Walter Wilhelm Goetze (1883-1961):
ADRIENNE
Operette in drei Akten
Libretto von Günther Bibo und Alexander Pordes-Milo nach der comédie-drame „Adrienne Lecouvreur“ von Eugène Scribe und Ernest Legouvé (Neufassung 1936 von Oscar Felix)
Uraufführung am 24. April 1926 im Carl-Schultze-Theater, Hamburg
DIE PERSONEN DER HANDLUNG
Adrienne Lecouvreur (Sopran)
Moritz von Sachsen, Sohn von König August von Sachsen
Anna Iwanowna, verwitwete Herzogin von Kurland (Soubrette)
Graf Kayserling (Tenorbuffo)
Fleury, Ballettmeister (Tenorbuffo)
August der Starke, König von Sachsen (Sprechrolle)
Iwan Poppowitsch, Diener (singender Komiker)
Baron von Kobel, Adjutant (Tenor)
Oberkammerherr Bestuscheff (Sprechrolle)
Geheimsekretär Larsdorf (Sprechrolle)
Graf Brühl (Sprechrolle)
Gräfin Arnim (Sprechrolle)
Chor und Statisterie: Hofgesellschaft, Bedienstete, Offiziere, Grenadiere
Das Geschehen ereignet sich 1726/1727 in Mitau (Kurland) und Dresden.
INHALTSANGABE
ERSTER AKT
Eine Halle im kurländischen Schloss Mitau.
König August I. von Sachsen (im Volksmund August der Starke genannt), möchte zu gerne sein Reich um das Herzogtum Kurland erweitern. Weil das ohne politische Ranküne nicht zu bewerkstelligen ist, ist in ihm der Plan gereift, seinen Sohn Moritz, der auf großem Fuß lebt und einen Schuldenberg angehäuft hat (ein genaues Ebenbild seines Vaters), mit der verwitweten Herzogin Kurlands, Anna Iwanowna, zu verheiraten. Der Plan findet Moritz' Interesse, denn er hat bemerkt, dass die Witwe, darin vielen Frauen gleich, seinem Charme nicht widerstehen konnte. Außerdem beflügelt ihn der Gedanke, durch die Heirat eine Krone, die des Herzogtums Kurland, auf seinen blaublütigen Kopf zu bekommen - die nähme sich dort ausnehmend prächtig aus. Und Anna Iwanowna? Die ist von der Idee, Moritz zu ehelichen, gleichfalls angetan und schon nach Moskau aufgebrochen, um sich von ihrer Tante, der Zarin Katharina, die Erlaubnis zur Hochzeit geben zu lassen.
Unterdessen geht es im Schloss zu Mitau hoch her, denn Moritz feiert ein Zechgelage nach dem anderen. An einem Morgen erscheint im Schloss, noch dazu in den Privatgemächern des Prinzen, Adrienne, die ungekrönte Königin der Comédie-Française. Da sich Moritz und Adrienne bereits aus Paris kennen, gibt es ein fröhliches Wiedersehen, ein Aufflammen einer alten Liebesbeziehung. Adrienne überrascht Moritz mit der Ankündigung, bei ihm bleiben zu wollen, ihre Karriere hin, seine politische Heirat mit Anna Iwanowna her. Ihr Motto lautet: „Ich hab' nun einmal eine Caprice, die heißt Maurice“ und gegen diese Einstellung ist selbst ihr ständiger Begleiter, der Ballettmeister Fleury, machtlos.
Während das Paar gerade ein Duett über das Einst und Jetzt anstimmt, wird die Rückkehr der Herzogin aus Moskau angekündigt, in ihrem Gepäck die Heiratserlaubnis von Tante Katharina. Anna ist in guter Stimmung und gibt vor der Hofgesellschaft erst einmal eine Art Reise- und Lagebericht von den Sitten und Gebräuchen am Zarenhof:
Meine Tante wohnt im russischen Reich (Chor: Die große Katharina) Meine Tante wohnt im russischen Reich (Chor: Die große Katharina)
An Macht kommt keine Fürstin ihr gleich (Chor: Der großen Katharina)
Und da ich viel Familiensinn/in meinem Busen hege
fahr oft ich zu der Tante hin,/scheu' nicht die weiten Wege.
Denn am Hof von Petersburg/da hört man allerhand,
denn am Hof von Petersburg/da ist es interessant.
Ich trag' der Tante meine Bitte vor/die Zarin leiht mir gnädig dann ihr Ohr
und ist das große Staatsgeschäft vorbei/da gibt es vieles Heiteres, so Allerlei.
Es schmeckt der Branntwein/in jedem Land fein
ob an der Wolga, Düna, Njemen. [Memel]/Mit Branntwein ist es wie mit Mann
man muss davon so dann und wann/eine kleine Probe nehmen.
an Macht kommt keine Fürstin ihr gleich (Chor: Der großen Katharina)
doch da ihr Herz von Holz nicht ist,/ist's einsam auf dem Throne,
auch eine Fürstin gern mal küsst/dem Untertan zum Lohne.
Denn am Hof von Petersburg/gibt's manchen Grenadier
der die Wache halten muss/oft vor der Zarin Tür.
Und ist es in der Nacht/sehr kalt und rau
Tut leid der Grenadier der hohen Frau/er wird von ihr zum Wodka invitiert,
und jeder aus Erfahrung weiß,/wohin das führt.
Es schmeckt der Branntwein, usw.
Die überraschende Rückkehr von Anna Iwanowna hat so einiges durcheinander gewirbelt, vor allen Dingen muss Adrienne schnellstens versteckt werden. Doch bei Hofe bleibt nichts geheim: Die Herzoginwitwe erfährt von der Anwesenheit der Französin, und Moritz gerät in Erklärungsnot; allerdings gelingt es ihm, so scheint es jedenfalls zunächst, seine Anna zu beschwichtigen: Adrienne sei gekommen, um die Verlobungsfeier mit ihrer Kunst zu bereichern. Wir, das Publikum, gewinnen jedoch den Eindruck, dass Anna nicht so ganz überzeugt wurde, dass ihre Lebenserfahrung sie zu der Überlegung führt, ob nicht eine Ehe mit dem Grafen Kayserling, der sie schon lange umgarnt, besser wäre. Sie lässt nämlich, ihrer Art gemäß, Adrienne verhaften, einsperren und die Verlobungsfete mit Moritz von Sachsen (zunächst einmal) verschieben. Man wird sehen...
ZWEITER AKT
Der Festsaal im Schloss zu Mitau.
Der Ball, der unabhängig von einer Verlobungsfeier, wohl aber anlässlich der Rückkehr Anna Iwanownas am Abend stattfinden soll, lässt das Hofpersonal wuselig rotieren. Da Adrienne das Fest künstlerisch aufwerten sollen, lässt Anna, deren Zorn auf die Französin inzwischen verflogen ist, frei. Den Versuch allerdings, den Ballettmeister Fleury über Adrienne und „Maurice“ auszuhorchen, geht vorerst daneben. Als habe er Unangenehmes vorausgeahnt, hat Moritz nämlich seinen Kammerdiener Ignaz angestiftet, Fleury gehörig mit Alkohol abzufüllen. Als der Balletteur schwer angeheitert auftaucht, und die Gastgeber beschimpft, macht Anna kurzen Prozess: Adrienne hat am nächsten Tag abzureisen! Basta!Die aber nimmt erst noch einmal die Gelegenheit wahr, mit „Maurice“ ein Liebesduett zu trällern, indem sie sich an die schöne Zeit in Paris, im Park von Monbijou erinnern.
Nun überstürzen sich die Ereignisse: Graf Kayserling ist von einer Reise nach Wien zurück und wird zufällig Zeuge der Verabredung zwischen Adrienne und Moritz. Als der plötzlich auftaucht, verlangt Anna von ihrem Verlobten in spe, er solle Adrienne schnell vergessen, ansonsten könne er die Hochzeit vergessen. Kayserling wettet mit Anna, dass Moritz ihr noch heute untreu werden wird. Sich selber aber stellt er als „Matador der Liebe“ dar, doch Anna ist Realistin und fragt spöttisch, was denn wohl an einem Mann „dran“ sei? Aber sie ordnet an, dass man das Privatgemach von Moritz überwacht, denn verlieren will sie die Wette auf keinen Fall. Allerdings hat der Sachse vorgesorgt: Ignaz hat Fleury erneut mit Alkohol abgefüllt und ihn dann sozusagen als Strohmann in sein Bett verfrachten lassen, damit sein Junggesellenabschied von Adrienne auch gelingt. Weil, wie bekannt, am Hofe nichts geheim bleibt, erfährt Anna von der Ranküne, lässt Moritz kurzerhand fallen und wendet sich lieber Graf Kayserling zu, dem Liebesmatador, der eine offensichtlich bessere Lösung für sie darstellt.
Als Moritz von der veränderten Situation erfährt, reagiert er zunächst wütend, macht sogar die geliebte Adrienne dafür verantwortlich. Dann obsiegt jedoch angesichts der vielen kapriziösen Hofdamen die von seinem Vater ererbte Galanterie, die er gekonnt bei den Hübschen einzusetzen vermag. Und mit diesem weiblichen Anhang stürzt er sich in den fröhlichen Balltrubel...
DRITTER AKT
Privatkabinett des Königs in Dresden, ein halbes Jahr später.
August der Starke ist Gastgeber eines Fürstenkongresses, bei dem auch Anna Iwanowna anwesend sein wird. Aber auch Adrienne ist mit Fleury in Dresden eingetroffen; sie sollen mit ihren künstlerischen Darbietungen die Kongressteilnehmer gut unterhalten. Als nun Adrienne dem König vorgestellt wird, erwachen in ihm die aller Welt bekannten Gefühle, die in früheren Zeiten umgehend zu einem, vornehm ausgedrückt: Tête-à-Tête, geführt hätte; jetzt besinnt sich Majestät auf das andere, immer wieder bewundertes Kunststück, Hufeisen zu verbiegen. Aber, welch ein Schreck, vor Adrienne versagt der starke August, und die Französin reagiert geistesgegenwärtig höflich, nämlich „den guten Willen für die Tat“ zu nehmen.
Mit seiner (vermeintlichen) Schwiegertochter Anna Iwanowna möchte König August aber einen intensiven Gedankenaustausch über die geplante familiäre Bindung pflegen, doch dieses Gespräch ist von großen Missverständnissen gekennzeichnet, denn August weiß von Annas Abkehr von seinem Sohn hin zu Graf Kayserling nichts - Moritz hat ihn einfach nicht über das von ihm verursachte Malheur informiert, und Anna rückt auch nicht mit der Wahrheit heraus, will sie dem „alten Herrn“ doch nicht die großartige Kongress- und Festlaune verderben.
Wo ist „Maurice“ überhaupt? Er ist an der Spitze einer Streitmacht im Anmarsch auf des Vaters Residenzstadt Dresden. Natürlich will er nicht gegen August Krieg führen, nein, er hat nach seiner Niederlage um Annas Herz und Kurlands Krone ein neues Betätigungsfeld gesucht und glaubt, es beim Militär gefunden zu haben (er soll Recht behalten, denn wir kennen wegen des Zufalls der späten Geburt Moritz' Weg: Er wird noch zum Marschall von Frankreich aufsteigen!).
Als der Königssohn endlich vor seinem Vater steht, rückt er mit der Wahrheit heraus und bekennt, dass sich Anna Iwanowna wegen seines Versagens für den Grafen Kayserling entschieden habe. Was er dem Vater nicht sagt, wir als Zuschauer aber erfahren: Seine Hoffnung ist Adrienne - er denkt an eine gemeinsame Zukunft mit ihr (auf die Standesunterschiede scheint er pfeifen zu wollen). Doch Moritz kommt sehr schnell in die Realität zurück, denn Adrienne ist für die Bühne geschaffen und dafür lässt sie schweren Herzens ihre „Caprice Maurice“ fahren - sie reist mit Fleury in die französische Hauptstadt zurück. Vorher hat der Ballettmeister aber noch, von Sechzehntelläufen gespickt, das letzte Wort: „Hony soit, qui mal y pense!“
INFORMATIONEN ZUM WERK
Walter W. Goetzes Operette zeichnet geschickt und launig das Schicksal von drei Personen nach, die tatsächlich gelebt, eine gewisse geschichtliche Bedeutung erlangt haben, und auf die hier näher eingegangen werden soll:
Da ist zunächst einmal die männliche Hauptperson, die „Caprice Maurice“, Hermann Moritz Graf von Sachsen, ein illegitimer Sohn des Königs Friedrich August I. von Sachsen, im Volksmund „der Starke“ genannt, aus der Verbindung mit Aurora von Königsmark. Trotz seines Hangs zu großem Lebensstil und zu Ausschweifungen (sicher ein väterliches Erbe), wurde er zu einem erfolgreichen Militär (einem von sieben Generalfeldmarschällen Frankreichs) und war wegen seines leutseligen Wesens sowohl in Deutschland als auch in Frankreich sehr beliebt.
Dann natürlich Anna Iwanowna, die vierte Tochter von Iwan V.und seiner Ehefrau Praskowja Fjodorowna Saltykowa. Sie lebte von 1693 bis 1740; heiratete 1710 Friedrich Wilhelm Kettler (aus der gleichnamigen Dynastie, die Kurland und Semgallen regierte), der aber schon 1711, auf der Rückreise von der Hochzeit in St. Petersburg neunzehnjährig verstarb; danach amtierte Anna allein als (sehr umstrittene) Herzogin von Kurland. Als Halbnichte von Zar Peter I. schaffte sie es, wie ihre ihre Tante Katharina I. (1684-1727), auf den Zarenthron und regierte von 1730-1740. Die Geschichtsschreibung schildert sie als „wenig friedfertige“ Herrscherin.
In diesem Zusammenhang muss auf das „Branntweinlied“ Annas aus dem ersten Akt eingegangen werden, weil es textlich eine falsche Fährte legt: Der Chor besingt in zwei Einschüben von Annas Auftrittslied die „Große Katharina“ und impliziert damit den Gedanken an Sophia von Anhalt-Zerbst-Dornburg, die von ihrer Schwiegermutter, der Kaiserin Elisabeth Petrowna, den Namen (Je)Katharina bekam und von der Nachwelt den Beinamen „Die Große“. Diese deutschstämmige Prinzessin kann aber hier nicht gemeint sein, weil sie erst 1729, also nach den der Operettenhandlung zugrunde liegenden Ereignissen, geboren wurde. Tatsächlich gemeint ist hier Katharina I. Alexejewna (1684 als Martha Elena Skawronska in Kurland geboren, 1727 als Zarin verstorben). Sie war zunächst die Geliebte von Peter dem Großen, wurde 1711 durch förmlichen Erlass seine zweite Ehefrau, 1723 durch einen Ukas als Zarin gekrönt und nach Peters Tod (1725) durch öffentlichen Aufruf des Fürsten Menschikow, an vorrangig berechtigten Familienmitgliedern vorbei, Zarin. Und diese erste Katharina war auf keinen Fall eine Femme fatale.
Schließlich muss natürlich noch die Titelfigur der Operette, Adrienne Couvreur, erwähnt werden, die sich Lecouvreur nannte und als die bedeutendste französische Schauspielerin ihrer Zeit galt. Ihre zahlreichen Affären, so munkelte man, brachte sie in Rivalität mit der Herzogin von Bouillon, die wiederum, ebenfalls gerüchteweise, für den frühen Tod Adriennes (mit 38 Jahren) verantwortlich gemacht wurde. Sie starb in den Armen ihres Freundes Voltaire, dem sie künstlerisch und persönlich verbunden war. Die Kirche, der die Schauspielerei ein Dorn im Auge war, verweigerte ihr ein christliches Begräbnis; die Beisetzung erfolgte ohne Priester an der Uferböschung der Seine auf dem heutigen Champ de Mars.
Die Geschichte der Adrienne Lecouvreur war der Stoff für das Theaterstück von Eugène Scribe und die Oper „Adriana Lecouvreur“ von Francesco Cilea (Uraufführung 1902 mit Caruso). Auch Italiens größter Opernkomponist, Giuseppe Verdi, hatte sich, wie wir aus seiner Biografie wissen, für ein Bühnenwerk über die Adrienne interessiert, wozu es aber, auch das ist bekannt, nicht kam. Dafür nahm sich nach der Jahrhundertwende ein neues Medium, der Film, des Stoffes an; so entstanden 1913, 1938 und 1955 drei Verfilmungen, wobei die Titelrolle in der ersten immerhin mit Sarah Bernhardt besetzt wurde.
Goetze hat die historischen Figuren seiner Operette mit großem Geschick und durchaus glaubwürdig musikalisch gezeichnet. Das „Branntweinlied“ (in dieser Inhaltsangabe oben vollständig zitiert) wurde in den 1950er Jahren durch Lore Lorentz (die vom Orchester Hermann Hagestedt begleitet wurde) zu einem wahren Hit bei den Operettenliebhabern.
Aber auch die anderen Melodien der Operette
Ich hab' nun einmal eine Caprice (Adrienne)
Ich möchte doch bitten, was sind das für Sitten (Adrienne - Anna)
Da lebt eine kleine Herzogin im Norden (Anna - Chor)
August der Starke, so heißt der Papa (Fleury, später Moritz)
Was ist schon wirklich dran an so einem Mann/Anna lass das (Anna)
Das Schloss Monbijou/Es flüstert der Nachtwind (Adrienne - Moritz)
Im Lieben bin Matador ich (Kayserling)
Ein Jüngling, der nicht tanzen kann (Fleury)
Im Palais Ricardo, im großen Paris (Sprecher, Adrienne, Moritz)
Abschied ist stets das Ende vom Lied (Fleury)
sind äußerst eingängig und besitzen rhythmischen Schwung. Der Erfolg der Operette beweist, dass Bühnenwerke mit einem historischen Hintergrund beim Publikum ankommen.
© Manfred Rückert für Tamino-Operettenführer 2013
unter Hinzuziehung folgender Quellen:
Volker Klotz: Operette. Taschenbuch Serie Piper
Wikipedia über die historischen Figuren