" beim Schreiben tonaler Musik festzustellen, die die Generationen davor m.E. so nicht hatten oder haben konnten. Eine Art neue Freiheit.


    Das ist ganz sicher richtig und ich sehe das ganz genauso, lieber Lutgra. Dank des Postmoderne-Diskurses braucht niemand mehr ein schlechtes Gewissen zu haben und steht auch nicht mehr unter Rechtfertigungszwang. "Aktivieren wir die Widerstreite!" (Jean-Francois Lyotard) :hello:


    Schöne Grüße
    Holger

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  • Hört einmal Machauts "Messe de Nostre Dame" in der Interpretation des Deller-Consorts mit dem Collegium Aureum. Eine kühne Musik. Auch die Polyphonie, stellvertretend hier nur Josquin, empfinde ich als avanciert und satztechnisch ausgesprochen anspruchsvoll. Als Chorsänger (Amateur, bitte!) sage ich: wenn du bei Händel, Brahms, Mozart, Haydn rauskommst, findest du schnell einen Punkt in der Partitur, an dem du wieder einsteigen kannst. In der Polyphonie (und auch bei Bach) musst du meist das Ende des Satzes abwarten, bis du wieder mitmachen darfst.

    Schönheit lässt sich gerne lieben...

    (Andreas Hammerschmidt,1611-1675)

  • Inzwischen ist mir klargeworden, dass der Threadtitel vielleicht etwas auf die falsche Fährte führt. Statt die "Rückkehr der tonalen Musik" wäre wahrscheinlich "die Rückkehr der Tonalität in die neue oder zeitgenössische Musik" besser gewesen. Um es noch klarer zu sagen, die Musik, die ich hier vorstelle, geht nicht hinter die Errungenschaften von wichtigen Komponisten zurück, die das frühe 20. Jahrhundert geprägt haben. Also nicht hinter Stravinsky, Ravel, Scriabin, Debussy und Prokofieff. Wer schon mit der Musik dieser Komponisten Probleme hat, der braucht diesen Thread nicht weiter zu verfolgen. Aber die von mir vorgestellte Musik hat auch nichts zu tun mit den Errungenschaften der 2. Wiener Schule, also mit Dodekaphonie und serieller Musik.


    Ganz klar wird das bei meinem nächsten Beispiel, dem 2. Klavierkonzert von Magnus Lindberg, das er als "Composer in Residence" für die New York Philharmonic schrieb und das letztes Jahr mit Yefim Bronfman als Pianist und Gilbert Kaplan als Dirigent mit großem Erfolg uraufgeführt wurde.



    Dieses Konzert ist geschrieben als zeitgenössische Weiterentwicklung des Virtuosenkonzerts a la Ravel, Prokofieff und Rachmaninoff. Prokofieff ist 1953 gestorben, da war er erst 62 Jahre alt. Nehmen wir mal an er wäre 92 geworden, in den 60ern in den Westen ausgewandert und hätte die Entwicklung der 50-70er Jahre in Freiheit miterlebt. Und dann kurz vor Ende beschlossen, ein 6. Klavierkonzert zu schreiben, schon so in seinem Stil, aber unter Einbeziehung einiger Dinge, die die Avantgardisten der Zeit ihn gelehrt hätten. Dann wäre ein Klavierkonzert ähnlich dem von Magnus Lindberg herausgekommen.
    Die New York Times schreibt über dieses Konzert (frei von mir übersetzt): Das Konzert zeigt eine große stilistische Vielfalt: flüchtige, atonale Abschnitte; Klavierpassagen, die für einen kurzen Moment an den dornigen Stil eines Stockhausen erinnern um im nächsten Augenblick in die wollüstigen Farben eines Ravels einzutauchen. Soll heißen, das Stück hat die klassische Struktur eines Klavierkonzerts, auch das Orchester spielt Themen, die tonal sind und die man wiedererkennt. Das ganze ist aber gewürzt und abgeschmeckt mit kleinen Prisen Avantgarde. Das Endprodukt hat viel mit den Klavierkonzerten der oben genannten Komponisten gemein und so gut wie nichts mit denen von Schönberg oder Henze (ganz wertfrei).


    Um solche Musik soll es hier gehen und nicht um eine Musik, die so tut, als hätte es das 20. Jahrhundert gar nicht gegeben.


    Ich habe noch keinen guten Namen für diese Musik: Neo-Modernismus?

  • Hallo,


    wie ich an andere Stelle schon geschrieben habe, ist mir aufgefallen, dass Komponisten des 20. Jahrhunderts - nicht der 2. Wiener Schule angehörend - für ihre Chorkompositionen mehr zu tonaler Musik neigen, als sie dies bei ihren sonstigen Werken tun.


    Viele Grüße
    zweiterbass

    Wer die Musik sich erkiest, hat ein himmlisch Gut bekommen (gewonnen)... Eduard Mörike/Hugo Distler

  • Die These mit der neuen Unbefangenheit kann schon stimmen - allerdings kenne ich aus der Gegenwartsmusik nichts davon, dafür alles Mögliche aus der "Avantgarde-Ecke".
    :hello:

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  • Penderecki wurde in den frühen 70ern noch für seine Rückkehr zur tonalen Musik arg gescholten. Witold Lutoslawski 20 Jahre später (1992) nicht mehr. Seine 4. Symphonie, die ich gestern zum ersten Mal bewußt gehört habe, ist klar tonal.


    Ich zitiere Dr. Wolfgang Doebel :


    "Durch die zunehmende Entfremdung der avantgardistischen Musik vom Publikum sahen sich die Komponisten in Ost und West jedoch immer mehr in einer Sackgasse. In den achtziger Jahren begann man, daraus die Konsequenzen zu ziehen, sich wieder auf Traditionen zu besinnen und schönen Klang sowie Emotionen zuzulassen. Dieser neuen Ästhetik verpflichteten sich führende Komponisten wie György Ligeti und Krzysztof Penderecki, und auch Withold Lutosławski schlug diesen Weg ein. Exemplarisch dafür ist seine letzte Symphonie. Am Beginn des einsätzigen Werkes stehen meditative Klarinetten-Kantilenen über ruhig bewegten Streichern, die von Einwürfen der Trompete unterbrochen werden. Die Musik steigert sich zu einem intensiven Gesang der hohen Violinen, dessen Verlorenheit und Trostlosigkeit an Passagen bei Dmitrij Schostakowitsch erinnert. Der große emotionale Ausbruch kurz vor Schluss der Symphonie, gefolgt von einem Zusammenbruch, beschwört den Geist Gustav Mahlers, und ebenso wie das Spätwerk des österreichischen Symphonikers atmet auch Lutosławskis letzte Symphonie eine schwermütige Abschiedsstimmung."

  • Das kann ich nur empfehlen:



    Von der anderen schönen CD die ich habe mit dem Hagen-Quartett und Streichquartetten Lutoslawski, Schnittke und Ligeti gibt es leider keine Abbildung - ist vergriffen!


    Schöne Grüße
    Holger

  • Mir ist jetzt nicht mehr so ganz klar, was hier gemeint ist, macht aber nichts.


    Lutoslawskis Chains aus den 80er Jahren entstammen natürlich auch einer Zeit, in der die Beschäftigung mit der Tradtition größeres Gewicht hatte als ein paar Jahrzehnte vorher bei damals jüngeren Komponisten. So gab es in den 80ern ja auch die jungen "neuen Einfachen" in Deutschland, die allerdings einen ziemlich uneinfachen und keineswegs unbefangenen Umgang mit Tonalität an den Tag legten: Rihm, Bose, Müller-Siemens, Trojahn, Schweinitz etc. In den 90er Jahren wandten sie sich dann allmählich von der Tonalität ab und der "Komplexität" oder anderen modernistischeren Strömungen zu (von Rihm gab es dann einige Stücke, die ziemlich nach Nono klangen). Das wäre das Kapitel "die Tonalität zu Gast in Donaueschingen" oder so ...

  • Mir ist jetzt nicht mehr so ganz klar, was hier gemeint ist, macht aber nichts.

    Ja, die von Holger vorgeschlagene CD (die ich natürlich als ASM Verehrer auch habe) passt nicht so ganz hierher, es sei denn, Holger möchte argumentieren, dass das im Prinzip auch schon tonal sei, aber da wird es dann schwierig.

  • Ja, die von Holger vorgeschlagene CD (die ich natürlich als ASM Verehrer auch habe) passt nicht so ganz hierher,


    Da hast Du natürlich Recht, lieber Lutgra! :hello: Es ist finde ich aber ein hoch interessantes Thema, wann welcher Komponist von einer komplexen Harmonik zur eher einfachen Tonalität wenn auch sporadisch zurückkehrt, aus welchen Gründen und wie das geschieht. Da müßte man dann auch auf ästhetische Fragen eingehen.


    Schöne Grüße
    Holger

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  • Es ist finde ich aber ein hoch interessantes Thema, wann welcher Komponist von einer komplexen Harmonik zur eher einfachen Tonalität wenn auch sporadisch zurückkehrt, aus welchen Gründen und wie das geschieht. Da müßte man dann auch auf ästhetische Fragen eingehen.

    Lieber Holger
    Das traue ich mir im Augenblick aber nicht zu, Du? Ich habe zwar inzwischen alle seine Symphonien mal gehört, aber nicht oft genug und nicht hintereinander, um beurteilen zu können, ob diese Entwicklung stufenweise vor sich ging oder nicht. Meine Recherchen im Internet haben mich da auch nicht weitergebracht, man findet zwar ein halbes Dutzend Ausführungen zu dieser Symphonie (meist aus Programmheften), aber in keiner wird auf diese Frage eingegangen. Kennst Du die Symphonie? Vielleicht unterscheidet sie sich gar nicht so sehr von anderen späten Werken, man müsste also mal das ganze Oeuvre durchhören, um das beurteilen zu können.

  • Lieber Lutgra,


    was ich von Lutoslawski habe, ist leider ziemlich "dünn". Und bedauerlicher Weise komme ich im Moment auch aus Zeitgründen nicht dazu, in diese Problematik intensiv einzusteigen. Deswegen freut mich Dein Thread - den ich sehr anregend finde! Nur weiter so! :hello:


    Schöne Grüße
    Holger

  • Ein wunderschönes Stück tonaler Musik in spätromantischem Stil, das erst in diesem Jahrtausend komponiert wurde und das wir vor einiger Zeit mit großem Erfolg aufgeführt haben.


    Liebe Grüße


    Willi :)

    1. "Das Notwendigste, das Härteste und die Hauptsache in der Musik ist das Tempo". (Wolfgang Amadeus Mozart).
    2. "Es gibt nur ein Tempo, und das ist das richtige". (Wilhelm Furtwängler).


  • Mit zeitgenössischer Chormusik kenne ich mich gar nicht aus (außer Ligetis Lux Aeterna und Pendereckis Lukaspassion und Utrenja). Ein Forenmitglied hat mich neulich auf diesen Komponisten aufmerksam gemacht, der auch sehr schöne tonale Chormusik schreibt.

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  • Von Witold Lutoslawski (s. Beitrag 16) zu Jennifer Higdon ist der Weg nicht weit, beide haben ein Konzert für Orchester geschrieben, das sich klar auf das Vorbild von Bela Bartok bezieht.



    Jennifer Higdon ist Jahrgang 1964 und vermutlich die derzeit erfolgreichste und meistgespielte Komponistin Amerikas. Den deutschen Hörer ist sie am ehesten als Verfasserin eines Violinkonzert für Hilary Hahn bekannt.


    Das Konzert für Orchester wurde 2002 für das 100-jährige Jubiläum des Philadelphia Orchestras geschrieben unter Mitwirkung diverser erster Pulte dieses Orchesters. Die Uraufführung war wohl so erfolgreich, das sie Front Page News war, was in Amerika für neue Musik nur sehr selten vorkommt. Das Orchester hat die gleiche fünfsätzige Struktur wie das von Bartok, ist ähnlich umfangreich und zitiert im ersten Satz auch kurz aus dem letzten von Bartok. Die Tonsprache ist vergleichbar "modern". Damit hat es sich dann auch bezüglich Gemeinsamkeiten, denn ansonsten ist dieses Stück uramerikanisch geprägt. Wer amerikanische Musik (z.B. Gershwin, Copland, Bernstein) nicht mag, dem wird höchstwahrscheinlich dieses Konzert nicht gefallen. Das Gegenteil gilt natürlich auch. Das Orchester hat natürlich mächtig und Brilliantes zu tun und das Atlanta SO unter Robert Spano (ein Lehrer der Komponistin) sind beste Anwälte hierfür. Schade, dass nicht das Widmungsorchester diese Einspielung gemacht hat, aber das war vermutlich zu teuer.


    Das zweite Stück - ebenfalls von 2002 - gefällt mir sogar noch besser, ein Homage an die Heimatstadt (Higdon wurde in Brooklyn geboren, wuchs aber in Atlanta auf) mit den Titeln 1. Skyline 2. River sings a song to trees 3 Peachtree Street. Speziell das 17-minütige River sings a song spricht mich sehr an.


    Insgesamt ist die Musik von Jennifer Higdon modern, aber zugänglich und wer sich nicht am "amerikanischen Ton" stört, dem dürfte diese CD Freude bereiten.


    Telarc wird aufnahmetechnisch seinem guten Ruf gerecht.


    Stereoplay 08 / 04: "Eine glänzend gemachte Arbeit, die bei aller tonalen Freiheit keinerlei Hörprobleme aufwirft - wenn sie so brillant gespielt wird, wie es hier der Fall ist." (zu "Concerto for Orchestra")

  • Lieber Lutgra,


    was ich von Lutoslawski habe, ist leider ziemlich "dünn".

    Lieber Holger
    ich hoffe, das ist jetzt kein ästhetisches Urteil. :rolleyes:


    Und bedauerlicher Weise komme ich im Moment auch aus Zeitgründen nicht dazu, in diese Problematik intensiv einzusteigen.


    Schade, ich dachte wir hören jetzt gemeinsam bis Weihnachten alles von Lutoslawski und reden drüber. :D


    Jetzt mal im Ernst: ich habe gestern die 3. Symphonie gehört, die zwischen 1972 und 1982 entstanden ist, und auch die ist über weite Strecken tonal grundiert, daran gibt es gar keinen Zweifel. Und je mehr Musik ich aus diesem Grenzbereich höre, umso irrelevanter erscheint mir die Frage, ob etwas nun tonal ist oder nicht. Wichtiger ist: finde ich es gut oder nicht. Darum geht es ja letztendlich.


    Meine Motivation, diesen thread zu starten, ist ja auch eher, Musikliebhaber, die mit der Musikgeschichte schon abgeschlossen haben, darauf aufmerksam zu machen, dass es neue neue Musik gibt, die auch den Hörer ansprechen könnte, der sich jetzt mit Boulez und Lachenmann nicht beschäftigen möchte. Aber vielleicht ist das auch vergebene Liebesmüh.


    Falls Du übrigens die oben gezeigt CD mit den 4 Symphonien nicht hast, die solltest Du Dir zulegen, ist ja bald Weihnachten ;) .

  • Zitat lutgra


    Zitat

    Meine Motivation, diesen thread zu starten, ist ja auch eher, Musikliebhaber, die mit der Musikgeschichte schon abgeschlossen haben, darauf aufmerksam zu machen, dass es neue neue Musik gibt, die auch den Hörer ansprechen könnte, der sich jetzt mit Boulez und Lachenmann nicht beschäftigen möchte. Aber vielleicht ist das auch vergebene Liebesmüh.


    Lieber lutra, das wollen wir doch nicht hoffen ... ich habe zwar nicht abgeschlossen, aber schaffe es momentan gar nicht, die vielen Ideen, die ich hier im forum erhalte, auch nur annähernd umzusetzen. Von Lutoslawski kenne ich bisher nur etwas Klaviermusik (Variations on a Theme by Paganini), die mir sehr gefallen, aber bei denen er gewissermaßen auch an bestimmte Vorgaben gebunden war. Das Klavierkonzert für Zimerman habe ich dagegen leider bis heute nicht gehört...
    Will nur sagen, ich verfolgte den schönen thread, kann selbst wenig beitragen, habe aber schon viele Anregungen erfahren, was da Draußen noch so alles wartet.


    Herzliche Grüße
    JLang

    Gute Opern zu hören, versäume nie
    (R. Schumann, Musikalische Haus- und Lebensregeln)

  • Will nur sagen, ich verfolgte den schönen thread, kann selbst wenig beitragen, habe aber schon viele Anregungen erfahren, was da Draußen noch so alles wartet.


    Lieber JLangvielen Dank für die aufmunternden Worte, das freut mich zu hören.
    Liebe Grüße
    Lutgra

  • Besonders hinweisen muß ich auf Lutoslawskis Cellokonzert, dediz.Rostropowitsch, das dieser unter des Komponisten Leitung mit dem Orchestre de Paris mustergültig eingespielt hat.


    Großartig ist auch Lutoslawskis Streichquartett und auch seiin Grave für Cello und 13 Streicher!

    Arrestati, sei bello! - (Verweile, Augenblick, du bist so schön!)

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